Europäer, bitte einmischen!
Die Antwort war so kurz wie verstörend. Als der chinesische Militärattaché Oberst Zhou Bo am Kings College in London zum strittigen Thema der Freiheit der Schifffahrt im Südchinesischen Meer gefragt wurde, war er so knapp wie deutlich. Als Rekurs diente ein Ereignis im Ärmelkanal, der 2017 von drei chinesischen Kriegsschiffen durchfahren wurde. Sie waren auf dem Weg in die Ostsee, um dort an Übungen mit der russischen Marine teilzunehmen, und pflügten ungehindert durch britische Gewässer. Wie also, lautete die Frage, würde China reagieren, wenn Kriegsschiffe der Royal Navy durch das Südchinesische Meer fahren, das China für sich beansprucht? Zhou: Wenn China in britischen Gewässern britische Regeln befolge, müsse Großbritannien chinesische Regeln in chinesischen Gewässern achten.
Wenn diese Aussage die chinesische Auffassung internationalen Rechts widerspiegelt, ist das alarmierend. Lässt sich doch Zhous Haltung so lesen, dass China nicht an die universellen Prinzipien glaubt, denen das Seerecht folgt. Das chinesische Militär wird die Bewegungsfreiheit zwar weltweit nutzen, sie aber dort verweigern, wo China Gewässer für sich beansprucht. Großbritannien und China haben das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen unterschrieben und ratifiziert. Aus dem Abkommen geht eindeutig hervor, dass jedes Marineschiff völlig legal durch das Südchinesische Meer fahren darf. Egal, wie heiß umstritten manche Gebiete davon sein mögen.
Heute scheint es, China wolle einen Jahrhunderte alten Konsens kippen und Militärschiffen den Zugang zum Südchinesischen Meer versperren. Wie das aussehen kann, zeigte ein Zwischenfall. Am 29. September 2018 durchfuhr die amerikanische USS Decatur das Südchinesische Meer. Ein chinesischer Zerstörer, die Lanzhou, setzte sich davor und warnte: „Wenn Sie den Kurs nicht ändern, werden Sie bestraft.“ Wenn solche Aktionen widerspruchslos hingenommen werden, kehrt die Welt zu einer Zeit zurück, in der Kriegsschiffe Blockaden freikämpfen mussten. Der Seehandel, die Lebensader der globalen Wirtschaft, wäre erneut den Launen der Küstenstaaten ausgeliefert.
Hätten Großbritannien und Frankreich Chinas rechtliche Position übernommen, sie hätten der chinesischen Marine die Durchfahrt durch den Ärmelkanal verweigern können. Indonesien, Malaysia und Singapur könnten chinesischen Schiffen auf der gleichen Grundlage die Passage durch die Straße von Malakka untersagen. Ist das die Welt, wie China sie haben möchte? Eine Welt, in der Staaten eigenmächtig Wasserwege schließen können? Die Folgen für den internationalen Frieden wären gravierend. Deswegen gehen die Streitigkeiten im Südchinesischen Meer die ganze Welt etwas an. Auf den ersten Blick wird hier um kleine, wirtschaftlich unbedeutende Inseln gestritten. Auf den zweiten Blick geht es hier aber um alles: Wer macht die Spielregeln für die Welt des 21. Jahrhunderts?
Im Südchinesischen Meer gibt es mehrere Anhäufungen von Felsen und Riffen. Staaten in der Region beanspruchen einige dieser Formationen für sich. Vietnam und China erheben Anspruch auf die Paracel- und die Spratly-Inseln; die Philippinen reklamieren ebenfalls einen Teil der Spratly-Inseln, den sie als Kalaayan-Inselgruppe bezeichnen. Bei Borneo besetzt Malaysia fünf Riffe, Brunei reklamiert ein Riff in der Nähe für sich. Niemand möchte zurückweichen, es herrscht ein diplomatisches Patt, das immer wieder von Krisen geschüttelt wird.
