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01. Juli 2005

Europa gehört die Zukunft

Amerika ist altmodisch, Europa modern. Sie brauchen einander

Die europäische Strategie der Zusammenschlüsse ist ein Erfolg – daran muss gerade jetzt erinnert werden. Besonders Amerika sollte das Modell Europas studieren, um zukunftsfähig zu bleiben. Denn in einer Welt von Wirtschaftsstaaten zählt militärische Macht zunehmend weniger.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verkündete der berühmte Historiker Hajo Holborn, der vor den Nationalsozialisten aus Deutschland nach Amerika geflohen war, den „politischen Zusammenbruch Europas“. Er glaubte, die europäischen Staaten, eingekeilt zwischen zwei Weltmächten, wären zu schwach, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren.

Wie viel hat sich seitdem verändert! Die Sowjetunion existiert heute nicht mehr. Die teilweise Genesung Russlands reicht noch nicht aus für eine Wiedergeburt russischer Weltmacht. Dieses Machtvakuum ließ die USA zur einzigen Supermacht werden, die scheinbar über Europas Schicksal genauso bestimmt wie über ihr eigenes. Das zu behaupten ist jedoch voreilig.

Mancher in Amerika glaubt, dass das schwache Europa alles auf einmal haben will. So gesehen, könnte Europa weder mit der amerikanischen Hegemonie einverstanden sein noch gegen sie agieren. Die Europäische Union kann nur wenig militärische Stärke in die Waagschale werfen, und dennoch lehnt sie es ab, sich nach den amerikanischen Vorstellungen zu richten. So steckt man in einer Sackgasse fest. Europa betont die Werte Kants, Amerika die Macht Machiavellis.1

Diese Darstellung der gegenwärtigen Situation entspricht jedoch nicht ganz den grundsätzlichen Entwicklungen in den internationalen Beziehungen, die mehr der Europäischen Union als den Vereinigten Staaten nutzen. Entscheidend ist hier, dass Europa zunehmend internationale Zusammenschlüsse begrüßt, während die Vereinigten Staaten weiterhin zu territorialen „Erwerbungen“ neigen. Zusammenschlüsse sind Verbindungen, denen beide oder mehrere Partner – Staaten oder Unternehmen – zustimmen. Erwerbung bedeutet jedoch in den internationalen Beziehungen die Übernahme eines Staates durch einen anderen. Afghanistan und der Irak sind solche Übernahmen. Im Gegensatz dazu haben die Europäer in den Fällen Kosovo und Bosnien der Anwendung militärischer Zwangsmittel legitime Einschränkungen auferlegt. Diese zwei im Entstehen begriffenen Staaten lehnen ein Diktat von außerhalb ab. Sie versuchen, ihre eigene politische Ordnung hervorzubringen. Afghanistan könnte sich eines Tages ihnen dabei anschließen.

In Europa selbst sind mit der Osterweiterung der Europäischen Union nun 25 Staaten friedlich zu einer Gemeinschaft vereint. Weitere Staaten warten vor den Toren auf Einlass. Der europäische Zusammenschluss war erfolgreich, während amerikanische „Erwerbungen“ weniger Erfolg hatten und auch nicht durch andere legitimiert worden sind. Was sagt uns dies über die neuen Entwicklungen im internationalen System?

Zusammenschluss versus Erwerbung

Unternehmen kennen den Unterschied zwischen Fusion und Übernahme. Manche Staaten hingegen müssen immer noch den grundsätzlichen Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen lernen. Für einige Theoretiker und nationale Regierungen bleiben „Erwerbung“ von Land und der „Aufbau eines Reiches“ eine effektive Strategie, um ihren nationalen Einfluss durchzusetzen. In der Vergangenheit stärkten die europäischen Nationen ihre Macht durch die Erweiterung ihres Territoriums um Kolonien im 19. Jahrhundert. Viele Nationen strebten nach imperialer Ausdehnung, und manche Historiker sind der Ansicht, solche Methoden seien auch heutzutage noch angemessen.2

Nachdem sie mit den Schwierigkeiten „imperialer Erwerbungen“ konfrontiert worden waren, haben die europäischen Nationen auf neue Kolonien verzichtet. Da den Europäern die Probleme vertraut sind, die sich aus dem Regieren über fremde Kulturen ergeben, haben sie der Idee eines Empires abgeschworen. Dagegen haben in Europa politische Führer den Weg für einvernehmliche Zusammenschlüsse von Nationen bereitet, woraus seit 1957 Stück für Stück die Europäische Union entstanden ist. Dieser Einigungsprozess steht für eine neue Form der Anwendung von Wirtschaftsstrategien auf die internationale Politik.

