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01. Mai 2019

Europa 2040 - Kontinent der Wahl

Von Almut Möller

Ein ganz normaler Tag im „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“

Brüssel, an einem Frühlingstag im Mai 2040. Marie Épinard ist verdrießlich. Vor wenigen Monaten ist die Französin, deren Karriere einst als „junge Wilde“ im Beraterteam des damaligen Präsidenten Emmanuel Macron begann, ins Berlaymont am Rond-Point Schuman eingezogen. Als Präsidentin der Europäischen Kommission sieht sie sich der Tradition ihres Landsmanns Jacques Delors verpflichtet.
Mit Elan ist sie angetreten, die Dynamik des Binnenmarkts als Kernstück des Gemeinsamen unter dem Dach der Europäischen Union zu sichern. Denn inzwischen ist unter diesem Dach allerlei los. Den gemeinsamen Rechtsbestand, die „Union der Gleichen“, hatte es zwar schon seit den 1990er Jahren nicht wirklich gegeben – mit dem Euro und dem Schengen-Raum entwickelten sich sogar zwei große Felder der Differenzierung. Dennoch war die Erzählung der EU von sich selbst lange eine der Einheitlichkeit.
Aber seit einigen Jahren hatte sich die Differenzierung weg von einem Instrument zur Überwindung von Blockaden hin zum aktiven Gestaltungsprinzip in der EU entwickelt – mit einer Reihe von institutionellen Folgen, die das Zusammenspiel in Brüssel verändert hatte. Paris war hier seinerzeit eine der treibenden Kräfte. Das Einstimmigkeitsprinzip in vielen Feldern, die eigentlich gemeinsames Handeln erfordern, und die ständigen Blockaden aufgrund von Einzelinteressen hatten Gruppen von Mitgliedstaaten schließlich den Stier bei den Hörnern packen lassen. Und die schritten dann in so unterschiedlichen Feldern wie der Kooperation der Polizei und Nachrichtendienste, der Verteidigungspolitik, der Technologie- oder der Steuerpolitik voran.
Eine der wichtigsten Aufgaben von Épinard ist es aufzupassen, dass dies im Rahmen der EU-Verträge mit gemeinsam vereinbarten Rechten und Pflichten geschieht – und offen für alle ist, die sich später anschließen wollen. Zwar gibt es inzwischen wieder so etwas wie einen Common Sense unter den EU-Staaten, wie solche Formen der Zusammenarbeit gemeinwohlverträglich ablaufen können. Und das immerhin ist eine bemerkenswerte Entwicklung, nachdem sich lange Jahre die mentalen Karten in Bezug auf die EU in den Mitgliedstaaten immer weiter auseinanderbewegt hatten. Die Erfahrung eigener Schwäche im Angesicht eines immer aggressiveren globalen Umfelds hatte ihre Wirkung nicht verfehlt.
Inzwischen gibt es so etwas wie einen Burgfrieden in der EU: Alle betreiben einen möglichst ambitionierten Binnenmarkt – und einige machen halt noch mehr. Zu viele verschiedene Stränge, die möglicherweise unverbunden nebeneinander stehen, bergen aber das Risiko der Zerfaserung. Differenzierung geht auf Kosten von Transparenz – und vor allem auch auf Kosten der Bürger. Inzwischen sind nämlich als Folge der unterschiedlichen Geschwindigkeiten auch die Rechte und Vorzüge, die die EU-Europäer genießen, alles andere als gleich, was regelmäßig politische Sprengkraft entwickelt.
In der Konsequenz verbringt die Präsidentin der EU-Kommission viel Zeit damit, die Gutachten ihrer juristischen Berater über die Frage zu verdauen, wie viel Ungleichzeitigkeit eine Union vertragen kann, um sich noch als solche bezeichnen zu können. Heute morgen war mal wieder ein großer Schwung unterschiedlicher Meinungen dazu auf dem Tisch, wann der Punkt erreicht sei, wo konkurrierende Systeme unter einem gemeinsamen Dach nicht mehr sinnvoll sind. Épinard hätte ja selbst gern ein „Bierdeckelmodell“ für die EU. Aber heutzutage muss man schon mal weiter ausholen.

