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01. Mai 2005

»Es fehlt die Empathie«

40 Jahre deutsch-israelische Beziehungen: Israels Botschafter Schimon Stein im Gespräch mit der IP

IP: Man sprach immer von „besonderen, durch die Geschichte geprägten deutsch-israelischen Beziehungen“, die aber auf der realpolitischen Ebene so gut funktionieren, dass man von „Normalität“ sprechen könne. Gibt es die?

Stein: In Deutschland befasst man sich mehr mit der Charakterisierung der Beziehungen als in Israel. Schon in den fünfziger Jahren begann man, von Normalität zu reden. Walter Scheel hat als Außenminister ebenfalls für „Normalität“ plädiert, Bundeskanzler Willy Brandt sprach 1973 von „normalen Beziehungen mit besonderem Charakter“ und selbstverständlich war immer wieder die Rede von „ausgewogenen Beziehungen,“ die Deutschland zu Israel und den arabischen Staaten gleichermaßen pflegen müsse.

Ich bevorzuge den Begriff „einzigartige Beziehungen,“ denn „besondere Beziehungen“ unterhält Deutschland auch mit Polen, Frankreich oder den USA. Die „Einzigartigkeit“ ist für mich im Hinblick auf den zivilisatorischen Bruch von Auschwitz ein zutreffender Begriff. Normal sind die üblichen Instrumente der Beziehungen wie Abkommen, und hier verfügen wir über eine ganze Reihe, bis auf ein Kulturabkommen, das wir noch nicht unterzeichnet haben.

Aber die Einzigartigkeit aufgrund der Geschichte bleibt bestehen. Deshalb war das Verhältnis zwischen Israelis und Deutschen von Beginn an nicht spannungsfrei. Es war von hohen Erwartungen der Israelis getragen. Dementsprechend sind auch Enttäuschungen eingetreten. Man kann das in den letzten Jahren an drei wichtigen Punkten beobachten: die Art, wie der Nahost-Konflikt in der deutschen Öffentlichkeit widergespiegelt wird, die Haltung der Europäischen Union und die Prozesse, die in Deutschland unter anderem mit dem Generationswechsel zu tun haben und mit einer erneuten, starken Sehnsucht nach Normalität.

IP: Das heißt, die Beziehungen sind zwar oberflächlich normal, aber es fehlt an Engagement und Wärme?

Stein: Seit ich hier bin, bemerke ich einen Mangel an Empathie, weil die Juden beziehungsweise die Israelis in Deutschland nicht mehr die Rolle des Opfers einnehmen. Diese Rolle gehört heute den Palästinensern. Dieser Trend begann mit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967. Zuerst konnte Israel kurzfristig Sympathien verbuchen, danach ging es bergab.

Terror ist Terror. Über eine Defini-tion von Terrorismus sind wir uns doch einig. Dennoch werden Sie keinen deutschen Politiker finden, der die Attentate von Djerba, Bali oder Beslan in einem Atemzug mit denen in Tel Aviv, Jerusalem oder Natania erwähnen wird, wenn wir über die Bedrohung oder über die Terroropfer sprechen.

IP: Glaubt man, Israel „verdiene“ den Terror wegen der Besatzung?

Stein: So weit werde ich nicht gehen, aber eine zufrieden stellende Antwort habe ich noch nicht gefunden. In einer Meinungsumfrage der EU vom Oktober 2003 gaben 65 Prozent der Deutschen an, sie hielten Israel für die größte Bedrohung des Weltfriedens, noch vor Staaten wie Syrien, dem Irak oder Iran. So, wie man den Terror gegen Israel hier bewertet, war das nicht wirklich überraschend für mich, bedeutete aber dennoch eine tiefe Zäsur. Ich habe mich ernsthaft gefragt: Ist das eine Ausnahme oder symptomatisch?

IP: Der CDU-Abgeordnete Martin Hohmann wurde nach seiner Rede über die Juden als„Tätervolk“ aus der Partei ausgeschlossen. Handelt es sich dabei nur um vordergründige Aktionen?

Stein: Einerseits wird der Holocaust zu einem zentralen Punkt des europäischen Diskurses – übrigens losgelöst von Israel. Andererseits gibt es auch in Deutschland im Laufe der Zeit Enttabuisierungen. Umfragen zeigen, dass es in der deutschen Bevölkerung seit vielen Jahren 15 bis 20 Prozent latenten Antisemiten gibt. Doch bei den Ausfällen Martin Hohmanns oder Jürgen Möllemanns – und es gibt auch noch eine Reihe anderer trauriger Beispiele wie zum Beispiel die Art der Formulierung im Gesetzesvorschlag zu den Gedenkstätten im Osten, der einen Versuch darstellt, die Verbrechen der SED-Diktatur mit denen der Nazis gleichzusetzen – handelt es sich um Geschehnisse, die nicht mehr am Rande der Gesellschaft, sondern in deren Mitte passieren. Möllemann ist gescheitert, aber das sagt nichts. Er versuchte auf ein Potenzial in der Gesellschaft abzuzielen, das für solche Rhetorik anfällig ist. Man muss sich mit diesen Symptomen ernsthaft befassen und nicht so tun, als seien sie Betriebsunfälle. Mit der Zeit verliert die Gesellschaft ihre Empfindlichkeit und Sensibilität.

