Europa 2040 - Glück gehabt
Wie die EU doch noch zur regionalen Ordnungsmacht wurde
Alles fing damit an, dass im Baltikum der Strom ausfiel. Im Herbst 2021, als es schon kühl wurde im Norden Europas, hatte der Kreml entschieden, ein kleines Experiment zu wagen. Jahrelang hatte Moskau darauf hingearbeitet, das alte, noch aus der Sowjetzeit stammende Elektrizitätsnetzwerk in Europas Nordosten so umzubauen, dass eine Abkopplung Estlands, Lettlands und Litauens möglich wurde, ohne dabei Kaliningrad mit abzuschalten. Um seine Wirkung voll zu entfalten, musste die Operation noch vor 2025 geschehen, dem Zieldatum für die avisierte Unabhängigkeit der drei ehemaligen Sowjetrepubliken vom russischen Atomstrom und dem Leitungsnetz.
Und so gingen Anfang Oktober 2021 von Narva bis an die polnische Grenze die Lichter aus – und für volle drei Wochen nicht wieder an. Computersysteme, Internet, Zahlungsverkehr, Verkehrssteuerung, Industrieproduktion, Abwasser- und Kühlsysteme, Heizungen und Telekommunikation, alle Vitalfunktionen der Gesellschaft gingen nach und nach in die Knie. Die Notfallversorgung konnte einige Nischen mit Strom versorgen, doch die Katastrophe nicht verhindern.
Verzweifelt forderten die baltischen Regierungen die NATO zur Ausrufung des Bündnisfalls nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrags auf, doch die Allianz war träge geworden. Einigkeit konnte erst nach vollen zwei Wochen erzielt werden, wobei einige westeuropäische NATO-Staaten sich mit Blick auf ihre Solidaritätspflicht nicht mit Ruhm bekleckerten. Zwar wagte Russland keinen militärischen Übergriff auf das schutzlos daliegende Baltikum, aber es hatte seine Macht demonstriert und die Allianz gespalten. Die Schwachstellen des westlichen Bündnisses lagen offen zutage. Als man sich im Kreml schließlich am 21. Tag des Blackouts entschied, die drei Länder wieder ans Netz gehen zu lassen, wurde die Aktion, die einige tausend Menschen das Leben gekostet und verheerenden wirtschaftlichen Schaden angerichtet hatte, von Moskauer Strategen allgemein als schöner Erfolg gewertet.
Womit man in Moskau nicht gerechnet hatte, war die Langzeitwirkung der Operation. Hätte man gewusst, welche Prozesse die Operation auslösen würde, und wie diese die strategische Lage bis zum Sommer 2040 verändern würden, hätte man in Russland vermutlich die Finger vom Schalter gelassen.
Neunzehn Jahre später ist die EU eine voll entwickelte Regionalmacht mit einer kleinen, aber unübersehbaren Fähigkeit zur globalen Machtprojektion. Das Schlagwort „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ führt international nicht mehr zu Gekicher und Augenrollen, sondern ist ein Faktor, den Washington, Peking, Ankara, Moskau, Teheran und Delhi ernst nehmen müssen.
Baltic Blackout und die Folgen
Möglich wurde diese Entwicklung durch mehrere parallel verlaufende Entwicklungen, die sich gegenseitig verstärkten. Der Schock des „Baltic Blackout“ setzte ungeahnte Kräfte in den Mitgliedstaaten frei. Nicht nur schnellten die Verteidigungsausgaben nach oben, auch die Verschlankung der militärischen Strukturen in den fünf maßgeblichen Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich, Italien, Polen und Spanien sowie die Anpassung des verkrusteten Beschaffungswesens sorgten für einen ungeahnten Fähigkeitszuwachs.
Mit der NATO wurde ein Abkommen über so genannte European Redundant Battle Structures (ERBS) abgeschlossen, das die Kommandostrukturen beider Organisationen voll kompatibel werden ließ, Waffensystemdopplungen begrenzte und die wechselseitige Abstimmung pragmatisch ausbuchstabierte.
Hilfreich hierbei war, dass seit 2022 der so genannte Migrantenboom einsetzte, eine Phase hohen wirtschaftlichen Wachstums, ausgelöst durch die weitgehende Integration der jungen, hungrigen Menschen, die seit 2015 in großer Zahl nach Europa gelangt waren. Der Boom bezog seine Kraft auch aus einem Wiederanziehen der chinesischen Wirtschaft seit 2025 und aus dem Abschluss des Transatlantic-Pacific Integrated Markets Program (T-PIMP) zwischen China, zehn Staaten des pazifischen Raumes, der EU und den USA. Der Nachfolger Donald Trumps im Weißen Haus hatte im Eiltempo die brachliegenden globalen Freihandelsverhandlungen wieder aufgenommen, und die Angst vor einer großen weltweiten Rezession hatte eine bis dahin unvorstellbare globale Koalition zustande gebracht.
