In Europa zu Hause sein
Gläubig, finanziell unabhängig, staatsbürgerlich engagiert: Wie eine europäisch-muslimische Identität aussehen könnte
Muslime in Europa begegnen dem Anpassungsdruck der westlichen Lebensweise auf zwei Arten: Sie werden auch säkular oder sie leben einen Glauben, der den Islam des 7. Jahrhunderts imitiert. Tariq Ramadan fordert dagegen einen zeitgenössischen europäischen Islam.
400 Jahre lang haben die europäischen Gesellschaften einen tief greifenden Prozess der Säkularisierung durchlaufen, der seine Spuren hinterlassen hat. Glauben, Religion und gottesdienstliche Praxis besitzen im gesellschaftlichen Leben keinen großen Stellenwert mehr. Vielmehr scheinen zwei Logiken nebeneinander zu bestehen, ohne wirklich miteinander verbunden zu sein: einerseits die Logik des öffentlichen Raumes, gegründet auf Freiheit, Rechte, Individualismus, Arbeit und Effizienz; andererseits die Logik des Privaten, des Bereichs, in dem jeder einzelne versucht, seinen Glauben zu bestimmen, seine Werte festzulegen und sein inneres Leben zu organisieren.
Moderne Industriegesellschaften sind weitgehend areligiös, und die mit ihrer „Kultur“ verknüpften Werte wie Freiheit, Primat des Individuums und Effizienz entsprechen nicht einer religiösen Lehre, die auf der Anerkennung des Schöpfers, der Notwendigkeit des Glaubens und den antithetischen Begriffen des Guten und des Bösen basiert. Die Europäer begrüßen diese Entwicklung, die als Befreiungsprozess im Namen des Ideals des Individuums und seines Rechts auf Freiheit begriffen wird. Manchem westlichen Politiker und Wissenschaftler erscheint es ganz selbstverständlich, von Muslimen im Namen des gesunden Menschenverstands zu verlangen, auf den herrschenden und ohne allen Zweifel vorteilhaften „Zug des Fortschritts“ aufzuspringen. Das bedeutet ihrer Auffassung nach, dass Muslime die gleiche Haltung wie sie selber gegenüber dem Glauben und den Geboten ihrer Religion einnehmen müssen. Der Glauben und die religiöse Praxis werden dabei als zweitrangig und als Teil des Privatlebens betrachtet, was hier bedeutet, dass sie verborgen, geradezu unsichtbar, wenn nicht inexistent sein sollen.
Für Muslime in Europa bedeutet in der Gegenwart zu leben, sich der westlichen Lebensweise anpassen zu müssen. Die Botschaft des Islams wird auf einige theoretische Werte und Manifestationen „guter Absichten“ reduziert und somit an den Rand des sozialen Lebens verdrängt. Die muslimische Identität ist unter diesen Prämissen nur eine Sammlung von allgemeinen Regeln, die zusammen mit manchen kulturellen Merkmalen allgemein geteilt und bei Gelegenheiten von Festen und Hochzeiten vorgezeigt werden. Die in der Theorie anerkannte Universalität der Botschaft des Islams wird auf den Raum des Privatlebens eingeschränkt, aus dem öffentlichen Leben verwiesen, unsichtbar, dem gleichen Muster folgend wie die Entwicklung der anderen Religionen in Europa. Es gibt für sie keine Alternative: fortschrittlich, offenen Geistes und modern zu sein, wirklich europäisch zu sein, bedeutet, die Lehren des Islams in einer Weise zu überdenken und sogar zu modifizieren, dass sich die muslimische Identität an ihre Umgebung nicht nur in rechtlicher Hinsicht, sondern in einem viel tieferen Sinn in all ihren grundlegenden Dimensionen anpasst.
Trotzdem erweist sich der irreversibel scheinende Prozess dieser Akkulturation bei der zweiten und dritten Generation als keineswegs so wirksam, wie auf den ersten Blick erscheint. Jüngere Muslime sind durch den mächtigen Einfluss der Umgebung oder durch ihre freie Entscheidung Muslime ohne Islam, aber sie bleiben Muslime: Doch der Bruch, den sie empfinden, ruft Fragen und Zweifel hervor, und manchmal auch Unbehagen.