Unternehmen waren in der Regel weitsichtiger als Staaten bei der Maximierung ihrer langfristigen Positionen. Sie haben erkannt, dass sich kurzfristige Vorteile eines Tages als nachteilig erweisen können. Wachstum kann von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht aus größerer Produktion resultieren. Die Kosten steigen, während die Gewinne schrumpfen. Wenn die Kostenkurve langfristig nach oben zeigt, greifen Unternehmen zum Mittel der Fusionen und strategischen Allianzen, um neue Wege der Betriebskosteneinsparung zu finden. Normalerweise eröffnet das Aufkaufen anderer Firmen oder das Fusionieren mit ihnen neue Möglichkeiten: Die Erweiterung der Produktpalette und gemeinsame Produktionswege gehören zu den Vorteilen von fusionierten Konzernen.

Um dieses Ergebnis zu erzielen, haben Unternehmen manchmal feindliche Übernahmen durchgeführt, was als das wirtschaftliche Pendant zu imperialer Politik erscheinen könnte. Eine solche Schlussfolgerung ist jedoch falsch. Denn eine Firmenübernahme muss durch die Aktionäre der beteiligten Firmen bewilligt werden. Im Gegensatz dazu haben die nationalen Expansionen in der Vergangenheit häufig den Willen von Völkern verletzt. Fusionen und selbst feindliche Übernahmen geschehen demnach in allgemeinem Einverständnis, anders als die imperialen Eroberungen des 19. Jahrhunderts.

Nationale Strategien sind veraltet

In diesem kritischen Augenblick sollten Staaten Unternehmenshandbücher zur Hand nehmen, denn Fusionsstrategien findet man selten in nationalen Waffenarsenalen. Doch Staaten stehen denselben Herausforderungen wie Unternehmen gegen-über. Unternehmen wachsen und schrumpfen, und manchmal machen sie bankrott. Genauso verhält es sich mit Staaten. Manche Staaten wachsen, um mit der Macht anderer gleichzuziehen oder sie zu übertreffen. Andere gehen unter. Wenn die Macht eines Staates so weit wächst, dass er den bisherigen Hegemon herausfordern kann, ist Krieg eine mögliche Folge.3 Die Sicherheit einer Großmacht kann auf diese Weise untergraben werden.

Was sollte ein schwächer werdender Staat dann also tun? Wenn ein alternder Hegemon nicht Krieg führen möchte, um einem aufsteigenden Staat zu begegnen, dann könnte er versuchen, seine eigene wirtschaftliche Wachstumsrate zu erhöhen, um auf diesem Wege den Frieden zu erhalten. Eine weitere Reaktion könnte sein, auf das Streben nach internationaler Macht zu verzichten. Holland tat dies nach 1680, Schweden nach 1721. Spanien war seit Mitte des 17. Jahrhunderts keine Großmacht mehr. Aber Verzicht ist den Vereinigten Staaten, Russland oder China nicht angemessen. Er sollte es auch nicht sein. Die europäische Strategie des Zusammenschlusses ist die richtige Antwort auf den Aufstieg eines Herausforderers. Sie besteht insbesondere in der Herausbildung neuer Wirtschaftsstaaten („econo-states“).

Die Akteure sind Wirtschaftsstaaten

Während der liberalen Periode im 19. Jahrhundert waren Staaten und Unternehmen hermetisch voneinander abgeschottete Einheiten. Staaten beschäftigten sich mit Politik, Unternehmen mit Wirtschaft. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts untergrub der Wohlfahrtsstaat diese Trennung. Er führte Elemente, die zuvor im Politischen angesiedelt waren, in die Volkswirtschaft ein. Gleichzeitig verhandeln nun Firmen nicht mehr nur mit anderen Firmen, sondern auch direkt mit Regierungen.

Eine private Firma (Halliburton) hilft der US-Regierung bei der Verwaltung des Iraks. Japanische Firmen unterstützen unmittelbar das US-Verteidigungsministerium durch die Bereitstellung von speziellen elektronischen Bauteilen. Zwei ausländische Hersteller (Boeing und Airbus) verhandeln direkt mit der chinesischen Regierung und nicht mit Firmen über neue Zivilflugzeuge. Offizielle Vertreter der chinesischen Regierung wenden sich direkt an General Motors, um Buicks für den Shanghaier Markt zu erhalten. Die Europäische Union – ein Zusammenschluss von Regierungen – ermittelt, ob Microsoft oder General Electric die Minimalbedingungen erfüllen, um in Europa tätig zu sein. Wenn nicht, werden Bedingungen für eine Fortsetzung der Marktpräsenz in Europa vereinbart.

