Europa und China
Eine schwierige Beziehung
Ein großes Dilemma in den Beziehungen zwischen China und der EU liegt in Chinas Bevorzugung des Bilateralismus statt des Multilateralismus. Es ist für China schwierig, eine gemeinsame Politik gegenüber allen EU-Mitgliedstaaten zu entwickeln, und genauso umgekehrt, so der Wissenschaftler aus Beijing.
Die chinesisch-europäischen Beziehungen haben sich in der Zeit des Kalten Krieges nicht unbedingt geradlinig entwickelt; sie wurden von vielen Wissenschaftlern eher als zweitrangig angesehen.1 Sowohl China als auch Europa haben ihre jeweilige Politik gegenüber anderen Akteuren immer an ihren Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion ausgerichtet. Mit dem Ende des Kalten Krieges fand jedoch im internationalen System ein großer Wandel statt und somit für die chinesisch-europäischen Beziehungen (insbesondere die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Volksrepublik China) begann eine neue Ära. Allerdings haben sich die beiderseitigen Beziehungen zu Beginn der neunziger Jahre aufgrund des Tienanmen-Ereignisses 1989 nicht reibungslos entwickelt. Doch seit Mitte der neunziger Jahre verbesserten sich die Beziehungen wieder.
Bereits im Jahr 1985 unterzeichneten China und die Europäische Gemeinschaft das erste EG-China-Handels- und Kooperationsabkommen. Seither haben sich die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen rasch entwickelt. Ab 1995 wuchs der Handel zwischen China und der EU in erheblich stärkerem Maße als mit anderen Handelspartnern der Volksrepublik; das bilaterale Handelsvolumen steigerte sich auf 69 Milliarden Dollar im Jahr 2000. Zurzeit ist die EU der drittgrößte Handelspartner Chinas nach Japan und den Vereinigten Staaten.2
Bis Ende 2000 hat China von den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten und anderen EU-Finanzinstitutionen vereinbarte Darlehen in Höhe von rund 46 Milliarden Dollar erhalten – 41 Prozent aller aus dem Ausland stammenden Kredite. Bei den ausländischen Direktinvestitionen steht die EU insgesamt seit 1998 auf Platz eins.
Obwohl China schon 1975 mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft offizielle diplomatische Beziehungen aufgenommen hatte, eröffnete die Europäische Kommission erst im Mai 1988 ihre Vertretung in Beijing. Seit Mitte der neunziger Jahre wurden die politischen Kontakte zwischen China und den EU-Mitgliedstaaten durch regelmäßige beiderseitige Besuche immer enger: 1994 wurde, in Anerkennung Chinas als sich herausbildende Macht auf internationaler Ebene, offiziell ein Mechanismus für den politischen Dialog eingerichtet.
Am 2. April 1998 fand in London der erste EU-China-Gipfel auf Ebene der Staats- und Regierungschefs statt; diese Treffen werden seither regelmäßig abgehalten wurde, zuletzt am 3. September 2001 in Brüssel. Diese Gipfeltreffen sind ein Forum, um Meinungen auszutauschen und Fragen von beiderseitigem Interesse anzusprechen, so z.B. wirtschaftliche und soziale Reformen, Menschenrechte, Handel (einschließlich Chinas WTO-Beitritt), internationale Zusammenarbeit, Kampf gegen illegale Einwanderung und Menschenhandel, Umwelt und regionale Aspekte in Asien und Europa.
Mit ihrem Kooperationsprogamm unterstützt die EU ohne Einschränkung Chinas Kurs der wirtschaftlichen Reform und Liberalisierung. Die Europäische Kommission entwickelt zurzeit eine größere Bandbreite von Kooperationsaktivitäten, die über die traditionelle Entwicklungshilfe hinausgehen. Diese neuen Kooperationsprojekte haben zum Ziel, den Reformprozess zu unterstützen und damit die Integration Chinas in den Welthandel und in die Finanzsysteme, um so auch die Zivilgesellschaft, die Rechtsstaatlichkeit, ein nachhaltiges Wachstum und umweltschonende Energiequellen in China zu fördern.