Europa rückt zusammen

Da ist zunächst also der Binnenmarkt, der allen Mitgliedern der EU offensteht, die sich zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bekennen. „Big is beautiful“ ist hier seit den 2020er Jahren die Parole. Der immer aggressiver werdende Wettbewerb zwischen den USA und China und der Aufstieg anderer Mächte und Regionen haben die Europäer letztlich näher zusammenrücken und sogar Fortschritte in allen vier Grundfreiheiten (Waren, Personen, Dienstleistungen, Kapital- und Zahlungsverkehr) erzielen lassen.
Auch die Briten haben nach ihrem Austritt aus der EU schließlich über die Jahre wieder zu einer engen Anbindung an den Binnenmarkt gefunden und den „Circle of friends“ in Nicht-EU-Europa mit ihrem Gewicht gestärkt. Der Westliche Balkan ist, unterstützt durch einen bewussten Kraftakt der EU-Länder, nun Teil des Binnenmarkts. Europas integrationsskeptische Regierungen haben schließlich akzeptiert, dass der Binnenmarkt nicht ohne starke supranationale Institutionen funktionieren kann. Und die Aussicht, die Kriterien für eine Mitgliedschaft im Binnenmarkt nicht mehr zu erfüllen, diszipliniert auch die politischen Kräfte in Europa, die begonnen haben, sich in ihren Ländern von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verabschieden. Das alles stärkt die Gemeinschaftsinstitutionen, allen voran die Europäische Kommission. Die kann ihre wiedergewonnene Stärke im Binnenmarkt auch dazu nutzen, der EU in der konflikt- und chancenreichen internationalen Handelspolitik Schlagkraft zu verleihen.
Der Weg dahin war lang. Die Europäer hatten es über viele Jahre nicht geschafft, die tiefen Gräben zu schließen, die sich zum einen zwischen den Verfechtern von „mehr Europa“ und den Anhängern der nationalen Souveränität aufgetan hatten und die zum anderen grundsätzliche Fragen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit betrafen. Erst nach dem Brexit im Jahr 2019, der zwar in letzter Minute in einem ordentlichen Verfahren verlief, aber die wirtschaftlichen Interessen von London und den EU-Hauptstädten empfindlich traf, wurde den EU-Europäern bewusst, wie stark sie tatsächlich an innerem Zusammenhalt verloren hatten: wirtschaftlich, sozial, kulturell.
Das zeigten auch die Europawahlen, die noch im selben Jahr eine deutliche Stärkung nationalistischer Kräfte im Europäischen Parlament brachten. Deren Gestaltungsmacht blieb zwar mit weniger als einem Drittel der Sitze und geringen gemeinsamen Schnittmengen begrenzt. Aber ihre wiederholten taktischen Allianzen erhöhten das Störpotenzial für das EU-System empfindlich.
Hinzu kam die Abkühlung der globalen Konjunktur, deren Auswirkungen in der EU deutlich zu spüren waren, auch in Deutschland. Die Eurozone, deren Architektur noch immer nicht vollendet war, zeigte erneut ihre innere Schwäche. In Rom spielte Matteo Salvini, inzwischen italienischer Ministerpräsident, mit dem Feuer: ein Austritt aus der Währungsunion komme nicht infrage, vielmehr wolle Italien ihre Regeln von innen verändern.

