IP Special

30. Dez. 2024

„EU oder BRICS? Ankaras Antwort: Sowohl als auch“

Die Türkei hat das Thema EU-Beitritt fürs Erste abgehakt und orientiert sich politisch neu. Droht auch die ökonomische Abkehr von Europa? Ein Gespräch über alte Partnerschaften und neue Unsicherheiten.

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Porträt: Maxi Hülsen
Maxi Hülsen leitet das Referat Türkei, Zentralasien und Mongolei bei der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) in Berlin.
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IP: Die türkische Wirtschaft steckt in der Krise, Präsident Erdoğan steuert sein Land in Richtung Diktatur, und das Verhältnis zwischen Ankara und Berlin war auch schon mal besser. Welche Erfahrungen machen Sie, wenn Sie mit deutschen Unternehmen sprechen, die in der Türkei ­Geschäfte machen oder im Land investieren wollen: Wachsen die Zweifel oder bleibt man gelassen?
Maxi Hülsen: Es gibt keinen Trend, dass sich massenhaft Unternehmen zurückziehen würden. Über 8000 deutsche Firmen sind zurzeit nach Angaben der Kolleginnen und Kollegen von der Deutsch-Türkischen Handelskammer in der Türkei aktiv. Dabei handelt es sich in der Mehrzahl um größere Unternehmen, die teilweise schon seit mehreren Jahrzehnten vor Ort sind und sich mit den vielen Herausforderungen und der generellen Volatilität des Marktes arrangiert haben. 

Aber natürlich tragen regulatorische Instabilität oder Wechselkursschwankungen in der Türkei zu einer gewissen Unsicherheit in der Unternehmerszene bei. Das beeinflusst Investitions- und Personalentscheidungen, da vor allem kleine und mittelständische Firmen diese Risiken nicht eingehen können oder wollen. Es gibt also viel ungenutztes Potenzial von Unternehmen, die eigentlich etwas anzubieten hätten, aber letztlich Abstand von einem Markt nehmen, der zumindest in der Wahrnehmung mit höheren Risiken verbunden ist als andere Märkte.

Was ist die Natur der aktuellen Wirtschaftskrise? Glauben Sie, dass die Regierung Erdoğan die Krise kurz- und mittelfristig in den Griff bekommen wird?
Eines der größten Probleme, auch aus Sicht ausländischer Investoren, ist die Inflation in der Türkei, die im Herbst 2022 noch bei 85 Prozent lag. Zwei Jahre später liegt sie nun bei 50 Prozent, was immer noch heftig für die Menschen ist, die mit hohen Lebensmittelpreisen und gestiegenen Wohnkosten zu kämpfen haben. 

Dennoch ist eine eindeutig positive Tendenz zu erkennen, die von vielen Beobachtern darauf zurückgeführt wird, dass Erdoğan kurz nach seiner Wiederwahl 2023 Mehmet Şimşek als Finanzminister eingesetzt hat. Şimşek wird auch im Ausland für seine Kompetenz und seine Eigenständigkeit bei geldmarktpolitischen Entscheidungen geschätzt. Dieser personelle Wechsel hat gezeigt, dass eine Abkehr von staatlichen Eingriffen etwa in die Zinspolitik stattfindet.

Wenn man über den Zustand der türkischen Wirtschaft spricht, muss man immer die herausfordernde geostrategische und geografische Lage des Landes im Hinterkopf behalten. Dessen Nachbarn sind nicht Österreich, Dänemark und die Niederlande, sondern der Irak und Syrien. Das ist eine schwierige Ausgangslage, die auch Konsequenzen für die Wirtschaft hat. 

Hinzu kommt, dass der Südosten der Türkei im Februar 2023 von schweren Erdbeben erschüttert wurde. Die Infrastruktur ist nach wie vor vielerorts zerstört, die wirtschaftlichen Aktivitäten sind noch nicht wieder angelaufen – und das in einer Region, in der knapp 15 Millionen Menschen leben.

