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01. Jan. 2002

Europa am Scheideweg

Noch hat der Unionsbürger Mühe, sich mit dem vielgesichtigen Gebilde „Europäische Union“ zu identifizieren. Der Kitt gemeinschaftlichen Handelns ist seit dem 11. September brüchig geworden; die bevorstehende Erweiterung ruft zwiespältige Gefühle hervor. Europa muss sich nach vorn, in Richtung einer in zentralen Handlungsbereichen gestärkten Union bewegen.

Es war – Irrtum vorbehalten – Erich Kästner, der nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ resignierend und doppeldeutig meinte, „mit den Deutschen sei kein Staat zu machen“. Er hat sich – glücklicherweise – geirrt. Eher könnte seine Feststellung auf die Europäer von heute zutreffen. Denn spätestens seit dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000 mehren sich Zeichen und Zweifel, ob denn mit diesen Europäern und ihren im nationalen Denken verhafteten Staaten gemeinsam ein  zukunftsträchtiges und wirkungskräftiges Europa zu machen sei. Selbst die in Maastricht vor nunmehr fast zehn Jahren zur Europäischen Union hochgehievte Europäische Gemeinschaft ist hinter dem zurückgeblieben, was der erste Kommissionspräsident Walter Hallstein als „unvollendeten Bundesstaat“ bezeichnet hat. Die Union bleibt, allen unzähligen Reformansätzen und Gipfeltreffen zum  Trotz, nach wie vor ein Torso auf der Suche nach innerem Zusammenhalt und äußerer Wirkungskraft.

Man braucht nicht überzeugter Europäer zu sein und auch nicht die vielen Leistungsbeweise der Union zu unterschätzen, um ein solches doppeltes Ungenügen zu bedauern. Dies um so weniger, als die Union – jedenfalls im üblichen diplomatischen Diskurs – von der Umwelt als ein handlungsfähiger und damit ernst zu nehmender Akteur auf der internationalen Bühne gesehen wird – und sich auch als solcher da und dort wirkungsvoll benimmt. „Europa“, wie immer auch definiert, mag zwar – um die überanstrengte Feststellung Henry Kissingers nochmals zu bemühen – über keine gemeinsame Telefonnummer verfügen. Es besitzt aber immerhin eine gemeinsame Adresse namens Brüssel. Das wissen zumindest alle jene, die der Europäischen Union beitreten oder etwas von ihr haben wollen.

Nur eben: eine Adresse, bei der sich vielerlei Institutionen, Räte, Kommissionen, ein Parlament und neuerdings auch sicherheitspolitische Gremien zusammenfinden, reicht als Bindemittel für Entschlussfähigkeit und Machtpräsenz nicht aus. Solange dies  so bleibt, hat der Unionsbürger Mühe, sich mit diesem vielgesichtigen Gebilde zu identifizieren. Es ist auch nicht kohärent genug, um außenpolitische Einzelsprünge oder Profilierungsversuche im Zaum zu halten. Die Neigung zu letzteren wächst – fast paradoxerweise – in Krisenzeiten. Der Kitt gemeinschaftlichen Handelns löst sich dann fast über Nacht; die zentrifugalen Kräfte erwachen zu neuem Leben. Sie suchen ihren Weg entweder im Alleingang oder, wo diesem institutionelle oder Sachzwänge entgegenstehen, in intergouvernementaler Abstimmung, meist unter Zuhilfenahme des kleinsten gemeinsamen Nenners.

Rückkehr zum Intergouvernementalismus

Wenn es noch eines Beweises für solcherlei Neigungen bedurft hätte, dann haben ihn die durch die Erschütterung des 11.September 2001 ausgelösten Nachwirkungen geliefert. Die Europäische Union, so scheint es jedenfalls dem außenstehenden Beobachter, ist in den schwierigen Tagen und Wochen nach den Terroranschlägen auf New York und Washington und dem dadurch ausgelösten „Krieg gegen den Terrorismus“ nicht stärker zusammengeschweißt worden. Natürlich hat sie sich mit den Vereinigten Staaten solidarisch erklärt. Dies wurde jedoch übertönt von einem nationalen Vielklang, in dem zumal große Mitgliedstaaten den Ton angaben. Im Gefolge dieser dramatischen Ereignisse ist die Union also nicht gleichermaßen über sich selbst hinausgewachsen.