Dynamische Beziehungen
Die Beziehungen zwischen China und der EU zeichnen sich, besonders im Vergleich zu den Beziehungen zu den USA und Japan, durch eine beiderseitige Dynamik aus. So wurde beispielsweise am 29. Juni 1998 von der Europäischen Kommission ein Papier verabschiedet, das konkrete Empfehlungen für eine Aufwertung der Beziehungen zwischen der EU und der Volksrepublik China enthält.
Warum betreibt die EU eine solch aktive China-Politik? Dafür gibt es drei Gründe:
– das Marktpotenzial Chinas;
– die Verbesserung des Profils der EU in China;
– die gemeinsamen regionalen und internationalen Interessen.
Wie der damalige Vizepräsident der Kommission, Sir Leon Brittan, bemerkte, „hat China ein bemerkenswertes Reformprogramm auf den Weg gebracht; sein Einfluss auf der Weltbühne wird immer größer. … Die Welt wird von Chinas Entwicklung zu einer offenen und prosperierenden Gesellschaft und von China als einem gleichwertigen Partner in der Weltwirtschaft profitieren. Europa muss nun daran arbeiten, seine Wirtschaftsbeziehungen zu China zu stärken und diese Bemühungen mit einer aktiven Verpflichtung zur Schaffung einer starken und offenen Zivilgesellschaft koppeln.“3
Während des Kalten Krieges wurde die EG/EU von der chinesischen Führung als „zweiter Kriegsschauplatz“ betrachtet. Europa sollte demnach aus chinesischer Sicht im Kampf gegen die Sowjetunion zusammengeschweißt werden. Selbst in den frühen neunziger Jahren betonten chinesische Wissenschaftler und Regierungsvertreter noch, dass die Divergenzen zwischen den westlichen Ländern im Zuge des Auseinanderfallens der Sowjetunion immer größer werden würden. Seit Mitte der neunziger Jahre hat sich die traditionelle Auffassung dieser Widersprüche allerdings gewandelt. Zahlreiche jüngere Wissenschaftler sind inzwischen der Ansicht, dass diese Idee noch in den Denkstrukturen des Kalten Krieges verhaftet ist.4
Amerikas „kleiner Bruder“ EU
Das neue chinesische Denken über Europa und die Europäische Union geht davon aus, dass sich die Welt verändert hat und sich zunehmend globalisiert. Die amerikanisch-europäischen Beziehungen sind enger statt konfliktreicher geworden. Daher ist es unrealistisch für China, aus den Differenzen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten einen Nutzen ziehen zu wollen. Die EU ist kein wirtschaftlicher Riese und politischer Zwerg. Im Zuge der europäischen Integration ist die EU zu einem der wichtigsten Akteure in der Weltpolitik und der Weltwirtschaft geworden, die – verglichen mit den Vereinigten Staaten und Japan – eine freundschaftlich-realistische Politik gegenüber China verfolgt. Drei Kerninteressen sind für China bei der Pflege der guten Beziehungen von besonderer Bedeutung: wirtschaftliche, politische und strategische Interessen.5 Da die EU ihre China-Politik seit 1995 mehrere Male den Verhältnissen angepasst hat, sollte China den chinesisch-europäischen Beziehungen mehr Aufmerksamkeit schenken und eine Abhängigkeit der chinesischen Außenpolitik von den chinesisch-amerikanischen Beziehungen vermeiden.
