Erotisches Kapital
... und warum es unterschätzt wird
Die Vereinten Nationen beweisen es mit ihren Human Development Reports schon lange: Für Wachstum und Entwicklung sind auch Faktoren wie Bildung, kulturelle Werte oder Chancengleichheit für Mädchen und Frauen ausschlaggebend. Einen Faktor aber übersahen die Sozialwissenschaften bislang: das erotische Kapital vor allem von Frauen. Für den sozialen Aufstieg ist es ebenso bedeutend wie Humankapital.
Empörung ist oft die Reaktion, die europäische Touristen bei einem Besuch der Chandella-Tempel im zentral-indischen Khajuraho zeigen. Denn die Tempelanlage ist übersät von Reliefs verführerischer Göttinnen und lebensechter Darstellungen von Sex in den exotischsten Positionen – einige sind derart anspruchsvoll, dass gleich mehrere überirdische Schönheiten unterstützend eingreifen. Auf westliche Betrachter wirkt dieses überbordende Fest der Sinnlichkeit, Sexualität und weiblichen Schönheit anstößig und geradezu pornografisch, dem religiösen Kontext zumindest unangemessen. Es steht im scharfen Kontrast zu den Bildern, die in christlichen Kirchen gezeigt werden: das Leid Christi, seine Geißelung und Kreuzigung, schließlich sein Sterben, umgeben von klagenden Frauen. Diese europäische Fixierung auf Schmerz und Elend stößt wiederum in anderen Kulturen auf Unverständnis. Sie findet ihre Fortsetzung in der puritanischen, angelsächsischen Ablehnung von Schönheit, Sinnlichkeit und Genuss in allen Formen. Ganz offensichtlich genießen Schönheit und erotisches Kapital in anderen Kulturen einen anderen Stellenwert. Was aber genau ist erotisches Kapital?
Eine schwer greifbare Mischung aus Sexappeal, äußerer Schönheit und sozialer Attraktivität, die manche Menschen besonders anziehend macht. Um soziale Interaktion, gesellschaftliche Mobilität und ökonomische Prozesse zu verstehen, ist erotisches Kapital, dessen Bedeutung und Wert in den sexualisierten und individualisierten modernen Gesellschaften enorm gewachsen ist, nicht weniger wichtig als wirtschaftliches, kulturelles und soziales Kapital.
Dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu ist die erste Unterscheidung zwischen wirtschaftlichem, kulturellem und sozialem Kapital zu verdanken. Diese Konzepte erwiesen sich als so brauchbar, dass sie in sämtlichen Zweigen der Sozialwissenschaft aufgegriffen wurden und Eingang in die Alltagssprache fanden. Mit ökonomischem Kapital sind die Ressourcen und das Vermögen gemeint, die eingesetzt werden können, um wirtschaftlichen Gewinn zu erzielen. Kulturelles Kapital umfasst Informationen und Ressourcen wie Bildung, die sozial wertgeschätzt werden, ähnlich wie das kulturelle und wirtschaftliche Gut des Humankapitals, das gegen Einkommen „getauscht“ werden kann. Mit sozialem Kapital sind die tatsächlichen oder potenziellen Ressourcen gemeint, über die eine Person aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem Netzwerk oder einer gesellschaftlichen Gruppe verfügt. Es bringt finanziellen Gewinn, Macht und Einfluss und schafft Mobilität. Politisches Kapital ist eine spezielle Form von sozialem Kapital, das sich auf die politischen Netzwerke von Personen bezieht. Mit dieser Typologie lässt sich beispielsweise erklären, warum Menschen mit wenig oder gar keinem ökonomischen Kapital in marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften trotzdem Erfolg haben: Sie setzen andere Mittel ein.
Was ist schön?