Sie hätte dies in ihrer derzeitigen Verfassung möglicherweise auch gar nicht vermocht. Trotz des hoffnungsvollen Auftakts in Helsinki 1999 wurde schrittweise der Weg zurück in die vertraute Umgebung der nationalen Hauptstädte gesucht. Der europäische Gipfel von Nizza hat dann die Entwicklung in vielem überdeutlich markiert. Mit seiner unglückseligen Auf- und Verschlüsselung von dringlich erforderlichen Mehrheitsentscheidungen und einer nur leicht abgeschwächten linearen Zuwachsrate der Kommission wurde er für viele zum Symbol oder sogar zum Warnzeichen dafür, dass auf diese Weise eben „kein Staat mit Europa“ zu machen sei .

Wo „Nizza“ gleichermaßen von innen heraus zur Bremskraft wurde, hat der von Washington geführte Kampf gegen den „internationalen Terrorismus“ großen Mitgliedstaaten die Gelegenheit zur außenpolitischen Markierung ihrer Solidarität und Kampfbereitschaft geliefert. Für sie schien jedenfalls die Versuchung fast unwiderstehlich, auf der weltpolitischen Bühne entweder verloren geglaubtes Prestige aufzupolieren oder der amerikanischen Führungsmacht zu zeigen, dass man nicht nur solidarisch mit ihr, sondern auch durchaus selbst eigenwichtig ist.

Symbolhaft für solche glücklicherweise eher kurzatmigen Aktionen steht das vom britischen Premierminister Tony Blair impromptuhaft einberufene „kleine Gipfeltreffen“ Anfang November in London. Von eingeladenen wie erst recht von nicht eingeladenen EU-Staaten wurde dieses – übrigens ergebnisarme – Gespräch sicher zu Recht als „schlechter Präzedenzfall“ qualifiziert. Es entspricht jedenfalls – wenn nicht dem Buchstaben, so doch dem Sinn und Geiste nach – der institutionell und personell abgestützten „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ der Europäischen Union (GASP). Wo es, wie viele Beobachter glauben, um die Bewältigung einer weltumspannenden Bedrohung – den Kampf gegen die vielköpfige Hydra des Terrorismus – und der mit ihr verbundenen Gefährdungen nationaler, internationaler und gesellschaftlicher Sicherheit geht, stellt sich auch für die EU die Frage, ob sie dies gleichermaßen im nationalen Alleingang oder in konzertierter Abstimmung mit Hilfe gemeinschaftlicher Institutionen tun will. Diese Entscheidung, so scheint es derzeit, steht jenseits weitgehend unverbindlicher Erklärungen vorderhand noch aus.

Soweit jedenfalls der Blick zurück im „gedämpften Zorn“ auf jüngste Unionstendenzen und neuerwachte Ungewissheiten. Ein solcher Blick kann ja auch eine klärende Wirkung zeitigen, wenn es darum geht, die Ursachen und Folgen der hier angezeigten zentrifugalen oder, neutraler formuliert, intergouvernementalen Verlockungen zu untersuchen. Denn wenn die letzten Monate des ersten Jahres des 21. Jahrhunderts etwas überdeutlich gezeigt haben, dann sicher die Notwendigkeit einer politisch-institutionellen Einhegung der ordnungs- und sozialpolitisch aus dem Ruder laufenden wirtschaftlich-technologischen Globalisierung.

Einhegung der Globalisierung

Spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges mit seiner – an sich begrüßenswerten – Auflösung einer durch nukleare Abschreckung disziplinierten bipolaren „Ordnung“ befindet sich die internationale Gemeinschaft auf der Suche nach politisch konstitutiven und sozial verträglichen Strukturen. Sie sieht sich damit doppelt gefordert. Mit dem Verlangen nach vermehrter Mitsprache von Seiten der ehemals „Dritten Welt“ verbindet sich immer lautstarker jenes der sich zumal in nichtstaatlichen Organisationen artikulierenden Zivilgesellschaft.

