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01. Juli 2015

Europäische Standards setzen

Denn mehr Datensicherheit ist auch ein klarer Wettbewerbsvorteil

Die USA haben die erste Halbzeit des globalen Internetwettbewerbs klar gewonnen. Wir müssen in Deutschland und Europa jetzt entscheiden, ob wir auch die zweite Halbzeit anderen Überlassen wollen – oder ob wir die richtigen Weichen stellen, um aufzuholen. Dazu müssen vor allem die bestehenden Asymmetrien beim Datenschutz abgebaut werden.

Wir befinden uns ökonomisch an einem Wendepunkt. Nach meiner Meinung ist dieser mindestens so bedeutend wie der Übergang von der Agrar- zur Industriewirtschaft. Die industrielle Produktion ändert sich radikal. Maschinen werden digitalisiert und vernetzt, sie produzieren Unmengen von Daten, die in Echtzeit ausgewertet und ausgetauscht werden. Auf Basis dieser Analysen steuern sich Maschinen zum Teil selbst und sind viel flexibler einsetzbar. Und auch die fertigen Produkte sind vernetzt und liefern Daten, die wiederum analysiert werden können. Das ist – sehr verkürzt – der Kern der so genannten Industrie 4.0.

Die Vorteile liegen auf der Hand: Für Kunden entstehen individualisierte Produkte zu Kosten wie in der Massenfertigung, es gibt ständige Verbesserungen der Produkte durch die Auswertung von Daten zu Nutzungsverhalten und durch Kundenbewertungen. Es werden neue Geschäftsmodelle möglich, zum Beispiel bei Dienstleistungen: Eine vernetzte Autobatterie meldet, wann sie ausgetauscht werden muss; der Kunde erhält per Mail automatisch einen Terminvorschlag, bevor er mit seinem Wagen liegen bleibt. Nicht zuletzt bedeutet diese Entwicklung allein für Deutschland 80 Milliarden Euro mehr Wertschöpfung in den kommenden zehn Jahren.

Die Industrie 4.0 hält uns auf Wachstumskurs – Deutschland und Europa haben hier klare Standortvorteile. Europa ist Weltspitze im Automobil- und Anlagenbau. Bei den so genannten Embedded Systems, das heißt Computertechnik, die in andere Maschinen, Fahrzeuge oder Elektrogeräte eingebettet ist, sind wir mit Abstand führend. Es sind solche Systeme, die Fabriken und Maschinen, die die klassische Produktion und Logistik intelligent und smart machen. Daraus entsteht die diskrete Produktion mit einer radikalen Individualisierung von Produkten – also Industrie 4.0.

Nach den Worten von John Chambers, dem Chef des größten Netzwerkausrüsters Cisco, hat Deutschland das Zeug, das erste große digitale Land zu werden. Wir hätten „die industrielle Kreativität dazu“, beim Thema Industrie 4.0 weltweit führend zu sein. Die Chance ist also da. Wir müssen sie aber auch ergreifen. Denn ich bin überzeugt: Der Erhalt dieser Wertschöpfung in Europa ist für die Sicherung unseres Wohlstands – und übrigens auch unserer Sozial­systeme – unverzichtbar.

Die digitale Würde des Menschen ist unantastbar

Momentan sind wir in der digitalen Ökonomie vor allem Exportweltmeister von Daten, die anderswo ausgewertet werden. Und zwar zu Regeln, die nicht dem europäischen Verständnis von Privatsphäre entsprechen. Die Wertschöpfung wandert ab – und mit ihr im schlechtesten Fall ein Stück Freiheit.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich glaube fest daran, dass Digitalisierung auch die kommerzielle Nutzung von Daten umfassen sollte. Der ökonomische und auch der gesellschaftliche Nutzen sind enorm – etwa bei der Steuerung von Verkehrsströmen, der Vorher­sage von Unwettern oder bei der Bekämpfung von Epidemien. Ja, wir wollen Big Data. Aber bitteschön „made in Europe“. Wir wollen einen modernen Datenschutz, der die Analyse von anonymisierten Massendaten zulässt, aber im Einklang mit unserem europäischen Verständnis von persönlichen Freiheitsrechten steht. Das bedeutet, es darf keine Rückschlüsse auf eine konkrete Person geben. Dafür setzen wir uns als Telekom ein.

Artikel eins des Grundgesetzes lautet: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wir sagen: In einer digitalen Welt muss auch die digitale Würde des Menschen unantastbar sein. Um es auf den Punkt zu bringen: Wir wollen Daten analysieren, um den Menschen bessere Produkte anzubieten und ihr Leben einfacher zu machen. Aber nicht alles, was technologisch möglich ist, sollte auch gemacht werden. Nicht alles Mögliche ist auch wünschenswert.

Doch die Zeit für einen solchen europäischen Weg läuft davon: Neue Player drängen in den Markt der industriellen Fertigung. Die Hardware kommt aus Asien (Smartphones, Tablets, PCs), die Software und Internetdienste kommen aus den USA (Google, Microsoft, Facebook, Apple). Vor allem die großen amerikanischen Anbieter haben in der Vergangenheit die Chancen der Digitalisierung antizipiert und für sich genutzt. Das ist kein Zufall, denn in den USA wird häufig nach dem Grundsatz verfahren, dass alles erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten ist. Das sehen wir in Europa gerade in Sachen Datenschutz anders.