Zwar sind das gemeinsame Interesse und der gemeinsame Wille, die Beziehungen zwischen der EU und China zu verbessern, auf beiden Seiten vorhanden; auch wird besonders die wirtschaftliche Zusammenarbeit kurz- und längerfristig weiterentwickelt werden. Aber es bestehen noch Probleme und Unsicherheiten: China würde beispielsweise gern noch kooperativere Beziehungen mit der EU haben, aber die Rahmenbedingungen werden immer noch durch die chinesisch-amerikanischen Beziehungen bestimmt. Für die meisten Chinesen ist die EU immer noch der „kleine Bruder“ der Vereinigten Staaten. Die chinesisch-amerikanischen Beziehungen hatten und haben Priorität in der chinesischen Außenpolitik. Auch wenn in China ein neues Denken über die Weltpolitik Einzug gehalten hat, ist die Hauptstrategie der Außenpolitik das realistische Gleichgewicht der Macht.
Schwierigkeit: der EU-Multilateralismus
Ein anderes Dilemma in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und China ist Chinas Bevorzugung des Bilateralismus statt des Multilateralismus.6 Die EU-China-Beziehung hat einen dualen Charakter: einerseits arbeitet China mit der Europäischen Union in Brüssel; andererseits muss China mit den einzelnen Mitgliedstaaten verhandeln. Für viele Chinesen, insbesondere für Regierungsvertreter, gibt es keine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und auch keine gemeinsame China-Politik der EU. Priorität Chinas ist es, in der Europa-Politik mit den größeren Mitgliedstaaten Großbritannien, Deutschland und Frankreich zusammenzuarbeiten.7
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist der schwierigste Bereich europäischer Integration. Auch wenn es eines der Hauptziele der Europäischen Kommission ist, „[…] Wege vorzuschlagen, wie die EU-China-Beziehungen durch die Festlegung von konkreten praktischen kurz- und langfristigen Aktionspunkten für die EU-Politik entwickelt werden können, um effektiver bei der Erreichung der langfristigen Ziele voranzuschreiten“,8 ist die Art und Weise, wie die gemeinsame EU-Politik die China-Politik der einzelnen Mitgliedstaaten beeinflusst, noch immer problematisch.
In der GASP besteht ein institutionelles Ungleichgewicht; die EU hat eine GASP-Struktur ohne ausreichend konkreten Inhalt geschaffen. Unterschiedliche nationale Interessen erschweren es den Mitgliedstaaten, rasch effektive gemeinsame Maßnahmen zu ergreifen. Die GASP hängt von intergouvernementalen Vereinbarungen ab, nicht von einer supranationalen Institution.
Ein anderes Problem sind die unterschiedlichen Interessen der EU-Mitgliedstaaten bezüglich Chinas: Großbritannien ist Europas größter Investor in China; Deutschland der größte Handelspartner. Die Mitgliedstaaten haben unterschiedliche Positionen bei den verschiedenen, China betreffenden Themen. Es ist für China nicht einfach, eine gemeinsame Politik gegenüber allen EU-Mitgliedstaaten zu entwickeln und umgekehrt genauso.
Potenzielle Konflikte
In den letzten fünf Jahren haben sich die chinesisch-europäischen Beziehungen reibungslos entwickelt. Es gab keinen ernsten Konflikt, dennoch bestehen sowohl bei politischen als auch wirtschaftlichen Fragen Meinungsunterschiede. Im Wirtschaftsbereich sind dies aus chinesischer Sicht die Antidumpingmaßnahmen der EU bei chinesischen Exporten; ein anderes Problem liegt im EU-Handelsdefizit mit China.9 Ein drittes Problem sind die zweierlei Regelungen der Handelsbeziehungen mit der EU nach Chinas Beitritt zur WTO. Auch könnte die EU-Osterweiterung auf die beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen negative Auswirkungen haben: einige Chinesen betrachten den Wettbewerb mit den Kandidatenländern aus Mittel- und Osteuropa mit Skepsis.