In eben diesem noch weitgehend konturlosen und institutionell schwachbrüstigen Umfeld nimmt die Europäische Union eine in ihrer Art einmalige Stellung ein. In ihr vereint sich – jedenfalls potenziell und ausbaufähig – nämlich beides:  zwischenstaatliche, von gemeinsamen Rechtsnormen legitimierte und abgesicherte Institutionen auf der einen, eine demokratisch konstituierte Bürgerschaft in den Mitgliedstaaten auf der andern Seite . Zusammen belegen sie einmal das aus diesem Doppelgespann zu schöpfende Potenzial, zum andern spitzt sich im Gefolge der Septemberkrise die Frage zu, wie sich die hieraus abzuleitende Stärkung der Europäischen Union als Sicherheits- oder gar Schicksalsgemeinschaft mit dem nicht minder verständlichen Wunsch nach größerer Bürgernähe und Mitsprache vereinbaren lässt.

Das eine muss das andere nicht ausschließen. Aber es weist auf die Schwierigkeit hin, diesen anspruchsvollen Spagat zwischen dem EU-Brüssel und dem EU-Bürger und seiner unmittelbaren Heimat fruchtbar zu instrumentalisieren. Aus dieser sich mehr ergänzenden als widersprechenden Gegenüberstellung formiert sich die für die künftige Gestalt und Gestaltung der Europäischen Union zentrale Frage nach dem bestmöglichen Gleichgewicht zwischen sachentsprechender und damit eben auch außen- und sicherheitspolitisch gebotener Effizienz und möglichst bürgernaher und damit innen- und sozialpolitisch geforderter Akzeptanz.

Anspruch und Wirklichkeit der EU

Es hätte der terroristisch ausgelösten Erschütterungen nicht bedurft, um die überaus anspruchsvollen Herausforderungen zu verdeutlichen, denen sich die Union in ihrem äußeren Umfeld gegenüber sieht. Man kann sie recht eigentlich als Ordnungsaufgaben bezeichnen. Die erste betrifft die Fortführung und schließlich die Meisterung des wahrhaft ehrgeizigen Erweiterungsprozesses. Von einer primär auf Versöhnung und Wiederaufbau nach dem Krieg ausgerichteten Sechsergemeinschaft will sich die Union zu einer beinahe gesamteuropäischen Ordnungsmacht entwickeln und die dafür notwendigen institutionellen Verantwortungsträger schaffen. Das bedeutet im Klartext ein vertragsmäßig verankertes Verbundsystem mit über zwei Dutzend in sich sehr unterschiedlich strukturierten Ländern.

Das Vorhaben ist in Anspruch und Wirkung und nicht zuletzt in seinem Zeitplan einmalig. Es strebt als Ziel eine möglichst kontinentübergreifende Friedensordnung an. In ihr sollen sich auf vielerlei Ebenen sehr handfeste Interessen zu einer quasi säkularen Finalität verdichten. Diese unterscheidet sich damit in der Substanz von jener der dem Kriege entronnenen europäischen Föderalisten. Deren Vorstellung von einem geeinten Europa wurde von einem emotional geprägten Idealismus bewegt. Heute ist man in punkto Zielrichtung ungleich nüchtern-pragmatischer. Das Europa von morgen – entgrenzt im Innern und begrenzt nach außen – wird primär als „Stabilitätsraum“1 mit geteiltem Wohlstand und ungeteilter Freizügigkeit gesehen.

Eine derartig weitausgreifende, gleichermaßen innerweltlich-pragmatische Zielrichtung und Erfassungsstrategie kann nur tragfähig bleiben, wenn sie nach außen hin Glaubwürdigkeit und Nachhaltigkeit verspricht und dann von den Unionsbürgern zu Hause mitgetragen wird. Jenseits des ambitiösen Erweiterungsprozesses2 finden sich für beides entsprechende Härtetests in drei Richtungen – im Mittelmeer und Nahen Osten; gegenüber Russland als Zentrum der zaristisch-sowjetischen Erbmasse, und gegenüber dem Bündnispartner Vereinigte Staaten.