Im südlichen Teil des Südchinesischen Meeres, nahe der Spratly-Inseln, schüttet China seit 2013 künstliche Inseln auf. Heute sind sie fast fertig. Die Regierung in Peking beharrt darauf, dass es sich hier um zivile Arbeiten handelt. Satellitenbilder zeigen allerdings deutlich, dass es dort militärische Einrichtungen gibt: Baracken, Waffensysteme und Hangars für Flugabwehrsysteme. Laut amerikanischen Militärquellen hat China neben den Flugabwehrsystemen auch Seezielflugkörper auf diesen neuen Basen stationiert. Auf drei Inseln sind drei Kilometer lange Start- und Landebahnen entstanden, die sich für Militärflugzeuge eignen. Als dieser Beitrag geschrieben wurde, hatten nur zivile und unbewaffnete Transportflugzeuge die Bahnen genutzt. China wird dort jedoch sehr wahrscheinlich Kampfjets stationieren. Sofern Pekings Verhalten in der Vergangenheit eine Blaupause ist, wird es etwa eine Art Provokation seitens der USA zum Vorwand nehmen, bevor es die Flugzeuge auf die neuen Basen schickt.
Ein lokaler Zwischenfall könnte zu einem ernsthaften Konflikt werden
Mithilfe der künstlichen Inseln kann China in den umstrittenen Gebieten hohe Präsenz zeigen – mit seiner Marine und mit Schiffen der Küstenwache. Das betrifft vor allem Chinas Nachbarn in Südostasien, aber auch alle anderen Staaten, die an Frieden und Sicherheit in der Region interessiert sind. Peking kann nun die Aktivitäten seiner Nachbarn beobachten und gegebenenfalls schnell intervenieren. Außerdem kann Peking die Anrainerstaaten daran hindern, Rohstoffe im Südchinesischen Meer abzubauen – auch unter Androhung militärischer Gewalt. So hinderte China 2017 und 2018 das spanische Unternehmen Repsol daran, Gasfelder in einer Wirtschaftszone abzubauen, die Vietnam für sich beansprucht.
Gut ein Fünftel der philippinischen Elektrizität wird mithilfe des Offshore-Gasfelds Malampaya erzeugt. Wird das Feld bis zur Erschöpfung abgebaut, droht den Philippinen ein kritischer Energiemangel. Unweit von Malampaya liegt die Reed Bank. Darunter schlummern Gasvorkommen, die von den Philippinen erschlossen werden könnten, um damit Energieprobleme abzuwenden. 2016 entschied ein internationales Schiedsgericht, dass besagte Gasressourcen innerhalb der philippinischen Wirtschaftszone liegen. Der philippinische Präsident Rodrigo Duterte sagte 2017 allerdings, Xi Jinping habe ihm mit Krieg gedroht, sollten die Philippinen dort bohren. Kurz gesagt: Chinas Aktivitäten im Südchinesischen Meer bedrohen internationale Rechtsgrundsätze und die Sicherheit südostasiatischer Staaten. Ein lokaler Zwischenfall könnte sich hier zu einem ernsthaften Konflikt auswachsen. Die territorialen Streitigkeiten der regionalen Rivalen vermischen sich mit Uneinigkeiten in der Schifffahrt, die auch Mächte außerhalb der Region betreffen.
Auf dem Papier gäbe es eine einfache Lösung für die Streitigkeiten im Südchinesischen Meer: Alle Parteien erklären sich bereit, ihre derzeitigen Positionen auf den verschiedenen Felsen und Riffen zu halten. Darüber hinaus akzeptieren alle die besetzten Eilande der anderen Rivalen und verpflichten sich zudem, keine weiteren zu besetzen. Darüber hinaus könnten alle Beteiligten die Ressourcen der Gewässer untereinander so aufteilen, wie es im UN-Seerechtsübereinkommen festgelegt ist. Eine nachhaltige Förderung und Verwaltung der Rohstoffe wäre so ebenfalls zu gewährleisten. Die Regierungen der rivalisierenden Staaten werden ihre Bevölkerungen von diesem vernünftigen Vorgehen überzeugen müssen. Über Jahrzehnte wurde der Streit um diese Fels- und Riff-Formationen emotional aufgeladen – auch dem muss entgegengewirkt werden. Das gelingt, wenn Beweise dafür erbracht werden können, dass diese Lösung vernünftig wäre. Diese Beweise sind jedoch schwer zu liefern. Machen wir uns aber nichts vor: In den Ein-Parteien-Systemen Chinas und Vietnams herrscht Propaganda. Peking und Hanoi konnten ihre Bevölkerungen immer wieder von Ideologiewechseln überzeugen.