In Europa außerhalb Europas leben
Um nicht in den westlichen Gesellschaften aufzugehen, hat ein Großteil der Muslime geradezu instinktiv Zuflucht im Leben der eigenen Gesellschaft gesucht. Wenn die Umstände es ihnen erlaubten, wie in England, war es ihr Ziel, so zu leben wie „im eigenen Land“. In Europa, aber im eigenen Land. Aus der Sicht dieser Muslime war dies das beste Mittel zur Verteidigung ihrer ethnischen und islamischen Identität. Was hier jedoch tatsächlich gewahrt wird, wie in England, ist nicht im eigentlichen Sinn die asiatische ethnische Gruppe und auch nicht die muslimische Identität, sondern die asiatische Weise, den Islam zu leben. So wird die Treue zu den Lehren des Islams gleichgesetzt mit der Treue zum jeweiligen kulturellen Modell der Verwirklichung: eine Infragestellung oder auch eine bloße Untersuchung dieses Modells, weil wir in Europa leben, wird als ein Verrat gegenüber dem Islam aufgefasst, der zwangsläufig die muslimische Identität in Gefahr bringt. Die Botschaft des Islams wird aus Furcht vor der Umgebung auf ihre traditionelle oder kulturelle Dimension verkürzt. In Frankreich, Belgien oder Schweden sind in den letzten Jahren Gruppen entstanden, die sich vor den Einflüssen ihrer sozialen Umgebung zu schützen versuchen, in dem sie sich vor den europäischen Verhaltensweisen abschotten. Sie schöpfen nicht aus den besonderen Traditionen eines bestimmten Landes, sondern beziehen sich oftmals auf die Weise, in der man zur Zeit des Propheten und seiner Gefährten lebte: Sie tragen traditionelle Gewänder, frequentieren unentwegt die Moscheen und vermeiden jeglichen Kontakt mit der nichtmuslimischen Umwelt. Indem sie die Lehre des Islams auf die Lebensweise und Kleidung der Wüstenbewohner des 7. Jahrhunderts reduzieren, bringen sie die gleiche Unsicherheit bezüglich ihrer Identität zum Ausdruck. Sie sind Muslime gegen das europäische Modell.
Glaube, Praxis und Spiritualität
Um die eigentlichen Grundlagen der muslimischen Identität zu erkunden, müssen wir also auf unsere Quellen zurückgehen. In diesem Sinne schlagen wir eine Definition vor, welche die Bedeutung des Muslimseins ausgehend von den islamischen, ihrer spezifischen kulturellen Formen entkleideten Prinzipien darlegt. In einem zweiten Schritt müssen wir die Frage nach einer europäischen islamischen Kultur stellen. Die Erforschung konkreter Möglichkeiten einer echten Verwurzelung dieser Identität erfordert den Entwurf einer spezifischen kulturellen Ausprägung, die der europäischen Umgebung angemessen ist, ohne den grundlegenden islamischen Prinzipien zu widersprechen.
Das erste und wichtigste Element der muslimischen Identität ist der Glaube an den einen und einzigen Schöpfergott. Das ist der Sinn des zentralen Begriffs des Tawhid, des Glaubens an die Einheit Gottes, die durch das Glaubensbekenntnis, die Schuhada, bestätigt und bezeugt wird. Die muslimische Identität findet ihren ganz natürlichen Ausdruck in der Praxis (Gebet, Fasten, milde Gaben etc.). Mit diesen Aspekten auf engste verknüpft ist die grundlegende Dimension der Spiritualität. Im islamischen Verständnis ist Spiritualität die Weise, mittels derer die Gläubigen ihren Glauben lebendig erhalten, stärken und festigen. Sie ist Erinnerung, Gedenken und innere Anstrengung des Kampfes gegen die menschliche Neigung, Gott, den Sinn des Lebens und das Jenseits zu vergessen.
Die Achtung der muslimischen Identität bedeutet, die erste und grundlegende Dimension des Glaubens anzuerkennen und darüber hinaus den Muslimen zu ermöglichen, alle religiösen Praktiken auszuüben, die ihr spirituelles Leben prägen.
Es gibt keinen wahren Glauben ohne Verstehen: Für den Muslim heißt dies, gleichermaßen die Quellen (Koran und Sunna) und den Kontext, in dem er lebt, zu verstehen. Die muslimische Identität ist nicht geschlossen und in festen, rigiden Prinzipien gefangen. Muslim zu sein bedeutet die Verpflichtung, unermüdlich nach Vermehrung von Fähigkeiten und Wissen zu streben, so dass sich im Lichte der islamischen Quellen sagen lässt: „Muslimsein heißt lernen.“ Bevor sie in Übereinstimmung mit den Lehren des Islams handeln, müssen sie die Fähigkeit des Lernens und Verstehens einsetzen, um die Wahl zwischen dem, was gut, und dem, was schlecht ist zu treffen und den besten Weg zur Erlangung von Gottes Wohlgefallen zu finden, in welcher Umgebung sie sich auch immer befinden mögen. Wahl und Unwissen schließen sich gegenseitig aus.
