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01. Nov. 2018

„Europa braucht stärkere Antworten“

US-Expertin Cathryn Clüver Ashbrook über Außenpolitik unter Donald Trump

Donald Trumps Alleingänge, die USA auf dem Rückzug, das transatlantische Verhältnis für immer verändert: Deutschland und Europa müssten sich viel mehr gemeinsame strategische Optionen erschließen, fordert US-Expertin Cathryn Clüver Ashbrook. Investitionen in Koalitionen seien eine große Stärke – um Washington wieder auf Augenhöhe zu begegnen.

IP: Frau Clüver, wie und worin hat sich die US-Außenpolitik unter Donald Trump am meisten verändert?
Cathryn Clüver: Wir erleben einen klaren Bruch mit einem Wertekanon, der grundlegend war für die 70 Jahre Befriedung der westlichen Welt und für die Institutionen, die dieses internationale Gefüge aufrechterhalten haben. Diesem Kanon liegen die Werte der Demokratie, des Freihandels, die Menschen- und Freiheitsrechte zugrunde. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden diese Elemente zum ideologischen Gerüst der modernen amerikanischen Außenpolitik und lösten den Isolationismus ab, der seit den Gründungsjahren die Leitidee war. Mit Trump kehrt der isolationistische Tenor ins Weiße Haus zurück. Mehr noch, die Werte, die Institutionen werden aktiv in Abrede gestellt. Zunehmend ist es also „America Alone“ anstatt „America First“. Das ist der deutlichste Bruch mit der Grundphilosophie moderner US-Außenpolitik, die sieben Jahrzehnte lang kollektive Sicherheit und Wohlstand des Westens propagiert hat.

IP: Rund um den Globus wurden alle von Trump überrascht. Hätten die Europäer ihn vorhersehen können?
Clüver: Die Europäer haben den Kandidaten Trump zwar ernst, aber nicht beim Wort genommen. Viel zu lange hat sich Europa auf die „Erwachsenen“ im Kabinett Trump und auf die Stärke der amerikanischen Institutionen berufen. Hätten sie genauer hingeschaut, wären sie vermutlich schnell auf eine Anzeige in der New York Times gestoßen, für die der Privatmann Donald Trump 1987 beinahe 100 000 Dollar ausgegeben hatte, um schon damals seine außenpolitische Grundhaltung darzulegen – Amerika werde von anderen Ländern, gerade auch von internationalen Partnern, schamlos ausgenutzt. Diese Rhetorik findet sich in der Aufkündigung des Pariser Klimaschutzabkommens und in beiden UN-Reden wieder. Im Sommer 2017 haben der frühere nationale Sicherheitsberater H.R. McMaster und der ehemalige Leiter des nationalen Wirtschaftsrats Gary Cohn im Wall Street Journal die Welt als Arena beschrieben. Jeder gegen jeden, der eigene Vorteil ist der Leitgedanke. Wie sehr diese Ansichten Trump prägen, sehen wir in der Handelspolitik, den Absagen an Amerikas multilaterale Verpflichtungen vom Iran-Abkommen bis zu den Beiträgen für den UN-Menschenrechtsrat. Es gilt auch für die Art und Weise, wie er internationale Partner verunsichert, während er Diktatoren und Autokraten hofiert. Dazu kommen die Abwertung der EU und die Ankündigung, man wolle sich auf bilaterale Beziehungen konzentrieren sowie auf einzelne osteuropäische Länder. Das sollte in den Außenministerien Europas dringend zu verstärktem Nachdenken über strategische Optionen führen.

IP: Ist das einer der größten Brüche zur Obama-Administration?
Clüver: Ja. Obama hatte das deutlich formuliert. In einer sich ändernden Welt, in der Mächte wie Russland oder China im Aufschwung sind und die Führungsrolle Amerikas herausfordern, liegt der ganz große Vorteil der USA im Geflecht der Alliierten und Partner in der Welt. Amerikas Anziehungskraft wurde immer auch von militärischer und wirtschaftlicher Stärke unterstützt. Getragen aber wurde sie vom Wertekorsett, das Amerika in der Welt geformt hat und zur Hegemonialmacht hat werden lassen. Jetzt aber haben wir einen Präsidenten, der all diese sehr grundsätzlichen Strukturen infrage stellt. Das ist der eigentliche Bruch.