Derzeit gibt es drei Szenarien, wie der Konflikt im Südchinesischen Meer ausgehen kann: 1. Es geht so weiter wie bisher, Spannungen und das Risiko einer militärischen Eskalation treten immer wieder auf. 2. Die südostasiatischen Anwärter auf die Gebiete beugen sich dem chinesischen Druck und geben ihre Forderungen zu Land und Wasser auf. Und 3. Der Status quo wird als angemessene Lösung akzeptiert.
Option eins gebiert das ständige Risiko eines Krieges. China bevorzugt sicher Option zwei, bezahlt dann aber mit seinem Ruf und der schwelenden Abneigung der anderen Staaten. Man muss davon ausgehen, dass Chinas Ansprüche im Südchinesischen Meer seinen strategischen Interessen in Asien massiv entgegenstehen. Um diesen nachzukommen, müsste Peking friedliche, kooperative Beziehungen zu seinen Nachbarn aufbauen. Pekings territoriale Agenda beunruhigt die Anrainerstaaten, deswegen möchten sie die USA zur Gewährung der Sicherheit in der Region einbinden. Sollte China die Streitigkeiten beilegen, würde es das Bestreben seiner Nachbarn schwächen, nach alternativen Sicherheitsbeziehungen zu suchen. Option drei ist schwierig, birgt aber die besten Potenziale, einen anhaltenden Frieden zu erreichen.
Was kann Europa beitragen?
Es würde sich lohnen, diesen schwierigen Weg zu gehen. Insbesondere Europa pocht darauf, dass konfligierende Interessen auf der Basis des Rechts gelöst werden müssen, nicht auf der Basis der Macht. Was kann Europa also beitragen? Zwei Interventionen könnten helfen: Eine sollte auf eine Lösung der territorialen Konflikte abzielen, die andere auf die Verteidigung des internationalen Seerechtsabkommens.
In vielen europäischen Einrichtungen gibt es Experten, die Beweise sortieren, übersetzen und bewerten könnten, welche bisher die territorialen Forderungen der konkurrierenden Mächte unterfüttern. Jüngste Forschungen belegen, dass es in den meisten Fällen immer nur einen rechtmäßigen Besetzer von Land- oder Felsformationen gegeben hat. Eine Taskforce könnte die Beweise auswerten und sie an Regierungen und Öffentlichkeit weiterleiten.
Weiterhin müssten die EU-Staaten das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen in all ihren Stellungnahmen zur Seefahrt eindeutig unterstützen und dies den Konfliktparteien verdeutlichen. Es sollte geprüft werden, welche Ansprüche in dieser Region dem Seerechtsübereinkommen entsprechen und welche nicht, gefolgt von öffentlichen Erklärungen und diplomatischen Stellungnahmen. Wo China behauptet, seine Forderungen mit historischen Rechten, die dem Seerechtsübereinkommen überlegen seien, unterfüttern zu können, müssen diese historischen Rechte hinterfragt und widerlegt werden.
EU-Staaten mit den entsprechenden Möglichkeiten sollten Marineschiffe in das Südchinesische Meer entsenden. So könnten sie ihr Interesse an einer friedlichen internationalen Ordnung unterstreichen. Gleichzeitig wäre das ein Zeichen, dass eine Erschütterung der Ordnung in einem bestimmten Teil der Welt als eine Bedrohung verstanden wird, die weit darüber hinausreicht. Chinesischen Marineschiffen könnte die Hafeneinfahrt verweigert werden; den südostasiatischen Anrainerstaaten könnte beim Aufbau von Kontroll- und Überwachungskapazitäten geholfen werden. Auch die militärische Zusammenarbeit kann vertieft werden. Die EU-Staaten könnten chinesische Unternehmen sanktionieren, die sich in den Wirtschaftszonen anderer Staaten räuberisch verhalten. Sie könnten allen Schifffahrtsabkommen Klauseln hinzufügen, wonach berechtigte Ansprüche auf Wirtschaftszonen im Südchinesischen Meer zu respektieren sind. Man könnte darauf bestehen, dass Fischfang der jeweiligen Wirtschaftszone zuzuordnen ist.
Diese und weitere zielgerichtete Gegenmaßnahmen hätten den Effekt, dass die Regeln im Südchinesischen Meer nicht mehr gebrochen werden. Das ist eine idealistische Strategie. Sie beansprucht finanzielle Mittel, Zeit und birgt diplomatische Risiken. Die Alternativen allerdings sehen düster aus.
Bill Hayton arbeitet als Associate Fellow im Asien-Pazifik-Programm bei Chatham House.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2019, S. 34-37