Neue Nüchternheit

Für den Élysée war das Wegfallen der Italiener für eine Allianz ein echtes Problem. Noch dazu hatten sich die Regierungen in Madrid im Zuge ungelöster innerer Spaltungen um die Frage der Unabhängigkeit Kataloniens seit Jahren selbst blockiert. Um Den Haag und seine neue „Hanse-Allianz“ fiskalpolitisch konservativer EU-Länder, mit der auch Deutschland sympathisierte, hatte sich ein neues potenzielles Kraftfeld in der EU entwickelt. Wie also konnte Frankreich das nötige Gewicht für eine echte Reform der Wirtschafts- und Währungsunion in die Waagschale werfen?
Paris hatte es dann bald aufgegeben, noch an das deutsch-französische Schwungrad für eine Reform der Eurozone zu glauben. Präsident Macron hatte es mit enormem politischen Kraftaufwand geschafft, die Protestbewegungen im eigenen Land aufzufangen, seinen Reformweg moderat voranzutreiben, seine Ideen für die Zukunft von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in Europa in einer Koalition mit den Liberalen im Europäischen Parlament zu verankern und den Rassemblement National um Marine Le Pen in Schach zu halten. Berlin unter Kanzlerin Angela Merkel aber war trotz aller hochfliegenden Bekenntnisse zum Ausbau der Wirtschaftsunion nicht zum Kompromiss bereit.
In diesem Kontext nahmen vor dem Hintergrund der schwachen globalen Konjunktur die Verteilungskämpfe in der EU zu. Die Aushandlung des Mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2021-2027 wurde zum Hauen und Stechen, in dem die unterschiedlichen Interessen in bisher beispielloser Weise aufeinanderprallten.
Die Kräfte der Mitte wurden auch im Europäischen Rat und im Ministerrat deutlich geschwächt. Einerseits durch weitere Wahlerfolge nationalistischer Parteien und Bewegungen, die Regierungen bildeten, andererseits durch die eigene innere Schwäche und die fehlende gemeinsame Vision Deutschlands und Frankreichs für die Zukunft der EU. War der Vertrag von Maastricht also endgültig gescheitert, waren die Staaten und Gesellschaften Europas nicht bereit für eine echte politische Union, für eine vertiefte Zusammenarbeit in Fragen der Migration, der inneren Sicherheit, der Verteidigung?
Diese Ernüchterung mündete zwischenzeitlich in einen neuen Konsens unter den Mitgliedstaaten. In dieser Phase der grundlegenden Differenzen entschied man sich, den Binnenmarkt als „Hauptdaseinsberechtigung“ der EU in den Vordergrund zu stellen, wie es die Kommission schon 2017 angedacht hatte.
„Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt“, so hatte es zwar einst dessen Vater Jacques Delors angemahnt. Doch andererseits: Von Emotionen hatten die EU-Länder in den letzten Jahrzehnten zu viele erlebt, und zwar negative. Warum also nicht eine neue Nüchternheit? So wurde eine Reihe von Initiativen begonnen, um den Binnenmarkt weiter zu entfesseln. Flankierend dazu nahmen Fortschritte in der Sicherung der EU-Außengrenzen zumindest kurzfristig die Aufmerksamkeit vom explosiven Thema der Migration. Ohne eine Einigung in der gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik verschärften sich jedoch im Laufe der Zeit die Kontrollen an den Binnengrenzen. Insgesamt wurde schnell deutlich, dass der Binnenmarkt ohne eine Einbettung in einen ambitionierteren politischen Rahmen sein Potenzial nicht würde weiter entfalten können.
Entscheidend für den Beginn einer neuen Phase der Differenzierung waren rückblickend zwei Entwicklungen: erstens die Verschiebung der US-Sicherheitsinteressen in Richtung China und die graduelle, nicht wie zwischenzeitlich erwartet mit einem großen Knall vollzogene Abwendung von Europa. Zweitens die Einigung auf eine echte gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik durch eine Gruppe von EU-Mitgliedstaaten angesichts eines anhaltenden Migrationsdrucks, der innenpolitische Verwerfungen auszulösen drohte.