Der Glaube ist ein Vertrauenspfand und es wird von den Muslimen verlangt, dieses Vertrauenspfand ihren Kindern und Nahestehenden zu vermitteln und der Menschheit davon Zeugnis abzulegen. Muslimsein heißt, zu erziehen, zu bilden und zu vermitteln. Seine Kinder zu erziehen und ihnen damit die Möglichkeit zu geben, das Vertrauenspfand zu empfangen und dann frei zu entscheiden, gehört zur muslimischen Identität. Muslime sind überzeugt, dass der Koran die letzte göttliche Offenbarung ist und als solche universellen Charakter besitzt. Ihre eigene Verpflichtung vor Gott besteht darin, die Botschaft dieses Vertrauenspfands bekannt zu machen und ihren Inhalt zu vermitteln. Die Vorstellung, andere Menschen zu bekehren, ist dem Islam fremd. Die Botschaft verbreiten heißt, zu einem wirklichen Verständnis der Präsenz Gottes und seiner Lehren aufzurufen und einzuladen. Bekehrung steht einzig Gott zu, mittels seiner Offenbarung. Kein Mensch hat das Recht, sich in diese Angelegenheiten des Herzens einzumischen.
Muslimsein bedeutet weiter, in jedweder Umgebung in Übereinstimmung mit den Lehren des Islams zu handeln. Im Islam gibt es dabei nichts, was die Muslime dazu anhielte, sich von der Gesellschaft fern zu halten, um Gott näher zu sein. Es ist vielmehr umgekehrt, denn der Glaube wird im Koran wiederholt und geradezu wesenhaft mit gutem Verhalten und guten Taten verbunden. In jedem Land und in jeder Umgebung gründet sich unser Handeln auf vier grundlegende Aspekte des menschlichen Lebens: das spirituelle Leben in der Gesellschaft zu entwickeln und zu bewahren, die religiöse und die säkulare Bildung und Erziehung zu verbreiten, sich in jedem Bereich des ökonomischen und politischen Lebens für mehr Gerechtigkeit einzusetzen und schließlich auf die Solidarität mit allen Bedürftigen, die dem Vergessen und der schuldhaften Vernachlässigung ausgesetzt sind.
Gelehrte und Verantwortliche in den muslimischen Organisationen müssen für die europäischen Muslime die Lehren und Regeln bereitstellen, die dazu geeignet sind, ihre muslimische Identität nicht als Araber, Pakistanis oder Inder, sondern hinfort als Europäer zu bewahren und zu erneuern. Dieser Prozess findet seit mindestens 15 Jahren statt; er wird sich auch in Zukunft fortsetzen und so das Entstehen einer eigenständigen islamischen Identität befördern, die sich weder in einem völligen Aufgehen in der europäischen Umgebung noch in der Reaktion gegen diese erschöpft, sondern auf ihren eigenen Grundlagen entsprechend der islamischen Quellen beruht. Das ist der Sinn einer Integration, wie er aus muslimischer Sicht verstanden wird.
Pluralismus, Unabhängigkeit, (Staats-)Bürgerschaft
Der Herausforderung einer Koexistenz zu begegnen, die kein Frieden in der Separation ist, sondern ein Zusammenleben in der Partizipation, setzt voraus, dass die Muslime bestimmte Reformanstrengungen im Innern der muslimischen Gemeinschaften in Europa in Angriff nehmen.
Erstens sollten sich die Muslime in Europa auf die Kultur des Pluralismus besinnen, die von Beginn an das „Zusammenleben“ in muslimischen Gesellschaften charakterisiert hat. Die äußerliche Einheit, welche die Muslime zusammenschweißt, wenn sie sich angegriffen fühlen oder wenn sie gegen ein punktuelles, klar umrissenes Unglück kämpfen, wird nicht ausreichen. Es ist notwendig, zumindest auf lokaler Ebene den Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaften wieder aufzunehmen. Es geht um zu viel und die Herausforderungen erweisen sich als viel zu schwerwiegend, als dass wir damit fortfahren könnten, in gegenseitiger Unkenntnis zu verharren, uns gegenseitig zu kritisieren und zu bekämpfen. Es geht nicht darum, einer Meinung zu sein. Aber unser Wille, dem Islam treu zu sein, verpflichtet uns dazu, uns für die Überwindung von Spaltungen einzusetzen und an dem Aufbau einer Kultur des Dialogs zu arbeiten, die aus der Sicht eines jeden als von Grund auf islamisch betrachtet werden kann.