Ausländische Direktinvestitionen, die zurzeit noch schneller wachsen als der Handel, verbinden zwei Länder, nicht nur Wirtschaftssysteme. Produktion, die ins Ausland verlagert wird, entfaltet eine Eigendynamik aufgrund der Beziehungen zwischen Staaten. Investitionen in ausländische Produktion hängen von guten politischen Verbindungen zwischen Gast- und Heimatland ab, wenn sie sowohl dauerhaft als auch profitabel sein sollen. Staaten und Unternehmen übertreffen sich gegenseitig in diesem Bestreben: Staatliche Beziehungen schaffen die Bedingungen für Investitionen, und Firmen bauen wirtschaftliche Beziehungen auf, die dann den Segen der Staaten erhalten. Firmen können Maßnahmen initiieren, die später zu engeren politischen Verbindungen führen können (wie im Falle der USA und Chinas). Wenn die Politik vorangeht und Staaten sich einander nähern, wird dies den Weg ebnen für wirtschaftliche Verbindungen zwischen Firmen. Initiativen mögen nicht immer ihr Ziel erreichen, aber sie werden vom zweiten Beteiligten auf einer Seite – seien es Regierungen oder Unternehmen – in der Regel fortgeführt und dann zum Erfolg gebracht. Ein solches alles umfassendes Netzwerk von Wirtschaftsstaaten („econo-states“) wächst in den wichtigsten Industrieregionen der Welt – aber nicht im Nahen und Mittleren Osten, und auch noch nicht in Afrika. Terrorismus hat in den meisten Regionen der Welt die Dichte globaler Verbindungen nicht reduziert.

Natürlich sind auch Zusammenschlüsse unvollständig. Firmen erwerben andere Firmen und stoßen einzelne Teile wieder ab. Unternehmen können sich in andere einkaufen ohne formelle Fusion. Staaten verbinden sich mit anderen Staaten in Freihandelszonen, aber sie geben in diesem Prozess ihre formale Souveränität nicht auf, selbst dann nicht, wenn sie eine gemeinsame Währung einführen. Und dort, wo es private wie öffentliche Netzwerke gibt, stärken sie ebenfalls die Entstehung von Wirtschaftsstaaten. Durch die Intensivierung politischer und ökonomischer Verflechtungen gewinnen Staaten an Bedeutung und Leistungskraft. Weitgehend unbemerkt werden staatliche Zusammenschlüsse und die Entstehung von Wirtschaftsstaaten zu einem immer wichtigeren Phänomen in der gegenwärtigen Weltpolitik.

Trotz ihrer Unvollständigkeit helfen politische Zusammenschlüsse von Staaten diesen, Herausforderungen von außen entgegenzutreten. Diese neuen Kooperationsformen sind viel stärker als die politischen Bündnisse der vergangenen Jahre. Die Zusammenschlüsse umfassen die ökonomischen Ressourcen, die jetzt politisch internationalisiert werden. Will ein ausländischer Herausforderer sich diese Ressourcen aneignen und erschließen, steht den mobilisierten Kräften des Angreifers ein Mobilisierungspotenzial des Verteidigers gegenüber, dessen Basis über den Verteidiger hinaus auch dessen Partner umfasst. Zusammengeschlossene Einheiten können sich auch auf zentrifugale Reaktionen verlassen, die einen Angreifer abschrecken.

Amerika gegen Europa?

Starke militärische Zusammenschlüsse tendieren zu einer zentrifugalen Entwicklung – zumindest solange sie nicht auch über politische Legitimation verfügen. Friedliche ökonomische Zusammenschlüsse führen zur zentripetalen Konzentration. Beide Methoden stehen auch für unterschiedliche Wachstumsstrategien. Amerikanische Interventionen an der Peripherie führen häufig zu nationalistischen Gegenreaktionen, die wiederum in Bürgerkriege münden können. Die europäische Macht dagegen zieht weitere Anhänger an. Amerikanische Interventionen haben letztlich den gegen diese selbst gerichteten Versuch zur Folge, wieder ein Mächtegleichgewicht herzustellen. Die europäische Erweiterung hat eine Umkehrung des Mächtegleichgewichts bewirkt. Die friedliche Integrationsmacht beginnt, andere Nationen anzuziehen. Darum ist die Strategie der Zusammenschlüsse das Modell der Zukunft.