Politisch und strategisch orientiert sich die Türkei weg von Deutschland und Europa. Erdoğan hat die EU-Ambitionen auf Eis gelegt und klopft beim von China und Russland dominierten BRICS-Bündnis an. Wie groß ist Ihre Sorge, dass sich das Land auch wirtschaftlich und handelspolitisch komplett neu ausrichtet?
Nicht sonderlich groß. Ich denke, dass die Einbettung in Konstrukte wie die Europäische Union oder auch die BRICS-Gruppe für die Türkei keine Entweder-oder-Frage ist, sondern eine Sowohl-als-auch-Frage. Aus meiner Sicht ist es naheliegend und nachvollziehbar, dass die Türkei den Blick in verschiedene Richtungen lenkt und versucht, aus ihrer geografischen Lage einen Vorteil zu ziehen. Im Gegensatz zu anderen Ländern verfügt die Türkei nicht über einen Rohstoffreichtum, den sie nutzen könnte, um ihren Handlungsspielraum und ihre Machtposition auszubauen. 

„Es ist nachvollziehbar, dass die Türkei ihre geografische Lage nutzt, um ihren Handlungsspielraum auszubauen“

Die Fokussierung auf die EU und die BRICS-Gruppe als vermeintliche Gegenpole, zwischen denen sich die Türkei entscheiden müsse, vernachlässigt außerdem die Tatsache, dass Ankara bereits im Rahmen anderer Bündnisse mit Staaten wie Russland und China zusammenarbeitet. So hat die Türkei seit 2013 den Status eines Dialogpartners in der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Auf dem Gipfel der SOZ im September 2022 hat Erdoğan betont, dass er eine Vollmitgliedschaft anstrebe.

 Dass ein baldiger EU-Beitritt der Türkei derzeit kaum vorstellbar ist, liegt nicht zuletzt an Erdoğans autoritärem Vorgehen im Inneren und seinem Krieg gegen die Kurden. Viele fragen sich, inwieweit die Türkei für Europa noch ein zuverlässiger Wirtschafts- und Handelspartner sein kann. Was wäre Ihre Position?
Das ist eine Frage, die uns öfter gestellt wird: Sollte man mit stärker autoritär ausgerichteten Ländern Geschäfte machen – oder ist das moralisch nicht vertretbar? Wenn die Alternative ist, sich abzuschotten und die Beziehungen zu solchen Ländern zu kappen, dann ist das meiner Meinung nach nicht die bessere Alternative, weil man Verhandlungsmasse wegnimmt. Diese Länder haben nichts mehr zu verlieren, wenn es keine Beziehungen und keine Verflechtungen mehr gibt. Ein Mittelweg ist daher, die eigenen Beziehungen zu diversifizieren, um einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden.

Natürlich hat man immer das Beispiel Russland im Hinterkopf, wo man sagen muss, dass „Wandel durch Handel“ nicht unbedingt funktioniert hat. Trotzdem würde ich dieses Szenario nicht auf die Türkei übertragen. Nur weil sich bei Russland unsere Hoffnungen auf eine Annäherung der Werte nicht erfüllt haben, heißt das nicht, dass es auch mit der Türkei nicht klappen wird. Ein Patentrezept haben wir nicht, aber ich glaube nach wie vor, dass man den Dialog nur aufrechterhalten kann, wenn man nicht rigoros ist.

Nach dem Wahlerfolg der Opposition in der Türkei im April haben EU-Politiker angekündigt, die Handelsbeziehungen auszubauen, etwa bei landwirtschaftlichen Produkten. „Die Wahl war ein Signal, dass sich die Türkei in Richtung Demokratie bewegt“, hat etwa Bernd Lange gesagt, der Vorsitzende des Handelsausschusses im EU-Parlament. Ist dieser Optimismus angebracht?   
Ich denke, dass diese neue Verhandlungsbereitschaft der EU nicht ausschließlich eine Reaktion auf das politische Signal der Kommunalwahlen ist. Die Türkei hat in den vergangenen Jahren viel getan, um Handelshemmnisse abzubauen. Das dürfte im Hintergrund auch dazu beigetragen haben, dass neue Handlungsspielräume entstanden sind.