In allen drei partnerschaftlich konzipierten Bereichen hat die EU zu verstehen gegeben, dass sie als außen- und sicherheitspolitisch zumindest mitverantwortlicher und konstruktiver Akteur gelten und handeln will. Das bedeutet gegenüber den drei Ansprechpartnern jeweils unterschiedliche Akzentsetzungen und Inhalt:

–   im Mittelmeer-Raum und speziell im Nahen Osten gilt es, durch entsprechendes politisches Gewicht und Leistungsvermögen innere Reformen hier, den Friedensprozess da zu fördern;

–gegenüber Russland und nun auch darüber hinaus im Nordkaukasus und in Zentralasien müssen erweiterte Formen von Zusammenarbeit und Präsenz entwickelt werden, die die sehr unterschiedlich gediehenen Reformen hier voran- und dort antreiben;

–der amerikanische Partner schließlich ist durch ein eigenes sicherheitspolitisches Stehvermögen davon zu überzeugen, dass ein Bündnis auf zwei Beinen besser und arbeitsteiliger funktionieren kann als auf einem.

Man tut den vielerlei Besuchen und Interventionen von Präsidenten, EU-Emissären und Außenministern kein Unrecht mit der Feststellung, dass – jenseits stets willkommener Finanzhilfe – ihren bisherigen Reform- und Vermittlungsbemühungen wenig Erfolg und keine Dauer beschieden waren. Der 1995 mit so viel Erwartungen aus der Taufe gehobene Barcelona-Prozess erweist sich damit hüben wie drüben als politisch und konzeptionell überholungs-, die Nahost-Intervention der EU zudem als strategisch ergänzungsbedürftig. Das eine wie das andere erklärt sich gewiss aus der Komplexität der hier anstehenden Aufgaben. Aber eben nicht nur, denn zumal beim Bemühen um eine friedensstiftende Einflussnahme im israelisch-palästinensischen Konflikt mangelt es der Union an jenem Machtpotenzial, in dem sich Dauerhaftigkeit, Verhandlungsstärke und notfalls handfestes Durchsetzungsvermögen zu einem Ganzen verbinden.

Anders stellen sich die Beziehungen einerseits zu Russland, andererseits zu jenen Regionen dar, die Moskau im Hochgefühl seiner Vergangenheit bis vor wenigen Jahren noch als „nahes Ausland“ bezeichnete. Zur Zeit hat es den Anschein, als ob sich Russland und sein Präsident Wladimir Putin zumal nach dem Schock des 11. September zu einer Öffnung Richtung Westen entschieden hätten. Wie dauerhaft und weit reichend eine solche Öffnung sein kann und darf, hängt zunächst von Russland selbst  ab. Aber der Westen, Amerika und die EU zuvorderst, ist ebenfalls gefordert. Die Allianz hat Anfang Dezember einen weiteren Schritt in Richtung engerer Zusammenarbeit getan. Die EU wird ihn in Richtung nichtmilitärischer, vor allem wirtschaftlicher und energiepolitischer Zusammenarbeit ergänzen und über Russland hinaus erweitern müssen. Hier könnten sich die Grenzen eines oft nur locker abgestimmten zwischenstaatlichen Zusammengehens intergouvernementaler Politik sehr schnell zeigen. Gefordert ist – um es auch im Blick auf die transatlantischen Beziehungen festzuhalten – eine in sich kohärente, das heißt konzertierte, auf einen gemeinsamen Nenner gebrachte Politik des langen Atems und der Klarheit darüber, welchen Stellenwert die Union in diesem für sie geopolitisch zentralen Umfeld dauerhaft einnehmen und für sich und ihre eigene Sicherheit und Stabilität nutzbar machen will.

Der Riese USA

Gegenüber keinem Partner ist eine solche Klärung von Standort und Zielvorgabe wichtiger als gegenüber den Vereinigten Staaten. Jenseits aller vielgelobten Solidarität mit diesem schwergewichtigen Verbündeten zeichnen sich in den strategisch-militärischen, den wirtschaftlich-monetären und den wissenschaftlich-kulturellen Bereichen Strömungen und Entwicklungen ab, die das euro-amerikanische Einvernehmen in vielfacher Weise beeinflussen, möglicherweise da und dort kritisch belasten könnten. Das fängt bei der in Afghanistan einmal mehr überdeutlich demonstrierten und sich erweiternden militärtechnischen Dominanz der Amerikaner an. Es setzt sich fort bei deren immer wieder erstaunlichen wirtschaftlich-sozialen Reformfähigkeit. Es endet – vorläufig – in der bislang nicht überzeugend widerlegten Neigung Washingtons zu einem selektiven internationalen „Multilateralismus à la carte“. In einem national begrenzen Alleingang oder einer von Fall zu Fall jeweils mühsam zurechtgezimmerten GASP werden Herausforderungen dieser Dimension bestenfalls nur in Ausnahmefällen, auf die Dauer aber kaum zu bestehen sein.