Größere Probleme bestehen bei den politischen Beziehungen: Unterschiedliche politische Systeme und Ideologien sind immer potenzielle Hindernisse. Weitere Probleme sind die Menschenrechte, Taiwan und die Falun-Gong-Sekte. Ein Diskussionspunkt bei den politischen Beziehungen ist, ob China und die EU wirklich gemeinsame politische Interessen haben. Einige Chinesen sehen immer noch die Ideologie als das Hauptthema der europäisch-chinesischen Beziehungen.10 Eine andere Frage in China ist, ob es überhaupt ein strategisches Interesse an den EU-China-Beziehungen gibt. Zhongping Feng, einer der führenden Experten des Think Tanks der Regierung, hebt dieses strategische Interesse als eine der drei Säulen in den Beziehungen hervor.11 Andere widersprechen ihm und argumentieren, dass es sehr schwer sei, die wahren gemeinsamen Interessen strategischer und politischer Art zu definieren.
China ist nicht immer ein einfacher Partner für die Europäische Union. Sein politisches System ist anders als das der meisten großen Drittländer, mit denen die EU nennenswerte Beziehungen unterhält. Die Bedenken der Europäer in Kernfragen wie Menschenrechte beeinträchtigen und belasten die Beziehungen manchmal. Aber trotz dieser Schwierigkeiten liegt es im Interesse der EU, China weiter einzubinden. Globalisierung bedeutet u.a., dass ein Land von der Größe Chinas sowohl Teil des Problems als auch Teil der Lösung für alle größeren Fragen von internationaler und regionaler Bedeutung ist. Einbindung bedeutet, umfassende Beziehungen zu entwickeln, die es ermöglichen, auf ein gemeinsames Verständnis bei allen wichtigen Fragen hinzuarbeiten, und dies unter Einbeziehung multilateraler Problemlösungsmöglichkeiten – wo auch immer dies möglich scheint.12
Anmerkungen
1 Vgl. David Shambaugh, China and Europe: Development from a Derivative to Independent Relationship, in: Xinning Song und Xiaojin Zhang (Hrsg.), China and Europe Towards the 21st Century, Hongkong 1997, S. 33-63; Michael Yahuda, China and Europe: The Significance of a Secondary Relationship, in: Thomas Robinson und David Shambaugh (Hrsg.), Chinese Foreign Policy: Theory and Practice, Oxford 1994, S. 266–282.
2 Diese Angabe beruht auf chinesischem Zahlenmaterial. Nach EU-Angaben wäre die EU zweitgrößter Handelspartner mit einem Volumen von 95,2 Milliarden Dollar, davon 25,3 Milliarden Dollar Export nach China und knapp 70 Milliarden Dollar Import aus China, mit einem Handelsdefizit von 47,6Milliarden Dollar im Jahr 2000.
3 Rede von Sir Leon Brittan, über: <http://www.delchn.ece.eu.int/>.
4 Aus Gründen der politischen Sensibilität existieren hierzu keine Veröffentlichungen.
5 Vgl. Zhongping Feng, Research Report on China’s Policy towards the European Union, in: Contemporary International Relations, 8/2001, S. 8.
6 Vgl. Xinning Song, China’s View on Asian Regionalism, in: Wolfgang Pape (Hrsg.), Generating Public Space for our Common Futures: Models of Integration in Asia and Europe, Luxemburg 2001.
7 Xinning Song und Maoming Zhang, The EU Common Foreign and Security Policy and its Impact on the EU-China Relations, in: Jundu Xue und Rongyao Zhou (Hrsg.), Sino-European Relations Towards the 21st Century, Beijing 2001, S.115–134.
8 Die China-Strategie der EU: Umsetzung der Grundsätze von 1998 und weitere Schritte zur Vertiefung des politischen Konzepts der EU, Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament, Brüssel, 15.5.2001, KOM (2001) 265 endgültig.
9 Die europäischen und chinesischen Berechnungen sind unterschiedlich. Vgl. Anm. 2.
10Vgl. Guangyan Liang, Ideology as a Factor to Influence the Sino-European Relations in the Post-Cold War Era, in: Xue and Zhou (a.a.O., Anm. 7), S.135–44.
11Vgl. Feng (a.a.O., Anm. 5).
12Vgl. Die China-Strategie der EU (a.a.O., Anm. 8).
Internationale Politik 2, Februar 2002, S. 39 - 44.
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