IP: Auch die politische Elite setzt sich nicht mit Empathie für das Verhältnis zu Israel ein?

Stein: Ich möchte das nicht verallgemeinern, aber manchmal hat man dieses Gefühl. Als Anfang der fünfziger Jahre die „Wiedergutmachung“ – ein schrecklicher Begriff – diskutiert wurde, veröffentlichte Allensbach eine Meinungsumfrage, in der sich 40 Prozent der Deutschen gegen das Abkommen aussprachen! Die Wiederbewaffnung hatte Vorrang vor der Wiedergutmachung. Von Anfang an hatte man sich mit diesem Thema schwer getan, genauso übrigens wie mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Man ist eher hineingestolpert.

IP: Was gibt es dann jetzt zu feiern?

Stein: Es ist ein Wunder, dass wir nach 40 Jahren überhaupt eine gewisse „Normalität“ erkennen können, trotz der Schwierigkeiten, die es auf deutscher Seite und übrigens in der Anfangsphase auch auf israelischer Seite gab. In Vorbereitung auf dieses Jubiläumsjahr habe ich die stenographischen Berichte der Knesset über die Aufnahme der Verhandlungen zum so genannten Wiedergutmachungsabkommen von 1952 gelesen. Der damalige Oppositionsführer Menahim Begin lehnte Zahlungen aus Deutschland vehement ab. Er hielt das sogar für eine Frage von Leben und Tod. Trotzdem konnten wir miteinander ins Gespräch kommen und sogar eine positive Bilanz ziehen.

IP: Aber doch auf niedrigem Niveau?

Stein: Das ist eine Frage der Erwartungen. Für manche ist das zuviel, für andere ist es zu wenig. Am Ende ist es uns trotz des Abgrunds gelungen, Brücken zu schlagen und einen Dialog auf der politischen Ebene und mit der Zivilgesellschaft zu führen.

Auf der internationalen Ebene ist Deutschland ein verlässlicher Partner. Im Rahmen der EU haben sich Bundesregierungen bemüht, Verständnis für israelische Positionen einzubringen. Leider ist das nicht immer gelungen. Übrigens irritiert mich, dass deutsche Politiker sich beständig zum Existenzrecht des Staates Israel bekennen, das doch eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Ich höre ja auch nicht, dass man sich tagtäglich zum Existenzrecht Frankreichs bekennt. So stellt man unbewusst Israels Existenz doch stillschweigend in Frage. Uns geht es um die Anerkennung des legitimen Rechts des jüdischen Staates durch unsere Nachbarn.

IP: Könnte Israel sich auf Deutschland verlassen, wenn tatsächlich einmal die Existenz des jüdischen Staates auf dem Spiel stünde?

Stein: Hoffentlich. Am Ende verlasse ich mich auf mich selbst. Israel hat auch die Amerikaner nie um Soldaten gebeten, sondern nur um Material und politische Unterstützung. Uns ist es wichtig, mit deutscher Unterstützung unsere Beziehungen zur EU aufzubauen. Die Integration der Europäischen Union ist ein großartiges Projekt und wir freuen uns, dass es zwischen Israel und der Union inzwischen im Rahmen der Nachbarschaftspolitik zu Annäherungen kommt. Unsere Zukunft liegt für uns in den Beziehungen zur Europäischen Union. Genauso wie wir die EU brauchen, braucht auch die EU uns in diesem Teil der Welt. Nicht alle verstehen das.

IP: Sollte Israel dann nicht formell einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen?

Stein: So weit sind wir noch nicht. Wir haben noch zahlreiche Defizite, die wir abbauen müssen. Das Assoziierungsabkommen aus dem Jahre 2000 ist ein Schritt. Die Nachbarschaftspolitik stellt noch einen weiteren Beitrag dar, wenn es uns gelingt, diese Agenda zu implementieren. Aber wir sind auf eine Mitgliedschaft heute noch nicht vorbereitet und außerdem: „it takes two to tango“.

IP: Wäre es denn ein erster Schritt, in die NATO einzutreten?