Nun kommt mit erotischem Kapital eine facettenreiche, bislang wenig beachtete Form von Kapital hinzu. Schönheit ist natürlich ein zentrales Element, auch wenn deren Definition historisch und kulturell variiert. In vielen afrikanischen Gesellschaften gelten Frauen mit üppigen Formen als schön; in der westlichen Welt dagegen sind Models hoch gewachsen und spindeldürr. In manchen Epochen galten puppenhafte Gesichtszüge als Schönheitsideal, während man heute Männer und Frauen mit profilstarken Gesichtern bevorzugt. Schönheit lässt sich erarbeiten, ist aber, wie auch immer man sie definiert, ein knappes Gut und darum von universellem Wert.
Als zweites Element kommt sexuelle Attraktivität ins Spiel, die sich unter Umständen stark von klassischer Schönheit unterscheidet. Schönheit entsteht meist mit einem anziehenden Gesicht; bei sexueller Attraktivität geht es meist um einen begehrenswerten Körper. Sexappeal rührt aber auch von Persönlichkeit oder Stil, von einer bestimmten Art, sich in der Welt zu bewegen und zu interagieren. Schönheit ist statisch, man kann sie fotografieren. Sexuelle Anziehung dagegen lebt von den Bewegungen eines Menschen, von seinem Verhalten, seiner Stimme. Sie lässt sich nur im Film festhalten. Auch hier gilt allen Geschmacksunterschieden zum Trotz: Sexappeal ist knapp – und darum umso wertvoller.
Das dritte Element von erotischem Kapital ist eindeutig sozial: Interaktionsfähigkeit gehört dazu, aber auch Charme, Anmut, ein einnehmendes Wesen und nicht zuletzt die Gabe, anderen Menschen ein gutes Gefühl zu vermitteln, sodass man von ihnen gemocht und gegebenenfalls begehrt wird. Diese sozialen Fähigkeiten werden geschätzt. Lebendigkeit ist ein viertes Element, das eine Mischung aus körperlicher Fitness, sozialer Energie und Humor umfasst. Das fünfte Element betrifft die soziale Präsentation: Kleidung, Make-up, Parfum, Schmuck, Frisuren und Accessoires – Menschen schmücken sich auf vielfältige Weise, um ihren sozialen Status und persönlichen Stil öffentlich zu unterstreichen. Monarchen und Präsidenten demonstrieren mit ihrer Kleidung ihre Macht und Autorität.
Das sechste Element wären sexuelle Energie und Kompetenz. Dieses Element betrifft normalerweise nur private, intime Beziehungen, während die anderen fünf Elemente in allen sozialen Kontexten – sichtbar oder unsichtbar – zum Tragen kommen.
Diese sechs Elemente erotischen Kapitals gelten grundsätzlich für Männer und Frauen. Ihre relative Bedeutung variiert aber je nach Geschlecht, Kultur und Zeit. In Papua-Neuguinea schmücken Männer ihr Haar und bemalen ihre Gesichter mit grellen Farben und kreativen Mustern. In der westlichen Welt schminken sich Frauen, Männer eher selten. Ob erotisches Kapital besonders wertvoll ist oder nicht, hängt auch von der Art des Berufs ab. Hightech-Spezialisten brauchen es normalerweise nicht, während es bei japanischen Geishas zentraler Bestandteil ihres Berufs ist. In Unterhaltungsberufen ist der soziale und ökonomische Wert von erotischem Kapital besonders hoch.
Oft ist das erotische Kapital einer Frau untrennbar mit ihrer Fruchtbarkeit verknüpft. In manchen westindischen Stämmen ist Fruchtbarkeit ein so zentraler Bestandteil des weiblichen Sexappeals, dass Mädchen schon vor ihrer Hochzeit ihre Fortpflanzungsfähigkeit unter Beweis stellen, indem sie ein gesundes Baby gebären. In Indien gelten kinderlose Paare automatisch als bemitleidenswert. Fruchtbarkeit ist daher ein siebtes Element von erotischem Kapital (das naturgemäß nur Frauen nutzen können). In manchen Kulturen ist dieses Element so bedeutsam, dass es Frauen automatisch einen Vorteil verschafft. In den modernen Industriegesellschaften hingegen spielt das „reproduktive Kapital“, verglichen mit den hohen Geburtenraten früherer Agrargesellschaften, nur noch eine untergeordnete Rolle.
Erlernt oder erworben?