Sogar auf den Nahen Osten hatte diese liberale Renaissance abgefärbt. Nach der friedlichen Revolution im Iran 2022 und dem Gang des türkischen Präsidenten Erdogan ins russische Exil nach Sotschi (eine Etage im dort gerade fertiggestellten Trump-MAGA-Hotel wurde eigens für ihn im neo-ottomanischen Stil eingerichtet) war der Weg für eine großflächige Marktintegration in der Region frei geworden. Iraner und Türken schlossen sich dem von Saudi-Arabien, Ägypten und den Golf-Staaten gegründeten Arab Regional Mercantile Pact for Investment and Trade (ARMPIT) an, mit dem vollendeten Binnenmarkt der EU beschloss dieser Bund eine Zollunion.
Die günstigen globalen Wirtschaftsbedingungen wirkten wie ein Jungbrunnen auf die EU. Umfassende Sozialprogramme nahmen der populistischen Eliten- und Globalisierungskritik einen Teil ihrer Grundlage. Die diplomatischen, militärischen und Entwicklungskapazitäten konnten ausgebaut werden, ohne dass es zu giftigen und polarisierenden Verteilungskämpfen in den nationalen Haushalten kam. Entscheidend aber war der dauerhafte politische Konsens, der dem aufstrebenden Europa über den Gräbern der im Baltikum Gestorbenen zugewachsen war. Auch den stoffeligsten Europa-Abwimmlern war klar geworden, dass die Selbstzerfleischung des Kontinents sich nicht fortsetzen durfte. Der Preis dafür war schlicht zu hoch.
Russlands Chefideologe schmollt
Einen weiteren Schub erfuhr der wiedererwachte europäische Ehrgeiz durch den schleichenden Abgang Moskaus von der ganz großen internationalen Bühne. Nur zwei Jahre nach dem Elektrokrieg im Baltikum war Russland in die von Ökonomen lange erwartete massive Rezession geglitten, die dann 2024 zum Abgang des Machtkreises um Putin führte (Reiseziel: Sotschi, MAGA-Hotel).
Russland war so stark in den Tributsog Chinas geraten, dass es gewissermaßen neutralisiert wurde. Es fehlten ihm schlicht die Ressourcen, um weiterhin verschwenderisch-massive Präsenz an seiner eigenen Westgrenze zu zeigen, der Grenze, die seit 1990 ohnehin seine sicherste und berechenbarste war. Chefideologe Dugin bezog eine Kellerwohnung im MAGA und schmollte. Als Juniorpartner Chinas durfte das Land Hilfsdienste in Zentralasien erledigen, im Gegenzug garantierte China Russlands territoriale Integrität.
Das außenpolitische Kerneuropa hatte also nicht nur den Spielraum, um seine eigenen Hausaufgaben zu erledigen. Im Zuge seiner Neuausrichtung fand es auch zu einer neuen Arbeitsteilung mit den USA in der europäischen Nachbarschaft. Washington hatte weiterhin kein Interesse an einem Aufstieg Europas zu einer wirklichen Weltmacht, zumal einer nuklearen, aber darin war es sich mit den Europäern weitgehend einig.
Also verstärkten die USA ihr Engagement in Europa auf detailliert mit Brüssel abgestimmte Weise. Der nukleare Schutzschirm Amerikas sowie eine solide Truppenpräsenz auf europäischem Boden blieben erhalten. Fort Trump in Polen wurde schon 2023 in Fort Brzezinski umbenannt, was den großen Vorteil hatte, dass es kaum jemand aussprechen konnte. Außerdem ehrte man auf diese Weise anstelle des wahrlich Unaussprechlichen einen der großen Söhne Polens.
Auch in der nach wie vor geopolitisch heiklen Nachbarschaft der EU wurde eine Lastenteilung zwischen der Union und den USA vereinbart. Amerika übernahm die Funktion der Ordnungsmacht in der Arktis, in Osteuropa und in der Levante, während sich die Europäer der Ostsee, dem Balkan und Nordafrika widmeten. Zudem wurden die stehenden NATO-Seeverbände in Ostsee und Mittelmeer durch europäische Einsatzflottillen ersetzt. Diese SMURF (Stability and Mutual Reassurance for Freedom) genannte Doktrin, von EU und NATO gemeinsam auf den Weg gebracht, hatte den Vorteil, dass sie wichtige, bisher in Europa gebundene amerikanische Kräfte von ihren Aufgaben entband, sodass sie an die eigentlichen geopolitischen Hot Spots in Asien verlegt werden konnten. Denn Chinas Entgegenkommen im Rahmen von T-PIMP hatte keineswegs zur Folge, dass es die Hegemonialansprüche in seinem Hinterhof aufgab.
Europa unterstützte die neue Lastenteilung durch eine erheblich ausgeweitete Präsenz auf den sieben Weltmeeren, um internationale Handelsrouten und Engstellen zu sichern und auf lokal auflodernde Krisen jederzeit reagieren zu können. An diesen maritimen Einsätzen beteiligte sich auch der kleine deutsche Einsatzverband rund um das brandneue Amphibische Kampf- und Konsularschiff (AKK) „Johannes Kahrs“, den deutschen Flugzeugträger, benannt nach einem früheren Haushaltspolitiker, der einst die schöne Hafenstadt Hamburg im Deutschen Bundestag vertreten hatte.