Briten an Bord

Was die Verteidigungspolitik angeht, so signalisierte Großbritannien, an einer echten Kooperation mit den EU-Europäern interessiert zu sein. Die eigene Position außerhalb der EU-Strukturen erwies sich von Vorteil, da sich auch zuhause die weiterhin gespaltene öffentliche Meinung zur EU einfacher navigieren ließ. Für Frankreich, das sich frühzeitig intensiv um die Einbeziehung der Briten gekümmert hatte, war dies eine willkommene Entwicklung, um die Schwäche Berlins abzufedern.
Noch im Rahmen seiner ersten Amtszeit konnte Präsident Macron die neue deutsche Bundeskanzlerin Annegret Kramp-Karrenbauer davon überzeugen, gemeinsam mit London, Madrid, Rom und Warschau ein echtes Angebot der Kooperation in der Verteidigungspolitik an weitere willige und fähige EU-Mitgliedstaaten zu machen.
Hierbei sollten weniger institutionelle Fragen im Vordergrund stehen, sondern einige Beispiele schneller, flexibler und vor allem erfolgreicher Zusammenarbeit. Needless to say: Da man die Briten mit an Bord brauchte, musste das Ganze zunächst außerhalb der Verträge stattfinden. Für die Berater im Kanzleramt war das eine fette Kröte, die sie da schlucken sollten. Jedoch sah sich Berlin in der EU seit Langem mit dem Vorwurf konfrontiert, vor allem deshalb auf Initiativen im EU-Rahmen zu setzen, weil diese die eigene Ambitionslosigkeit bemänteln könnten. Angesichts der sicherheitsrelevanten Herausforderungen galt es in der Tat, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. So erblickte schließlich doch noch die Europäische Interventionsinitiative à la française das Licht der Welt.
Insgesamt war die Veränderungsbereitschaft Berlins in Bezug auf eine stärkere Differenzierung deutlich gestiegen. Hatte man bisher stark auf den Zusammenhalt der EU insgesamt gesetzt und war vor allem besorgt, Länder Mittel- und Osteuropas auf dem Wege der engeren Zusammenarbeit zu verlieren, so hatte sich jetzt die Überzeugung durchgesetzt, dass eine Kooperation mit gleichgesinnten Partnern durchaus attraktiv sein könne. Zumal wenn es um Kernfelder ging, die im ureigenen Interesse Deutschlands waren. So ließe sich auch ganz nebenbei den Menschen im eigenen Land der Mehrwert Europas vor Augen führen.
Richtige Balance zwischen Gemeinsamkeit und Differenzierung
Denn obgleich Deutschland eines der Länder war, das am meisten von der Mitgliedschaft in der EU profitierte, hatte sich das Bild eines „Zahlmeisters Deutschland für die Krisen der anderen“ im Land hartnäckig gehalten. Aus Sicht Berlins war es ausgesprochen attraktiv, eine Reform der europäischen Asyl- und Migrationspolitik, die in der EU-27 lange gescheitert war, in einer Gruppe von EU-Ländern zu organisieren. Weit weniger attraktiv war dagegen die Perspektive einer engeren Zusammenarbeit in der Wirtschafts- und Sozialpolitik im Rahmen der Eurozone, wie es Frankreich seit Langem forderte. In der Migrationsfrage ließ sich Differenzierung auch leichter auf der Basis der bestehenden EU-Verträge mithilfe des Instruments der „verstärkten Zusammenarbeit“ organisieren.
Paris wiederum bestand darauf, dass diese neuen Formate der Zusammenarbeit, die über den Binnenmarkt hinausgingen, an die EU-Institutionen angebunden sein müssten. Es sollte aber einen klar sichtbaren Unterschied machen, welche Mitgliedstaaten an diesen Projekten teilnahmen und welche nicht. So sollten an Abstimmungen im Europäischen Parlament nur die Abgeordneten teilnehmen, deren Länder beteiligt waren. Dies sollte auch für die Eurogruppe gelten.
Die Kommission sollte zwar Verantwortungsbereiche für Verteidigung, Migration und den Euro haben, ihre Rechte aber würden je nach Format unterschiedlich ausgestaltet sein. Unter der Prämisse, dass die starke Rolle der Gemeinschaftsinstitutionen im Binnenmarkt aller EU-Mitglieder gewahrt bleiben sollte, stimmte Berlin zu. Und so wurde der Weg frei für ein neues Experimentierfeld der flexiblen Kooperation von Gruppen von Mitgliedsländern – Vive l’Europe différenciée! Die „Neue Hanse“ etwa hatte den Anspruch, eigene Akzente zu setzen und eine Gruppe mittlerer Mitgliedstaaten auf Feldern gemeinsamen Interesses zusammenzubringen; sie entwickelte ein Differenzierungsprojekt für neue Technologien.
Zwischenzeitlich wurde diskutiert, auch die nationalen und regionalen Parlamente in Ergänzung zum Europäischen Parlament in diese Differenzierungsprojekte einzubeziehen. Dazu kam es jedoch nicht, weil man in einer Reihe von Hauptstädten fürchtete, auf diesem Wege den langsamen Tod des Europäischen Parlaments einzuleiten oder den eben gewonnenen Vorzug schnellerer Handlungsfähigkeit wieder zu unterlaufen.
So also grübelt Marie Épinard nun über die Frage der richtigen Balance zwischen dem, was alle gemeinsam machen, und dem Europa der Differenzierung – und kommt schließlich zu dem Schluss, dass das wohl nur die nächsten anstehenden Wahlen zeigen können. Dann werden die Unionsbürgerinnen und -bürger darüber befinden, ob es die erste Chefin der Europäischen Kommission geschafft hat, gemeinsam mit den Regierungen der Mitgliedstaaten und auf dem Wege der Differenzierung die Union wieder näher an die Erwartungen ihrer Bürger nach Sicherheit und Wohlstand heranzuführen oder nicht. Deshalb ist es im Jahr 2040 ganz selbstverständlich in der EU: Nicht die große Perspektive der Geschichte ist Maßstab für das Erreichte – sondern der nächste Gang der Europäer an die Wahlurnen.

Almut Möller ist Senior Policy Fellow und leitet das Berliner Büro des European Council 
on Foreign Relations (ECFR).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2019, S. 24-29

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