In den Sozialwissenschaften ist erotisches Kapital bislang wenig beachtet worden. Allerdings haben einige Forscher eine gewisse Vorarbeit geleistet. Die nützlichsten Beiträge zu diesem Thema stammen von Soziologen und Psychologen wie James E. Webster und Murray Driskell (On Beauty; 1983). Sie entwickelten die ebenso elegante wie schlichte Theorie, dass physische Attraktivität den sozialen Status erhöht. Schönheit ist in jeder Gesellschaft eine teuer gehandelte Ware und daher ein Luxusgut. Webster und Driskell verweisen auf eine Reihe von Untersuchungen, denen zufolge Schönheit erhebliche finanzielle und soziale Vorteile verschaffen kann. Wer beliebt und in Auseinandersetzungen überzeugender ist, wirkt kompetenter, hat mehr Einfluss auf andere Menschen und mehr Erfolg in Beruf und Ehe. Zwar räumen die beiden ein, dass Schönheit kulturspezifisch und damit relativ ist. Die sozialen Auswirkungen hingegen sind absolut messbar.
Mit dem Ausdruck „Emotionsarbeit“ (emotional labour) greift die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild das dritte Element von erotischem Kapital auf: Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Bereich sozialer Kompetenz und vertritt dabei die These, dass von Frauen viel eher als von Männern erwartet wird, in ihrem Beruf „Emotionsarbeit“ zu leisten.
Eine weitaus umfassendere Theorie von Benehmen und Emotionsmanagement legte in den dreißiger Jahren Norbert Elias vor. In seinem Werk „Über den Prozess der Zivilisation“ beschrieb er die Verinnerlichung von Normen, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, Emotionsmanagement und Höflichkeit als zentrale Motoren des Zivilisationsprozesses in allen Gesellschaften. Dieses Verhalten werde gewohnheitsmäßig, automatisch und scheinbar instinktiv angewandt, und zwar in allen Lebensbereichen. Solche Normen und Verhaltensmuster entwickelten sich zunächst in den höheren gesellschaftlichen Schichten und sickerten allmählich auch „nach unten“. Elias war überzeugt, dass gerade Frauen aufgrund ihrer hauptsächlichen Zuständigkeit für die Erziehung der Kinder in besonderem Maße für die Weitergabe friedlicher Verhaltensnormen sorgten. Er hielt alle Emotionen für angelernt und sozial konstruiert. Diese Auffassung wird von der jüngeren Forschung bestätigt. So ist die westliche Fixierung auf „wahre Liebe“ keineswegs universell.
Elias beschäftigte sich nicht mit erotischem Kapital per se, doch seine Theorie des Zivilisationsprozesses lässt sich auch auf private, sexuelle Beziehungen anwenden. Sie erklärt, warum erotisches Kapital in modernen Gesellschaften immer wichtiger wird und sie bekräftigt, dass Sexualität eine Form der Darstellung ist, die Menschen in Fleisch und Blut übergeht. Schließlich umfasst sie auch das Phänomen des Emotionsmanagements. Bereits vor 60 Jahren beschrieb Simone de Beauvoir Sexualität als Performance. Niemand werde als Frau oder Mann geboren – vielmehr seien „männlich“ und „weiblich“ erlernte, gesellschaftlich vorgegebene Rollen. Je gewandter diese Rollen ausgefüllt werden, desto mehr wird der jeweilige Darsteller bewundert und oft auch beneidet. Weiblichkeit und die Darstellung von weiblicher Schönheit werden normalerweise am höchsten gewertet, vor allem in der Popkultur.
Schönheit und Attraktivität, und insbesondere weibliche Schönheit, sind eine Kreation, ein Kunstwerk – sie lassen sich mit Anstrengung und Einsatz erzielen. In den meisten Gesellschaften besitzen Frauen mehr erotisches Kapital als Männer, denn Frauen arbeiten intensiver an ihrer sexuellen Darstellung. Bemerkenswert ist, dass Männer im 21. Jahrhundert in Westeuropa mehr Zeit und Geld auf ihr Äußeres verwenden und intensiver an ihrem erotischen Kapital arbeiten als früher. Inzwischen besitzen Frauen aufgrund besserer Qualifikationen und ausgeprägterer Berufserfahrung immer mehr ökonomisches Kapital, während Männer es nunmehr für notwendig erachten, ihr erotisches Kapital zu vermehren, anstatt sich wie früher einzig auf ihre Rolle als Ernährer zu beschränken.