Bürger als Partner

Die Wahl zwischen einem meist kurzlebigen, weil politisch selten nachhaltigen Zugewinn an nationalem Prestige und einer ernst zu nehmenden, weil gemeinschaftlich getragenen Einflussnahme wird letztlich von der Zustimmung und Unterstützung bestimmt, die sie in den EU-Staaten selbst und deren Bevölkerung finden. Die hier angedeuteten außenpolitischen Eskapaden und Solonummern sind, genauer besehen, Ausdruck einer nicht immer unberechtigten Skepsis gegenüber Effizienz und Entschlusskraft der Unionsinstanzen. Sie spiegeln zugleich eine seit längerem sich verdeutlichende Tendenz wider – eben jener in Richtung einer medial eingängigen Betonung nationalstaatlicher Selbstbestätigung oder staatsbürgerlicher Identifikationsbedürfnisse.

Dies ist keineswegs nur kritisch gemeint, denn es weist unmissverständlich auf die Zwitterstellung der Union hin. Diese muss sich in einem noch vielfach unvermessenen Gefilde bewegen, in dem die Konturen zwischen ihrer Aufgabe als überstaatliche Ordnungsinstanz und leistungsbegrenzter Halbstaatlichkeit unscharf bleiben. Sie macht es damit den Mitgliedstaaten leicht, dann und wann auf Distanz zu gehen – und den Unionsbürgern schwer, sich mit ihr voll zu identifizieren. Das Letztere beweist die rückläufige Beteiligung an den Wahlen in das nur begrenzt zuständige Europäische Parlament.

Vieles deutet darauf hin, dass einmal die bevorstehende Erweiterung der Union und zum andern das vielen unheimliche Phänomen der wirtschaftlich-technologischen Globalisierung diese zwiespältigen Gefühle in Sachen europäische Einigung vertiefen können. In ihnen spiegelt sich gewiss auch die Erkenntnis von der Notwendigkeit einer stärkeren politisch-rechtlichen Einbindung und Kontrolle dieser Globalisierung mit ihren sozialen Auswirkungen, wenn  nicht gar Auswüchsen wider. Andererseits wächst vielerorts die Skepsis darüber, ob die Union in ihrer derzeitigen unfertigen Verfassung die Gewähr zu bieten vermag, den ihr zugehörigen Staaten, Regionen und Ländern bis hin zu den Bürgern hinreichend Schutz und Sicherheit vor derartigen neuen Herausforderungen zu bieten.

In solchen Fragen oder Zweifeln manifestiert sich ein Vertrauensverlust oder Unbehagen. Ihr erster Adressat ist – ungerechterweise? – die Europäische Union mit ihren Brüsseler Institutionen. An Gründen fehlt es nicht. Sie reichen, wahrlich nicht überraschend, von der Landwirtschaftspolitik und den hier und anderswo zu verteilenden Subventionen bis hin zur Forderung nach einer Neugewichtung zwischen EU, Ländern bzw. Regionen –Letzteres ein zumal in der Bundesrepublik wiederbelebtes Anliegen – und schließlich der Bürgerschaft selbst. Bei ihr zumal melden sich verstärkt Vorbehalte oder Wünsche gegenüber einem als zu stark zentralistisch, damit bürokratisch und bürgerfremd empfundenen „Europa“. Die Art und Weise, wie die Einführung des Euro beschlossen und durchgesetzt wurde, dient – wohl zu Recht – als abschreckendes Beispiel. Sie erfolgte über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg, war also aus deren Sicht eindeutig „fremdbestimmt“.3

Es ist diese Art von Unbehagen, die das europäische Stimmungsbaro-meter nach unten sinken lässt. Sie fördert die nie erloschene Versuchung zur Rückkehr in vertraute und überschaubare Größenordnungen. Das kann der oft ungeliebte Nationalstaat sein, mit dem sich abzufinden man seit langem gelernt hat: er bleibt bis auf weiteres die zwar unionseingebundene, aber letztlich immer noch richtungweisende Referenz. Das dies noch so ist, fällt auch in die Verantwortung der übergeordneten Union mit ihren oft mühseligen, wenn nicht gar bemühenden Richtungskämpfen. Bei einer sich so verdünnenden Vertrauensdecke darf sich der Europäische Rat Gipfelkonferenzen im Stile von Nizza nicht mehr leisten.