Die Amerikaner haben die europäische Strategie als widersprüchlich heruntergespielt. Es gibt keine „gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ in Europa; stattdessen gibt es eine Vielzahl von Strategien und Reaktionen. Die Europäer stimmen nicht immer in ihrer Einschätzung der Außenwelt überein. Wenn Europas Stärke wächst, werden solche Unstimmigkeiten weniger ins Gewicht fallen und weniger Unterschiede hervorbringen. Wenn im Erwartungskalkül die Wahrscheinlichkeit einer gemeinsamen Antwort gering ist, wird das Ergebnis von der Macht abhängen, die in die Waagschale geworfen wird. Wenn Europa und Amerika sich wirtschaftlich gleichgewichtig gegenübertreten, wird alles von der Fähigkeit der USA abhängen, ihre Macht einzusetzen. Wenn aber Europa durch seine Erweiterung beginnt, die USA ökonomisch zu übertreffen, wird es schon eine große Rolle spielen, wenn der Einsatz der US-Macht etwas weniger wahrscheinlich wird. Darüber hinaus, wie Robert Mundell erklärt hat, gibt es keine natürliche Grenze der Europäischen Union.4 Deshalb gibt es einen Zeitpunkt, zu dem die europäische Strategie wünschenswerter wird als die amerikanische.

Wohl versuchen engagierte Europäer oft, der Erweiterung Grenzen zu ziehen. Zu viele neue Mitglieder bedeuteten, dass Europa seinen Zusammenhalt verliert. Manche wollen die Grenze schließen, bevor die Türkei beitritt; andere wollen das Schengen-Abkommen abschwächen. Aber es sind nicht die Zusammenschlüsse, die Europa schwerfällig machen, sondern nur die Entscheidungsprozesse. Wenn Einstimmigkeit bei allen Angelegenheiten erforderlich ist, kann ein größeres Europa niemals voll integriert sein. Aber die europäische Politik war immer von ihrer Anpassungsfähigkeit beseelt. Wenn weitere Mitglieder hinzukommen, muss eine qualifizierte Mehrheit üblich werden. Selbst ein Europa der 40 Staaten kann stark, effizient und leistungsfähig sein, wenn es qualifizierte Mehrheitsregelungen schafft. Die Probleme der Gegenwart werden wahrscheinlich nicht die Zukunft bestimmen.

Eine gemeinsame Strategie

Die Vereinigten Staaten haben bereits ansatzweise diese Möglichkeit begriffen und teilweise darauf reagiert durch die Bildung eigener Zusammenschlüsse. Die Nordamerikanische (NAFTA) und schließlich die Amerikanische Freihandelszone (FTAA) stellen einen amerikanischen Versuch dar, das europäische Vorbild nachzuahmen, allerdings ohne dessen Zusammenhalt zu erreichen. Umgekehrt wird Europas Schnelle Eingreiftruppe längst nicht Amerikas militärische Machtkonzentration und Logistik erreichen. Europa hat den Weg bereitet für den ökonomischen Zusammenschluss, Amerika für die Bündelung von militärischer Macht.

Wo Amerika die Zusammenarbeit mit Europa vernachlässigt, kann es in Übersee nur auf eine sehr gemischte Bilanz verweisen. Europa wächst weiter durch Zusammenschlüsse, aber die amerikanischen Versuche unilateraler Machtausdehnung sind größtenteils gescheitert. Darum ist der effektivste Weg für beide, ihre Strategien zu kombinieren und die euro-amerikanische Partnerschaft fortzusetzen. Die Vereinigten Staaten haben Europa nicht endgültig hinter sich gelassen. Amerika braucht Legitimation und Geld, und beides bekommt es von Europa.5 Europa wiederum braucht die militärische Stärke der USA. Während Interventionen im Ausland abnehmen werden, wachsen die Bedeutung und der Erfolg von Zusammenschlüssen. Die europäische Strategie wird die amerikanische zunehmend altmodisch aussehen lassen.

1 Vgl. Robert Kagan: Macht und Ohnmacht, Berlin 2003.

2 Vgl. Niall Ferguson: Colossus: The Rise and Fall of the American Empire, New York 2005 und Deepak Lal: In Praise of Empires, New York 2004. Im Gegensatz dazu Chalmers Johnson: Blowback, New York 2000 und Clyde Prestowitz: Rogue Nation, New York 2003.

3 Vgl. Dale Copeland: The Origins of Major War, Ithaca/London 2000.

4 Robert Mundell und Armand Clesse (Hrsg.): The Euro as a Stabilizer in the International Economic System, Boston 2000.

5 Vgl. Richard Rosecrance: Croesus and Caesar, in: The National Interest, Sommer 2003.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2005, S. 52 - 56

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