Die muslimische Präsenz in Europa ist in der Entwicklung begriffen. Immer mehr Muslime und Musliminnen der zweiten, dritten und sogar vierten Generation beginnen eine eigene Entwicklung und stützen sich dabei auf Eigenfinanzierung. Die Zeit der großen, von der einen oder anderen Regierung finanzierten Projekte scheint abgelaufen, auch wenn manche Staaten immer noch versuchen, durch Moscheen, Stiftungen und andere Einrichtungen die islamischen Aktivitäten in Europa zu kontrollieren. Ob es sich um Saudi-Arabien, Marokko, Algerien oder die Türkei handelt, um nur einige der Staaten zu nennen, die Finanzmittel bereitstellen – alle diese Länder verlieren nach und nach die Einflusszonen, die sie etliche Jahre lang besaßen. Immer mehr Moscheen von gewissem Rang werden mit Geldern finanziert, die auf lokaler Ebene eingenommen werden. Die Summen, die dabei zusammenkommen, sind beträchtlich und schaffen die Voraussetzung für eine echte Unabhängigkeit.
Angesichts dieser Entwicklung versuchen manche europäischen Staaten, ihren Einfluss auf das Engagement der Muslime in Europa aufrechtzuerhalten. Deshalb sollten die Vereinigungen und ihre leitenden Mitglieder sich verstärkt darum bemühen, ihre Unabhängigkeit in politischer und finanzieller Hinsicht zu verteidigen – und zwar vor allem aus zwei Gründen. Der erste ist mit der rechtlichen Integration der europäischen Muslime eng verbunden. Denn diese ließe sich unter der Einflussnahme ausländischer Staaten, die ihre jeweilige von ihren Gelehrten für ihren Kontext entworfene Umsetzung des Islams durchsetzen wollen, nicht sachgemäß realisieren. Reform und Anpassung können nur eigenständig verwirklicht werden.
Der zweite Grund ist politischer Natur. Kontrolle über die islamischen Organisationen in Europa bedeutet für alle muslimischen Staaten, den kritischen Diskurs der europäischen Muslime zu beeinflussen und zu beschränken. Denn diese Muslime sind mittlerweile Bürger von Rechtsstaaten, die ihnen erlauben, im Namen des Islams begangenen Verrat, Diktatur und Unterdrückung anzuklagen. Kraft ihrer politischen und finanziellen Unabhängigkeit müssen die Muslime in Europa eine neue, freie und aufrichtige Stimme vernehmen lassen, die sich zu intellektueller Redlichkeit und gründlicher Analyse verpflichtet, die erklärt und bei Bedarf kommentiert, die einen kritischen Diskurs über die Lage des Islams in der Welt gleichermaßen hinsichtlich der Errungenschaften wie des Verrats entwickelt. Diese neue Stimme jagt den Machthabern – hier und dort – naturgemäß Angst ein. Eine der größten Herausforderungen der muslimischen Präsenz in Europa besteht darin, ihr Gehalt, Kohärenz und Gewicht zu verleihen.
Wollen wir in Europa zu Hause sein, stellt sich die Frage nach den Umständen, die eine authentische Präsenz und eine echte Partizipation der Muslime im Leben der Gesellschaft erlauben. Die Muslime müssen sich für die Geschichte des Landes, in dem sie leben, für die Arbeitsweise der Institutionen und für die Partizipation als Bürger auf allen Ebenen der Gesellschaft interessieren. Der muslimische Glaube verpflichtet unser Gewissen und die demokratische Vernunft gebietet unserem Verstand, dass die Entscheidung bei Wahlen nach der Aufrichtigkeit und Kompetenz des Kandidaten getroffen werden, ob er nun Muslim ist oder nicht. An diese Gefahr müssen wir auch einige Politiker in Großbritannien, Frankreich und Belgien (den hinsichtlich der Partizipation fortschrittlichsten Ländern) erinnern, die einige „exotische Namen“ auf ihre Listen setzten, um muslimische Wähler zu locken. Das ist schädlich und inakzeptabel für die pluralistische Zukunft der Länder. Auf diese Weise lässt sich keine friedliche Zukunft aufbauen. Und auch wenn im Übrigen die ganze Gesellschaft in die Richtung dieser Praxis abrutschen würde, verbieten die islamischen Lehren den Muslimen, sich auf diese Praktiken, die an Stimmenkauf und Klientelismus grenzen, einzulassen.
Internationale Politik 4, April 2005, S. 53 - 57.