Welches Europa?

Dies kann nur bedeuten, dass „Nizza“ nicht sakrosankt sein darf. Der Druck zum Nachbessern und schließlich zu neuen Ansätzen kommt von mehreren Seiten: von außen, wo es um zentrale Belange von Sicherheit und einer politisch-institutionellen Einhegung der Globalisierungseffekte geht; von den Regionen, wo es um finanziellen Ausgleich und die Erhaltung gewachsener politisch-kultureller Strukturen geht; und endlich von den neu hinzukommenden Mitgliedern, die ein Recht darauf haben zu wissen, in welche Art von Union sie eintreten.

Ein solch mehrfacher Ordnungsdruck wird die Union an den entscheidenden Scheideweg führen, von dem aus der Weg entweder zurück zu einem neubelebten Intergouvernementalismus oder nach vorn in Richtung einer in zentralen Handlungsbereichen gestärkten Europäischen Union weist. Das Erstere würde einer Art von Repatriierung von Unionskompetenzen gleichkommen,4 das Letztere zumal zu einer Stärkung vor allem der Kommission führen.5 Zuversichtliche Optimisten mögen eine Art Mittelweg einschlagen im Zeichen dessen, was in der französischen Politik als „Cohabitation“ mehr oder weniger überzeugend praktiziert wird. Gemeint ist damit eine Zuteilung von Sachbereichen, die einerseits nur die Union gemeinsam bewältigen kann, andererseits all dasjenige, was Europa in seiner Verschiedenheit und Eigenart so reich macht, den Mitgliedstaaten, ihren Regionen oder Ländern überlassen bleibt.

Zum Ersteren muss zusätzlich zum „acquis communautaire“, also den bereits zugesprochenen Bereichen, die Außen- und Sicherheitspolitik gehören. Dies kann, will die Union als Akteur strategisch nachhaltig und politisch glaubwürdig sein, nur mittels einer institutionell gefestigten und personell hinreichend ausgestatteten Instanz erreicht werden. Dies verweist direkt auf die Kommission, zumal wenn es der Union mit der ihr neu zugewiesenen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ernst ist. Zum anderen Teil der „Cohabitation“ muss – gerade im Zeichen einer alles uniformierenden „Globalisierung“ – das jeweils  lokal, regional oder national Gewachsene und Verbindende, kurz: die eigentliche Heimat gehören, aus der heraus Europas Vielfalt wächst.6

Aus dieser bestimmt nicht einfach zu komponierenden Mischung sollte sich eine nachhaltigere Akzeptanz der Europäischen Union im Innern und eine überzeugendere Handlungsfähigkeit nach außen entwickeln lassen. Der Zwang zur Stärkung von beidem kommt in jedem Fall sowohl von einer ordnungsbedürftigen Außenwelt wie von einer nach zusätzlichen Gewissheiten suchenden Gesellschaft. Man möchte hoffen, dass der auf dem Gipfel von Laeken eingesetzte Konvent mit seinen Vorschlägen gerade diese beiden Dimensionen zu einer bindenden Verpflichtungen für die Gestaltung der europäischen Ordnung von morgen zu machen versteht. Europas Bürger haben ein Recht darauf zu wissen, in welchem Europa sie im neuen Jahrhundert leben werden.

Anmerkungen

1  Vgl. Werner Weidenfeld, Erweiterung ohne Ende? Europa als Stabilitätsraum strukturieren, in: Internationale Politik, 8/2000, S. 1–10.

2  Vgl. hierzu auch den Beitrag von Andras Inotai, S. xxx–xxx.

3  Vgl. Wolfgang Clement, Eine neue Architektur für das Haus Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 16.11.2001.

4  Vgl. The latest battle for the continent’s shape, in:The Economist, 8.12.2001, S. 31.

5  Vgl. Peter Hort, Die EU-Kommission muss stark sein, in: FAZ, 23.11.2001.

6  Vgl. Va1éry Giscard d’Estaing, Entretien. Mémoire Vivante, Paris 2001.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januaer 2002, S. 1 - 8.

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