Auf der ganzen Welt gilt sexuelle Attraktivität als Merkmal von Lebensqualität. Sexuelle Aktivität in all ihren Formen hat in den europäischen und außereuropäischen modernen Gesellschaften seit der durch die Pille verursachten sexuellen Revolution stark zugenommen. Großangelegte Sexualstudien, die in europäischen Staaten und China vor allem im Zusammenhang mit der AIDS-Prävention durchgeführt wurden, belegen dies. Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die einmal als universell und angeboren galten, wie etwa mathematische Begabung wurden inzwischen als soziales Konstrukt erkannt. Doch zwei Merkmale scheinen im Laufe der Zeit und auch über Kulturen hinweg nicht zu verschwinden: Männer sind deutlich aggressiver als Frauen, und sie haben eine fundamental andere Haltung zur Sexualität. Selbst wenn das erotische Kapital von Männern und Frauen gleich hoch wäre, würde die größere männliche Nachfrage nach sexueller Aktivität und erotischer Unterhaltung in allen Altersklassen Frauen automatisch wegen des großen Ungleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Markt einen Vorteil verschaffen.
Marktwert Erotik
Bisher waren Partnerschafts- und Heiratsmärkte relativ klein und geschlossen. Partnerschaften basierten auf passender Klassen- oder Kastenzugehörigkeit, Religion, Herkunft und Alter. Ehen wurden häufig von Eltern und Familienangehörigen beschlossen, und fast immer ging es um die Maximierung von ökonomischem und sozialem Kapital. In den modernen globalen „Selbstbedienungsmärkten“ spielt erotisches Kapital für die Partnersuche eine größere Rolle als je zuvor. Die Bedeutung von erotischem Kapital in modernen Wohlstandsgesellschaften wächst – auf dem Arbeitsmarkt, in den Medien, in der Politik, Werbung, im Sport und in der Kunst. Ein Großteil der populären Ratgeber-Literatur widmet sich der Maximierung des erotischen Kapitals, um den eigenen Marktwert zu erhöhen und um sich in eine nettere, glücklichere, attraktivere und erfolgreichere Person zu verwandeln. Erotisches Kapital ist eine Ressource, deren Bedeutung steigt und die ebenso wichtig ist wie ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital.
Frauen können also ihr erotisches Kapital sowohl auf dem Heirats- als auch auf dem Arbeitsmarkt einsetzen. Obwohl der Arbeitsmarkt heute offener ist als je zuvor, bleibt der Heiratsmarkt für Frauen eine wichtige soziale Aufstiegsmöglichkeit. Auch die Forschung bestätigt, dass Heirats- und Arbeitsmarkt für Frauen in modernen Gesellschaften gleich wichtige Wege zu sozialem Status und zu mehr Wohlstand sind. Insgesamt entspricht der Wert des erotischen Kapitals im 21. Jahrhundert ungefähr dem Wert des weiblichen Humankapitals.
Erst vor kurzem haben Ökonomen begonnen, den ökonomischen Wert von erotischem Kapital zu messen. In einer viel beachteten Untersuchung von Daniel Hamermesh und Jeff Biddle (1994) analysieren die beiden Forscher Datensätze aus drei nationalen Erhebungen (zwei aus den USA und eine aus Kanada), in die auch die Einschätzung der Interviewer zur Attraktivität der Befragten sowie Informationen zum Einkommen und Beschäf-tigungsverhältnis einflossen. Hamermesh und Biddle fanden heraus, dass unterdurchschnittlich attraktive Menschen weniger verdienen als durchschnittlich attraktive. Diese wiederum verdienen weniger als besonders attraktive Männer und Frauen. Dieser „Schönheitsbonus“ reichte von einem Prozent bis maximal 13 Prozent bei Frauen, während die Abzüge aufgrund von geringer Attraktivität bei zwischen ein und zehn Prozent lagen. Weder der „Schönheitsbonus“ noch die Abzüge ließen sich mit unterschiedlicher Intelligenz, sozialer Herkunft oder verschieden ausgeprägtem Selbstbewusstsein erklären.