IP: Verfolgt Trump eine Strategie? Ordnet er die Dinge von einem durchdachten Ende her einem erwünschten Ergebnis zu? Oder handelt er ausschließlich situativ, spontan und impulsiv?
Clüver: Die Strategie zeichnet sich langsam, aber deutlich ab. Zu Beginn wirkten außenpolitische Entscheidungen impulsiv und kurzfristig, ja kurzsichtig. Besonders seit Trump Schlüsselressorts neu besetzt hat, erkennt man strategische Züge. Zum Beispiel zielt die US-Handels­politik immer mehr darauf ab, China international unter Druck zu setzen. Mit John Bolton als nationalem Sicherheitsberater hat sich Trump einen Falken an die Seite geholt, der nicht nur seine Vision unterstützt, anstatt sie auszubremsen, sondern diese auch umsetzen kann. Die jüngste UN-Rede, die Infragestellung der Welthandelsorganisation, des Internationalen Gerichtshofs, die aggressiven Töne gegenüber der iranischen Regierung – all das trägt Boltons Handschrift. Amerika wird sich auch in Zukunft immer weiter aus der multilateralen Führungsrolle herausziehen oder diese Institutionen aktiv unterminieren. Langfristig ignoriert diese Strategie aber wichtige Realitäten in den internationalen Beziehungen.

IP: Es gibt die Theorie, dass Trump etwa im Iran einen Militärschlag planen könnte, um von seinen miserablen Beliebtheitswerten daheim abzulenken und einen „Rally ‘round the flag effect“ zu erzielen. Andere sagen, Trump sei so unbeliebt, dass ihm dieser Effekt nicht gelingen werde. Wie bewerten Sie das?
Clüver: Ich halte das für unwahrscheinlich, trotz Trumps wirklich komplizierter innenpolitischer Situation zuhause. Er hat tatsächlich von Barack Obama gelernt. Auch dessen Außenpolitik hatte zum Ziel, möglichst nicht wieder langfristig amerikanisches Militär ins Ausland zu schicken, so wenig wie möglich „boots on the ground“ zu haben. Obama ist es nicht gelungen, die Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Nun kann auch Trump diesen Rückzug nicht garantieren. Er möchte sicher nicht derjenige sein, der US-Boys wieder in den Krieg schickt. Auch nicht im Iran. Sicher will Trump Teheran immer wieder aufscheuchen. Daher will er Irans regionalen Einfluss unterminieren, das Land als Erzfeind positionieren. Verteidigungsminister James Mattis will aber um jeden Preis einen weiteren militärischen Einsatz „seiner“ Truppen im Mittleren Osten verhindern. Wenn es Trumps Ziel wäre, innenpolitisch Rückhalt zu gewinnen, müsste viel mehr am Feindbild Iran gearbeitet werden, semantisch, rhetorisch, in der Presse, damit die Amerikaner das als Beschwörung ihres Zusammenhalts empfinden. Ich sehe nicht, dass dies von einer breiten Masse der Amerikaner getragen werden würde – im Gegenteil, es würde das Land noch mehr spalten.

