„Europa hat keine Industriepolitik“
Von Gründergeist und Innovationen, Folgen der Pandemie und Lesen im Kaffeesatz: Warum die Finanzinfrastruktur ausgebaut werden sollte.
IP: Herr Hommels, wie ist es um den Gründergeist in Deutschland bestellt?
Klaus Hommels: Der Gründergeist ist da, er kann aber ambitionierter sein. Die Grundlage, exzellentes Wissen, ist absolut vorhanden; aber zum Beispiel die Amerikaner haben einen kommerziellen Bezug zu Innovationen, der uns fehlt. Die notwendige Finanzierung für hausgemachte Innovationen muss ausgebaut werden.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Als der Mittelstand aufgebaut wurde, konnten Gründer mit nichts außer einem unbezahlten Haus und einer guten Idee eine Finanzierung bekommen. Banken haben ein Teilrisiko mitgetragen. Sie waren ein Proxy für Regierungsstellen, die das Projekt anschließend weiterfinanziert haben. Heute wäre eine solche Finanzierung undenkbar. Hier kommt Wagniskapital ins Spiel. Nur wenn wir neue Ideen finanziell fördern, entstehen Gründer- und später Erfolgsgeschichten, die andere Gründer inspirieren.
Ist das Risiko größer geworden, dass europäische Investoren die Kontrolle an große Geldgeber aus den USA und Ostasien verlieren?
Das Risiko hat extrem zugenommen; wir machen uns zu wenig Gedanken darüber, wie unsere Industrie wahrgenommen wird. Es liegt nahe, mir eine Argumentation pro domo zu unterstellen – eigentlich schadet uns mehr Konkurrenz ja. Wir haben für Europa viel erreicht, wenn es uns nur ein bisschen gelingt, unsere eigenen Innovationen finanzieren zu können, ohne mit ausgestreckter Hand auf Fördergelder aus den USA und Asien warten zu müssen.
Viele Experten sehen einen Trend zu einer Teilung der digitalen Welt in eine chinesische und eine amerikanische Sphäre. Sie auch?
Ja, absolut. Das liegt daran, dass Europa keine Industriepolitik hat. Ein Beispiel wäre Payment: Wenn Sie einkaufen gehen, zahlen Sie mit Mastercard, American Express oder Visa – alles US-Anbieter. Ohne diese Zahlungsdienstleister müssten wir in Europa wieder mit Bargeld zahlen. Bei allem Respekt, die EC-Karte der Sparkasse ist keine ernstzunehmende Alternative. Die Chinesen haben es anders gemacht: Alibaba hat staatlich subventioniert eine Zahlungsalternative basierend auf QR-Codes entwickelt. Traditionelle Zahlungsdienstleister wurden einfach übergangen. Somit hat man dort innerhalb von acht bis zehn Jahren eine komplette Parallelwelt der Bezahlung aufgebaut. Europa benötigt infrastrukturtechnische „Masterprojekte“!
Hat es Sinn, über die Auswirkungen von Corona auf die Techszene zu spekulieren oder ist das noch Kaffeesatzleserei?
Es gibt noch zu viele offene Parameter, um endgültige Aussagen zu treffen. Es hat sich aber früh abgezeichnet, dass die auferlegten Mobilitätsbeschränkungen ein brutaler Katalysator für die digitale Infrastruktur waren. Nehmen Sie Zoom als Beispiel, das Unternehmen konnte seine Nutzerzahl von zehn Millionen im Dezember auf 300 Millionen allein im März steigern – ohne jedes Marketing. Auch Essenslieferanten haben einen Boom erlebt. Die Pandemie hat die Nutzungsgewohnheiten der Menschen in einer Art geändert, die diesen Unternehmen ideal in die Hände gespielt hat. Dann gibt es Firmen, deren Kerngeschäft zwar eingebrochen ist, die aber durch kluge Führung gestärkt aus der Krise gehen können. Schließlich gibt es noch Firmen, die ohnehin nicht zukunftsfähig waren.
Hat sich der Druck auf die Menschen, digitale Systeme zu nutzen, erhöht?
Das hat er. Wieso bei Essenslieferanten aufhören, wenn man auch gleich den ganzen Einkauf vor der Tür stehen haben kann? Wenn das Logistikgeschäft weiter wächst, wird das zwangsläufig dazu führen, dass sich die effizientesten Anbieter als Marktführer etablieren werden. Mit der höheren Auslastung sinken gleichzeitig die Grenzkosten, die Wettbewerbsfähigkeit steigt noch weiter.
Was sollte nun folgen?
Vor allem der Ausbau von Finanzierungsinfrastruktur. Hier sind auch Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen entscheidend. Wenn Sie heute eine Plattform entwickeln, möchten Sie möglichst schnell viele Großunternehmen dorthin bekommen. Dafür benötigen wir Netzwerke, die zwischen den Unternehmen vermitteln können. Aber auch der Staat ist Nachfrager. Das Silicon Valley ist entstanden, weil die US-Marine unter Umgehung von Ausschreibungsverfahren in San Francisco die ersten Start-ups einfach kontaktierte. Bei großen Unternehmen ist dieses Mindset angekommen. Wir müssen es wollen, diese Industrie aktiv zu fördern. Nur so können wir voneinander lernen.
Die Fragen stellte Martin Bialecki.
Internationale Politik, Special, Digitales Europa, November 2020, S. 44-45