Neues europäisches Denken
Wie aber konnte diese neue außenpolitische Rolle Europas innenpolitisch abgesichert werden? Nach dem „Baltischen Elektroschock“ (Bild, 5. Oktober 2021) hatte es nicht nur ausreichend politisches Kapital für eine verstärkte Außen- und Sicherheitspolitik in der EU gegeben. Auch die harte und langandauernde Rezession, die der Brexit in Großbritannien ausgelöst hatte, setzte in den verbliebenen Mitgliedstaaten proeuropäische Kräfte frei.
Noch wichtiger aber war die kleine Eurokrise des Jahres 2024, die die Einsicht befeuerte, dass man die Gemeinschaftswährung auf eine neue Grundlage stellen musste. Mit ihr schloss sich der Kreis des neuen europäischen Denkens. Während die Krise im Baltikum der europäischen Linken klargemacht hatte, dass man mit luftigem Pazifismus und Russland-Verstehertum nicht weiterkommen würde, brachte der Schreckmoment um den Euro die europäischen Konservativen dazu, von ihrer Fundamentalopposition gegen Politische Union und Transferunion in der Eurozone abzurücken.
Es sollte bis ins Jahr 2030 dauern, doch innerhalb dieses guten Jahrzehnts vollzog sich die „integrative Wende“ (Janning, 2026), die sich wie eine Trotzbewegung gegen Euroskepsis, Renationalisierung, Populismus und autoritäre Versuchungen ausnahm. Zwar blieb die europäische Republik wie erwartet eine Illusion. Doch aus dem außenpolitischen Kerneuropa, das sich nach der Krise im Baltikum herausgeschält hatte, entwickelte sich ein innenpolitisches Kraftzentrum, das in zwei großen Schritten das politische System der EU reformierte.
Als erstes vollendete es den Binnenmarkt, was einen erheblichen Wachstumseffekt in der EU auslöste. Neben dem europäischen Asylkompromiss von 2023 war es vor allem dieser Aufschwung, der die Glaubwürdigkeit Europas und damit auch die Handlungsspielräume seiner proeuropäischen Eliten erweiterte. Die Folge war Schritt zwei: eine echte gesamteuropäische Direktwahl des europäischen Ratspräsidenten im Jahr 2029. Zwar konstituierte sich hiermit noch nicht ein echter europäischer Demos – dazu hätte es einer europaweiten Direktwahl des Europäischen Parlaments auf der Basis paneuropäischer Parteilisten bedurft.
Aber im Zuge dieser Neuverfassung Europas konnte der Europäische Auswärtige Dienst in seiner ursprünglichen Form abgeschafft und in einen europäischen Sicherheitsrat überführt werden, in dem die Staats- und Regierungschefs der EU monatlich unter dem Vorsitz des direkt gewählten Ratspräsidenten die Außenpolitik der Mitgliedstaaten in ein gemeinsames Ganzes bringen konnten. Dies verhinderte nationale Alleingänge nicht vollständig. Da man aber das Gewicht des Stimmrechts jedes Mitgliedstaats in allen anderen Politikfeldern an das Stimmverhalten zu außenpolitischen Fragen gekoppelt hatte, war der Anreiz, die gemeinsame Außenpolitik zu unterminieren, nur noch gering ausgeprägt. Beobachter waren sich einig, dass dieser Zustand wohl der sei, der dem mythischen „Mit-einer-Stimme-Sprechen“ der EU, welches so lange beschworen worden war, am nächsten kam.
Legitimation erhielt die neue institutionelle Konstellation, als sie in einer Reihe von Krisen, unter anderem in Nahost und im Verhältnis zu China, eine starke europäische Position formulierte und europäische Interessen in zuvor nicht erwartbarer Form durchsetzte. Nicht zuletzt aufgrund dieser neuen Stärke stellte Großbritannien 2038 einen Antrag auf Wiederaufnahme in die EU, welche aber bis 2040 aufgrund von Unstimmigkeiten bei der Anerkennung britischer Agrarprodukte („Ceci n’est pas un fromage“, Le Figaro, 23. Juli 2039) noch in der Schwebe war.
„Lernen durch Schmerz“, diese zynischste aller Fortschrittsmaximen, hat die EU innerhalb von 20 Jahren von einem zerstrittenen, innerlich erschütterten und von der veränderten Weltlage verängstigten Gebilde zu einem Garanten regionaler und globaler Stabilität werden lassen. Angesichts der Vielzahl von Weggabelungen, an denen diese Entwicklung auch hätte schiefgehen können, darf man, ohne dabei die Leistung der politischen Führungspersönlichkeiten zu schmälern, getrost mit einem Seufzer zugeben: Glück gehabt.
Jan Techau ist Senior Fellow und Direktor des Europaprogramms beim German Marshall Fund of the United States in Berlin.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2019, S. 29-33