Deswegen sollten wir das Thema als Chance für Europa betrachten. Es muss möglich sein, lukrative Geschäftsmodelle zu entwickeln und dabei die Persönlichkeitsrechte zu wahren. Wir plädieren für Rahmenbedingungen, die die Nutzung von Daten ermöglichen – und zwar mit den Regeln eines europäischen Verständnisses von Datenschutz.
Eines ist mir an dieser Stelle sehr wichtig: Meine Kritik an der Vormachtstellung amerikanischer Unternehmen entstammt keineswegs einer antiamerikanischen Haltung. Im Gegenteil. Wir sind selbst ein internationales Unternehmen mit einer sehr vitalen amerikanischen Tochter. Mich inspirieren amerikanischer Innovationsgeist und die Unternehmerkultur, der Mut zum Risiko und der pragmatische Umgang mit Misserfolgen. Und ganz ehrlich: Ohne die Schrittmacher aus dem Silicon Valley würden wir doch heute nicht über das Thema Digitalisierung sprechen.

Aber auch echter Sportsgeist gehört ja zu den amerikanischen Tugenden. Wir wollen einen sportlich fairen Wettbewerb, und der setzt gleiche Bedingungen voraus. Die aber sind im Moment nun einmal nicht gegeben. Sie einzu­fordern – und auch auf einige Missstände hinzuweisen – muss unter Freunden erlaubt sein.

Zur sportlichen Fairness gehört es auch zuzugeben, dass die USA die erste Halbzeit des globalen Internetwettbewerbs klar gewonnen haben. Wir müssen in Deutschland und Europa jetzt entscheiden, ob wir auch die zweite Halbzeit anderen überlassen wollen – oder ob wir die richtigen Weichen stellen, um aufzuholen. Wir brauchen eine aktive Industriepolitik.
Wir brauchen intelligente und verlässliche Rahmenbedingungen für Innovation, Investitionen und Wachstum, damit wir in Europa den digitalen Wandel schaffen. Damit wir gegenüber anderen Weltregionen aufholen und wettbewerbs­fähig bleiben. Wir brauchen eine Politik, die das Ziel eines starken europäischen Telekommunikationssektors verfolgt, denn dieser ist der Treiber für Innovationen, Wachstum und Beschäftigung quer durch alle Wirtschaftssektoren.

Wir Europäer müssen unsere Stärken besser nutzen, zum Beispiel indem wir Standards für die Industrie 4.0 setzen. Ich habe es bereits erwähnt: Wir haben den Vorteil, dass wir der Ausrüster der Welt sind. Weltweit kommen die meisten Maschinen immer noch aus Deutschland. Aber wir müssen aufpassen, dass wir die Standards nicht aus Übersee diktiert bekommen. Deshalb treiben wir bereits mit Vertretern anderer Branchen eine Praxisoffensive Industrie 4.0 voran, in der Standardisierung die bedeutende Rolle spielt.

Ein „Wirtschaftswunder 4.0“ kann es nur geben, wenn wir die bestehenden Asymmetrien beim Datenschutz in Europa und den USA abbauen. Das hohe europäische Datenschutzniveau ist ein Segen. Aber es sorgt auch für Wettbewerbsverzerrung in der digitalen Wirtschaft: Amerikanische Unternehmen dürfen und machen fast alles; wir erlauben uns fast nichts. Deshalb können sich digitale Märkte in den USA dynamischer entwickeln als in Europa. Aus diesem Grund müssen wir zügig die europäische Datenschutzgrundverordnung verabschieden. Und deswegen müssen wir das Safe Harbor-Abkommen über­arbeiten. Damit würden für alle Unternehmen, auch solche mit einem Firmensitz außerhalb Europas, die ihre Dienstleistungen EU-Bürgern anbieten, die gleichen Vorgaben gelten. Das würde für mehr Gleichgewicht sorgen und dafür, dass sich unsere Investitionen in Datenschutz und Datensicherheit auch auszahlen. Ein Mehr an Sicherheit ist nämlich auch ein klarer Wettbewerbsvorteil.

Doch darauf muss ich auch noch einmal hinweisen: Hundertprozentige ­Sicherheit in der virtuellen Welt ist eine Illusion, und wir müssen lernen, mit dieser neuen Unsicherheit zu leben. Denn für die meisten Menschen ist ein Verzicht auf digitale Produkte und Dienstleistungen keine Option. Es verzichtet ja auch niemand auf die Teilnahme am Straßenverkehr, nur weil sich das Unfallrisiko nicht gänzlich ausschließen lässt. Das bedeutet: Wir müssen die Risiken akzeptieren, sie so weit wie möglich minimieren und im Umgang mit ihnen mündig werden: zum „responsible net citizen“, zum mündigen Internetzer.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung des Vortrags, den Timotheus Höttges am 8. Juni 2015 vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin gehalten hat.

Timotheus Höttges ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Telekom AG.

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2015, S. 26-29

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