Stein: Die NATO ist für eine Mitgliedschaft Israels noch nicht vorbereitet. Wir sollten den Fluss nicht mit einem Sprung überqueren. Für die nächste Zeit möchten wir eine Annäherung an die NATO ähnlich dem Modell Finnlands oder Schwedens. Dabei hoffen wir sehr, dass die NATO erhalten bleibt. Ich sehe hier viele gemeinsame Interessen, zumindest in Hinblick auf zwei wichtige Ziele für die NATO, und das ist die Bedrohung durch den Terror und durch Massenvernichtungswaffen. Es gäbe noch zahlreiche Beispiele, wie Israel von der NATO sehr profitieren kann und umgekehrt. Wir stellen uns eine schrittweise, bilaterale Annäherung vor.

Was aber Deutschland und die Europäische Union betrifft, so glaube ich, dass mit der wachsenden Integration der Außen- und Sicherheitspolitik eine nationale Politik und bilaterale Beziehungen immer schwieriger werden. Deutschland kann sich zwar im Rahmen der EU um eine ausgewogenere europäische Politik bezüglich Israel bemühen. Aber es kann seine Einstellung zu Israel auch nicht 100-prozentig in die europäische Politik einfließen lassen.

IP: Das klingt, als ob Sie von Deutschland wenig erwarten …

Stein: In der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union gibt es nicht viele Themen, über die man sich einig ist. In Sachen Nahost kommt man allerdings sehr schnell zu einem Konsens, nicht umsonst war das Thema Nahost, als die europäische politische Zusammenarbeit im Jahre 1969 in Den Haag begonnen hat, nach der KSZE das zweite Thema auf der Agenda. Doch die seit den siebziger Jahren stattfindende Abgabe nationalstaatlicher Kompetenzen zugunsten einer einheitlichen Position könnte sich auch in den deutsch-israelischen Beziehungen nicht unbedingt positiv niederschlagen. Auch wenn sich vor allem der deutsche Außenminister sehr für eine ausgewogene europäische Nahost-Politik einsetzt. Über die Politik hinaus hat uns Deutschland sehr geholfen, unsere Beziehungen im Bereich Forschung und Wissenschaft, aber auch im wirtschaftlichen Bereich zu vertiefen.

IP: Die aus der Geschichte resultierende Verpflichtung bleibt bestehen?

Stein: Für Israel bleibt die Schoa ein Bestandteil der israelischen und jüdischen Identität. Sie bleibt auch ein Bestandteil der deutschen Identität. Wann immer Deutsche sich mit ihrer Identität befassen, befasst man sich auch mit uns. Es kommt jetzt auf die deutsche politische Elite an, sich mit der Bedeutung der Vergangenheit im Prozess einer Normalisierung auseinander zu setzen. Wie immer man zur gegenwärtigen Auseinandersetzung mit der Geschichte steht: man muss sagen, dass die deutsche Gesellschaft mehr als andere, die das ebenfalls tun mussten, bei der Aufarbeitung der Vergangenheit eindrucksvolle Arbeit geleistet hat.

IP: Wie sieht der israelische Blick auf Deutschland aus?

Stein: Beobachter stellen eine gewisse Schizophrenie in der israelischen Wahrnehmung fest. Einerseits bleiben die Deutschen als Täter im Bewusstsein. Meinungsumfragen bestätigen, dass das auch für 60 Prozent der Jugendlichen gilt. Andererseits gibt es die Bewunderung für den deutschen Wohlstand, die Landschaft ...

Diese Ambivalenz gilt genauso für die Deutschen. Einerseits sind die Israelis die Opfer. Andererseits sehen uns manche im Hinblick auf unser Vorgehen gegen die Palästinenser als Täter.

IP: Und was ließe sich zur Verbesserung der Beziehungen unternehmen?

Stein:Die deutsche Gesellschaft muss darüber debattieren, welche Rolle Erinnerung in Zukunft spielen wird. Ich als Israeli kann Ihnen dabei keine Ratschläge geben. Neben der Säule der Vergangenheit brauche ich aber auch Säulen der Gegenwart und Zukunft. Hier können sich beide Gesellschaften die Frage nach Gemeinsamkeiten stellen – von denen es in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, aber auch in der Kultur sehr viele zwischen Israel und Deutschland, aber auch zwischen Israel und der EU gibt. Deutschland ist ein Brückenbauer zwischen der EU und Israel. Die 40 Jahre diplomatischer Beziehungen sollten wir zum Anlass nehmen, intensiv über eine gemeinsame Agenda nachzudenken. Und ich bleibe dabei: Deutschland bleibt – jenseits der Vergangenheit – relevant für die Zukunft dieses Kontinents. Deshalb ist es für uns auch wichtig, unser gemeinsames Potenzial mit der Hoffnung auf eine bessere gemeinsame Zukunft zu nutzen.

Das Gespräch führten Sabine Rosenbladt und Sylke Tempel.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 102 - 105.

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