Dabei geht es insbesondere um die Modernisierung der Zollunion, die seit 1995 zwischen der EU und der Türkei besteht und in ihrer Form veraltet ist. Ein Beispiel: Grenzüberschreitende digitale Dienstleistungen werden von der Zollunion gar nicht erfasst, sind aber heute ein zentraler Bestandteil der Verflechtung zwischen der EU und der Türkei. Auch landwirtschaftliche Erzeugnisse sind vom Anwendungsbereich der Zollunion ausgenommen. Es wäre für beide Seiten gut, wenn diese Themen aufgenommen würden.

Wie sieht das Bild bei den deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen aus?
Grundsätzlich sind die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen sehr breit aufgestellt. Deutschland ist für die Türkei der wichtigste Abnehmer von Waren. Da geht es vor allem um Textilien, Bekleidung, aber auch um Kfz-Teile und Maschinen. Das wird sehr wahrscheinlich auch so bleiben.

Neben diesen eher klassischen Branchen ist grüner Wasserstoff ein großes Thema – auch auf Regierungsebene, etwa im Rahmen der deutsch-türkischen Energiepartnerschaft. Generell gibt es beim Thema Klimaneutralität viele überschneidende Ziele und Kooperationsfelder. Allerdings geht es nicht nur darum, deutsche Technologien in die Türkei zu exportieren. Es gibt mittlerweile auch in der Türkei viele gute Ideen und kluge ­Köpfe im Energiebereich.

Was sind aus Ihrer Sicht die großen Pluspunkte des Wirtschaftsstandorts Türkei?
Das Land hat zum einen eine sehr gut ausgebaute Infrastruktur. Zweitens gibt es immer noch einen großen Pool an sehr gut ausgebildeten und auch sehr motivierten Fachkräften. Ein dritter Grund ist der Zugang zu attraktiven Märkten. Einerseits zur EU über die Zollunion – auch wenn diese noch nicht hundertprozentig so ist, wie man sich das wünscht –, andererseits aber auch zu Märkten in Asien.

Neben wirtschaftlichen Kennzahlen spielen auch kulturelle Faktoren eine große Rolle für den Erfolg oder das Scheitern von Geschäftsbeziehungen. Was sind die größten Fehler deutscher Unternehmen, die in der Türkei Geschäfte machen wollen? Wovon würden Sie dringend abraten, was kommt gut an?
Grundsätzlich stellen Partner in der Türkei den gleichen Anspruch wie alle anderen: mit Respekt behandelt zu werden und auf Augenhöhe zu verhandeln.

Dazu gehört auch, dass man kulturelle Unterschiede mit ein bisschen mehr Wohlwollen betrachtet. Wir hatten kürzlich den Fall, dass wir einen Termin kurzfristig verschieben sollten, weil die türkischen Teilnehmer zum Freitagsgebet gehen wollten. Dann braucht es keine langen Diskussionen, sondern schnelle Lösungen. 

Umgekehrt muss man sich auch bewusst sein, dass Dinge, die man von türkischen oder generell ausländischen Partnern möchte, auf der anderen Seite vielleicht auch als etwas speziell empfunden werden. Wenn ich etwa vier Wochen im Voraus wissen möchte, in welchem Raum eine Veranstaltung stattfindet, dann finden das die Türken sicherlich auch manchmal merkwürdig.

Im deutsch-türkischen Kontext ist es daher oft so, dass Absprachen und Vorbereitungen sehr kurzfristig erfolgen. Durch die deutsche Brille gesehen könnte man sagen: Die sind chaotisch und unstrukturiert. Man kann es aber auch wohlwollender betrachten und sagen: Super, die sind flexibel. Und wenn man das nächste Mal selbst etwas kurzfristig braucht, profitiert man von dieser Flexibilität.

Wenn man erst einmal eine gegenseitige Sympathie aufgebaut hat, stößt man in der Türkei auf sehr offene, herzliche und loyale Partner. Das sieht man auch an den vielen Unternehmen, die sehr ­langjährige Geschäftsbeziehungen zu ihren türkischen Partnern oder umgekehrt zu ihren deutschen Partnern pflegen.

