„Es wird immer komplizierter“
Igor Iwanow sieht die Welt beklagenswert schlecht auf 2019 vorbereitet
1. Was sehen Sie 2019 als größte Herausforderung der internationalen Politik an?
Die Versuchung ist groß, auf die jetzige US-Regierung zu deuten. Tatsächlich hat Washington die Fundamente der gegenwärtigen Weltordnung sehr aktiv infrage gestellt. In der Verfolgung ihrer kurzfristigen Ziele scheinen die USA nicht viel Wert auf internationales Recht oder multilaterale Institutionen zu legen. Sie kündigen Vereinbarungen von entscheidender Bedeutung einseitig auf und versuchen, ihre unilateralen Entscheidungen anderen Ländern und internationalen Organisationen aufzuzwingen. Das Weiße Haus scheut auch nicht davor zurück, massiven Druck auf seine Partner auszuüben. Dies führt zu weniger Stabilität, größeren Risiken und geringerer Vorhersehbarkeit auf globaler und regionaler Ebene.
Trotz alledem bin ich überzeugt davon, dass es eine gefährliche und übertriebene Vereinfachung wäre, Donald Trump und den USA die Schuld für alle Probleme der Welt anzulasten. Die Wirklichkeit ist sehr viel komplizierter. In diesen Tagen erfährt die Welt eine tiefe technologische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Transformation, und unser endgültiger Bestimmungsort ist nicht klar. Die Beschleunigung der Veränderungen erfordert ein neues Niveau globaler Steuerung, aber unsere alten politischen Angewohnheiten verhindern, dass wir dort hinkommen. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass die größte Herausforderung unserer Zeit der Mangel an Solidarität zwischen den Nationalstaaten ist, einschließlich derer, die von der Charta der Vereinten Nationen mit einer besonderen Verantwortung für die Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit in der Welt betraut wurden. Solange diese Staaten nicht ihre Differenzen in Einzelfragen beiseitelegen und sich der gemeinsamen Herausforderung stellen, ist die Welt kein sicherer Ort.
2. Sollte sich jedes Land in einer immer komplexeren Welt auf sich selbst verlassen oder führt mehr internationale Zusammenarbeit in eine bessere Zukunft? Brauchen wir neue Institutionen?
Im 21. Jahrhundert bleiben die Staaten die wichtigsten internationalen Akteure. Das bedeutet, dass wir dafür sorgen müssen, dass die Staaten stark und effizient bleiben. Sie sind die unverzichtbaren Bausteine für die neu entstehende Weltordnung. Trotzdem gibt es gewisse Grenzen dessen, was auch der mächtigste Staat auf sich allein gestellt erreichen kann. Durch die Globalisierung werden diese Grenzen immer deutlicher sichtbar, sowohl was die soziale und wirtschaftliche Entwicklung betrifft als auch im Bereich der internationalen und sogar der inneren Sicherheit. Unglücklicherweise erleben wir, dass viele mächtige Staaten mehr Probleme schaffen als Lösungen anbieten. Die USA sind wohl das drastischste Beispiel für explizit einseitige, kurzsichtige und selbstsüchtige Entscheidungen in der Außenpolitik. Angesichts der einzigartigen Rolle der USA erscheint die Obsession Washingtons mit Unilateralismus besonders gefährlich.
Aber lassen Sie mich noch einmal unterstreichen: Hier geht es nicht allein um die USA. Alle Staaten – groß oder klein, reich oder arm, im Westen oder im Osten – müssen in der stark verdichteten, eng bevölkerten und interdependenten Welt von heute und morgen zusammenarbeiten. Bislang kann keiner von uns überzeugt behaupten, dass sein oder ihr Land die unbehagliche Kunst des Multilateralismus in vollem Umfang erlernt hat. Wir sehen jetzt, dass sogar in der Europäischen Union – dem anerkannten Führer multilateraler Diplomatie – dieser Multilateralismus vor ernsten und vielfältigen Herausforderungen steht. Es wäre für uns alle besser, wenn wir die Kunst des Multilateralismus gemeinsam studieren würden, nicht getrennt voneinander. Unter den derzeitigen desolaten politischen Umständen mag das unrealistisch klingen, aber ich sehe keinen anderen Weg – weder für Europa noch für die Welt insgesamt.
3. Leben wir in Zeiten fundamentaler Veränderungen? Was sind ihre Antriebskräfte?
Es ist schwierig, einzelne Faktoren herauszugreifen. In der Regel richten wir unsere Aufmerksamkeit eher auf neue Probleme als auf neue Chancen. Ein Beispiel sind die wachsenden Spannungen zwischen den USA und China, die sich in mehrfacher Hinsicht auf die ganze Welt auswirken können, einschließlich einer globalen Rezession und einer neuen geopolitischen Bipolarität. Die soziale und politische Entwicklung im Nahen Osten bleibt ungewiss. Aber es ist klar, dass das dortige Geschehen kein regionales, sondern ein globales Problem darstellt, das uns vermutlich alle betreffen wird. Wir dürfen auch die Gefahr eines Zusammenstoßes zwischen den USA und Iran oder zwischen Saudi-Arabien und Iran nicht unterschätzen. Bedauerlicherweise ist die Ukraine-Krise weiterhin ungelöst, und die kleinen Fortschritte auf der Koreanischen Halbinsel sind noch immer sehr fragil und umkehrbar.
Jeder dieser Konflikte, Bedrohungen und Herausforderungen hat seine eigenen Wurzeln, Akteure, Verläufe und Dynamiken. Es mag so wirken, als hätten sie absolut nichts miteinander zu tun. Aber das stimmt nicht. Sie verstärken sich alle gegenseitig, zerstören das Vertrauen zwischen den großen internationalen Akteuren, lähmen die internationalen Organisationen und erschweren die Zusammenarbeit auf vielerlei Ebenen. Ich meine, dass ein „perfekter Sturm“ – die kumulative Wirkung von mehreren gleichzeitig auftretenden Krisen – die größte Herausforderung für 2019 und die kommenden Jahre ist. Wir sind in der Lage, das alte internationale System komplett zu zerstören, bevor wir mit der Errichtung eines neuen auch nur begonnen haben.
Igor Iwanow war russischer Außenminister, heute arbeitet er als Außen- und Sicherheitsexperte.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2019, S. 60-61