IP: Was halten Sie für die beherrschenden Themen der US-Außenpolitik im nächsten Jahr, worauf müssen wir uns einstellen?
Clüver: Zunächst bleiben die kurzfristigen Krisenthemen wie die Nord­korea-Frage. Dass Trump eine Timeline für die Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel vom Tisch nimmt, wird dazu führen, dass Kim Jong-un immer wieder Stärke beweisen und schachern will. Dann bleibt Syrien als Thema ganz oben, Irans und Russlands Rolle dort. Moskau ist in der Region de facto der Königsmacher. Die Telefonnummer Wladimir Putins ist die, die regional jedes Land zuerst wählt, das über die regionalen Krisen oder die Befriedung der Region nachdenkt – nicht mehr die Nummer des Weißen Hauses. 2019 wird uns sehr beschäftigen, welche Auswirkungen dieses Nahost-Geflecht auf die Beziehungen mit der Türkei haben wird, mit dem Iran, mit Israel.

IP: Und wenn wir nach Europa schauen?
Clüver: Europa muss schneller stärkere und bessere Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit formulieren. Wie sieht eine integrierte, kohärente Strategie gegenüber China aus? Welche Folgen hat die Annäherung zwischen Russland und China? Die wirklich langfristigen Bedrohungen oder grundsätzliche geostrategische Fragen nach der Machtverteilung in der Welt, die müssen weiter im Dreieck Russland, China, USA beantwortet werden. Die EU wird zunehmend für ihre eigene Sicherheit sorgen müssen und sich zeitgleich inmitten dieser Eckpfeiler positionieren. Das ist strategisch eine wirklich große Herausforderung.

IP: Haben Sie einen Rat an die Bundesregierung, wie sie sich im so gründlich gewandelten transatlantischen Verhältnis verhalten sollte?
Clüver: Außenminister Heiko Maas hat ganz richtig darauf hingewiesen, dass man Multilateralismus neu denken muss. Ivo Daalder und James Lindsay vom Chicago Council haben seine Argumentation aufgegriffen. Sie haben kürzlich verlangt, eine neue G9 (Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien, die Rest-EU, Japan, Südkorea, Australien, Kanada) müsste in der Verteidigung demokratischer Werte und internationaler Institutionen sowie in der Handels­politik das Zepter von den USA übernehmen. Für Daalder und Lindsay müssten diese neun ihre Kooperation, zum Beispiel im Verteidigungsbereich, institutionalisieren, um auf die Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren. Der Bundesregierung würde ich empfehlen, ähnlich wie der Bundesminister es vorschlägt, sich flexibler in der Welt aufzustellen.

IP: Sind also neue Institutionen Teil der Lösung?
Clüver: Ich würde nicht raten, in den Aufbau neuer, bürokratisierter Institutionen zu investieren. Aber was Maas sagt, halte ich für schlüssig. Deutschland und seine europäischen Partner müssen sich – und das wäre für den bereits existierenden bürokratischen Apparat eine ziemliche Umstellung – so aufstellen, dass wir mit unterschiedlichen Partnern zu unterschiedlichen Problemen flexibel und schnell zusammenarbeiten können. Netzwerke spielen eine viel größere Rolle, und wir brauchen Handlungsspielraum. Das wird den deutschen Institutionen viel größere Flexibilität abverlangen.

IP: Was bedeutet das für die Außenpolitik Deutschlands?
Clüver: Es braucht ressortübergreifend größere Kooperation, viel mehr szenariengetriebene Vorausplanung. Die Art der Zusammenarbeit zwischen deutschen Ministerien und EU-Ebene müsste langsam, aber beharrlich vorangetrieben werden. Sie muss auch interinstitutionell mit den Kanadiern, Japanern und Australiern möglich sein. Hierfür bräuchte es eine nachhaltige Investition in eine neue strategische Kultur in Deutschland. Wenn man also über eine neue Institution nachdenken möchte, dann gegebenenfalls über einen formalisierten nationalen Sicherheitsrat im Kanzleramt, der in seinen Kapazitäten einem National Security Council der USA gleichen könnte. Insgesamt braucht Deutschland erweiterte Optionen, wenn die Führungsrolle der USA längerfristig ausbleibt.