Welche Erfolgsstorys können Sie von deutschen Investoren erzählen, die in der Türkei ihr geschäftliches Glück gefunden haben?
Bei 8000 Unternehmen gibt es viele Erfolgsgeschichten: Beispiele sind Bosch, Siemens, WILO, Bayer, Daimler oder Henkel, die alle seit mehreren Jahrzehnten vor Ort sind und über 1000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigen. 

Und wo hat ein deutsches Investment in der Türkei mal so gar nicht geklappt?
Wenn ein großer Deal platzt, geht das auch durch die Presse. Ein Beispiel ist VW, die vor einigen Jahren ein neues Werk nahe Izmir bauen wollten und dann auch aus politischen Gründen Abstand davon genommen haben. Aber das ist kein Massenphänomen. Wenn etwas scheitert, dann meist aus operativen Gründen. Es geht dann beispielsweise darum, dass das passende Grundstück fehlt, dass die Nachfrage schwächelt, dass Transport- und Logistikfragen noch ungelöst sind und vieles mehr. 

Wenn wir mal in die andere Richtung schauen: Unter den Investoren in Deutschland lag die Türkei zuletzt unter den Top Five. Was mögen türkische Investoren an Deutschland, was macht ihnen das Geschäftsleben schwer?
Auch wenn sich das Deutschland-Bild ein bisschen wandelt: Deutsche Produkte, aber auch bestimmte Eigenschaften, die mit Deutschen assoziiert werden, stehen bei den Türken immer noch hoch im Kurs. Ich denke, dass es im deutsch-türkischen Kontext immer noch gewisse Vorschusslorbeeren gibt und dass man gerne mit Deutschland kooperieren möchte. 

„Deutsche Produkte und bestimmte ‚deutsche‘ Eigenschaften stehen bei den Türken immer noch hoch im Kurs“

Was türkische Investoren in Deutschland nervt, ist das, was auch deutsche Unternehmen nervt: Bürokratie, langsame Verwaltungen, Genehmigungsverfahren.

Weiten wir zum Abschluss den Blick und schauen auf das Jahr 2050: Was sind Ihre Hoffnungen für den Standort Türkei?
Eine Hoffnung ist, dass sich die Lage in den Nachbarländern beruhigt oder zumindest nicht noch dramatischer wird. Die Türkei ist an vielen Krisenherden extrem nah dran; viele Menschen fliehen in die Türkei. Das hat wirtschaftliche Konsequenzen: Wie integriert man die Menschen? Sind sie für den Arbeitsmarkt verfügbar oder nicht?

Ich hoffe natürlich auch, dass das Schreckensszenario eines Erdbebens in Istanbul, vor dem Experten warnen, nicht eintritt. In einer Stadt mit 16 Millionen ­Einwohnern wären die Folgen eines so starken Erdbebens kaum vorstellbar.

Und was wünschen Sie sich mit Blick auf die deutsch-türkischen Wirtschafts­beziehungen?
Zum einen, dass sich die Rahmenbedingungen so verbessern, dass auch kleine und mittelständische deutsche Unternehmen den Weg auf den türkischen Markt finden. Da gibt es noch sehr viel Potenzial, was aktuell nicht genutzt wird.

Umgekehrt würde ich mir einen positive­ren Blick auf die türkische und türkischstämmige Community in Deutschland wünschen. Bestimmte Klischees halten sich immer noch hartnäckig in den Köpfen, obwohl sich sehr viel verändert hat: In Deutschland gibt es 80 000 Unternehmen türkischstämmiger Geschäfts­leute – verteilt auf 120 Branchen mit einem Jahresumsatz von 50 Milliarden Euro und 
500 000 Arbeitsplätzen. Es ist mir ein großes Anliegen, diese Bandbreite noch stärker ins Bewusstsein der Deutschen zu rücken. Wir müssen wegkommen von Döner-Imbiss- und Gastarbeiter-Klischees.

Das Interview führten Tim Hofmann, Sarah Ludwig 
und Joachim Staron.                   

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 1, Januar/Februar 2025, S. 50-55

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