IP: Wenn wir an eine Zeit nach Donald Trump denken – ist das transatlantische Verhältnis für immer verändert oder glauben Sie, dass es so etwas wie ein „Back to normal“ geben kann?
Clüver: Ein “Back to normal” würde ich mir gar nicht mehr wünschen. Das transatlantische Verhältnis hat sich schon seit der Präsidentschaft George W. Bushs verändert, der mit dem Irak-Krieg Europa aktiv zu spalten suchte. Oder denken Sie an die erste Obama-Administration, der die Hinwendung zu Asien („Pivot to Asia“) und der Neustart mit Russland („Reset with Russia“) bedeutend wichtiger waren als die Beziehungspflege mit europäischen ­Partnern. Erst die Annexion der Krim und Russlands feindliche Handlungen gegenüber ­NATO-Partnern veränderten die Lage rapide und führten zu einer Annäherung der Obama-Regierung mit Partnern in Europa, allen ­voran mit Angela Merkel.

IP: Also ist die Bedrohung der transatlantischen Beziehungen kein neues Problem?
Clüver: Nein. Wir haben uns lange nicht mehr gefragt, wie unsere gemeinsamen Werte eigentlich zu definieren sind. Wir hätten sonst vielleicht viel früher gesehen, wie weit sich die USA und Kontinentaleuropa schon voneinander entfernt haben. Wir sollten die jetzige Krise nicht verschwenden, sondern ihr pragmatisch ins Auge blicken. Jenseits des Weißen Hauses gibt es viele Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Ein neu zusammengesetzter Kongress wird allein in der Sanktionspolitik – Iran, Russland, Nordkorea – großen Einfluss haben und in den Budgetfragen der US-Außenpolitik Weichenstellungen vorgeben.

IP: Gibt es andere Möglichkeiten der transatlantischen Kooperation?
Clüver: Es gibt einige. Nehmen wir etwa im klimapolitischen Bereich Akteure wie Städte und Gemeinden oder auch ganze Bundesstaaten, die ja trotz der US-Absage an das Pariser Abkommen handlungsfähig sind. Einerseits muss Deutschland, muss Europa auf die Provokationen aus dem Weißen Haus zu reagieren wissen, andererseits die Beziehungen auf verschiedenen Ebenen ­reanimieren.

IP: Also gibt es keine bleibenden Schäden im transatlantischen Verhältnis, sondern nur Transformation?
Clüver: Man soll die Schäden nicht negieren. Die ersten zwei Jahre Trump haben gezeigt, dass man sich nicht auf das verlassen kann, was gemeinsam geschaffen wurde. Trotzdem müssen wir immer weiter nach vorne schauen, immer mehr voneinander lernen. Die Europäer müssen dringend bei sich zuhause anfangen. Fortschritte wie in der gemeinsamen EU-Verteidigungspolitik, zum Beispiel permanente, strukturierte Kooperation in EU-Verteidigungsfragen, sind wichtig. Europa muss von innen heraus resilienter werden, einem Weißen Haus unter Trump mit Stärke entgegentreten. Egal, wer der nächste US-Präsident ist, das wird von Vorteil sein.

IP: Was wäre Ihr Wunsch für die Zukunft der Beziehungen?
Clüver: Wenn nachhaltig in europäische Koalitionen investiert wird, auf militärischer Ebene oder auch auf der Ebene der Handelsabkommen wie mit Japan oder Kanada, könnte längerfristig aus den Realitäten, die Europa als Schwäche ausgelegt wurden, eine Stärke entstehen. Damit könnte man den USA wieder auf Augenhöhe begegnen. Europas Führungselite muss dafür dringend den nötigen politischen Willen und die Ressourcen aufbringen. Angesichts der Weltlage hängt die Zukunft des Westens davon ab.

Cathryn Clüver Ashbrook ist Gründungsgeschäftsführerin des „Future of Diplomacy“-Projekts an der Harvard Kennedy School in Cambridge, Massachusetts. Die Deutsch-Amerikanerin ist Expertin für transatlantische Beziehungen.

Das Interview führte Martin Bialecki.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November-Dezember 2018, S. 27-31

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