Hamermesh und Biddle konnten auch nachweisen, dass der „Schönheitsbonus“ sich in allen Berufssparten beobachten ließ. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangen auch ähnliche Studien in anderen Ländern und Fallstudien zur Wirkung von Attraktivität in bestimmten Berufen, in denen soziale Interaktion eine herausgehobene Bedeutung hat, zum Beispiel für Anwälte und Manager. In England beispielsweise beobachtete Barry Harper einen beträchtlichen Einkommenszuwachs bei Menschen, die groß und/oder attraktiv sind, und umgekehrt beträchtliche Abzüge bei übergewichtigen Frauen, mit sogar noch deutlicheren Unterschieden als in den in Nordamerika durchgeführten Untersuchungen. Zwar gab es auch hier wieder Belege dafür, dass Menschen sich selbst in Berufe begeben, in denen gutes Aussehen entweder besonders honoriert wird oder in denen schlechtes Aussehen besonders unwichtig ist. Generell scheint der private Sektor mehr gut aussehende Menschen anzuziehen als der öffentliche Sektor.
2009 zeigte eine Untersuchung von Timothy Judge, Charlice Hurst und Lauren Simon, dass gutes Aussehen, Intelligenz, Persönlichkeit und Selbstbewusstsein das Einkommen von sowohl Männern als auch Frauen beeinflussen. Abgesehen von Intelligenz erhöht vor allem gutes Aussehen das Einkommen, denn es stärkt die Persönlichkeit, steigert die Bildungserfolge und schafft mehr Selbstbewusstsein. Insgesamt ist die Wirkung von Attraktivität auf das Einkommen ungefähr gleich hoch wie der Einfluss einer guten Ausbildung oder eines starken Selbstwertgefühls. Auch wenn Intelligenz der mit Abstand wichtigste Faktor bleibt, sind attraktive Menschen sozialer, überzeugender und darum erfolgreicher in ihren Berufen.
Die Ignoranz der Sozialwissenschaft
Warum aber wird erotisches Kapital in den Sozialwissenschaften bisher so hartnäckig ignoriert? Dieses Versäumnis von Pierre Bourdieu und seinen Kollegen zeugt von nichts anderem als von einer anhaltenden Dominanz männlicher Perspektiven in der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften. Es ist umso bemerkenswerter, als Bourdieu die Beziehung zwischen Mann und Frau und den unausweichlichen Wettbewerb um Kontrolle und Macht in seiner Studie „La Domination Masculine“ durchaus untersucht hat. Wie viele andere war aber auch Bourdieu lediglich an den drei klassenbasierten Kapitalarten interessiert – ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital. Erotisches Kapital unterscheidet sich von diesen: Es ist nicht mit sozialer Herkunft und Status kontrollierbar und hat daher einen subversiven Charakter.
Das legt einen Schluss nahe: Der Bereich des erotischen Kapitals ist übersehen worden, weil die Sozialwissenschaften bislang eher auf das Studium männlicher Aktivitäten und Interessen fixiert waren. In dieser Voreingenommenheit spiegelt sich eine noch immer vorhandene Hegemonie der Männer, die gerne beschworen, dass der viel beschworene „Schönheitsbonus“ eher diskriminierend für Frauen sei als nutzbringend. Frauen, die ihre Schönheit oder Sexualität offen zur Schau stellen, werden als weniger intellektuell degradiert. Gerade das Christentum war nicht eben zurückhaltend, wenn es darum ging, Sexualität und alles, was damit zusammenhängt, zu missbilligen und als unrein, schambehaftet und überhaupt als niederen Trieb herabzuwürdigen.
Am wirkungsvollsten zeigt sich diese Struktur in der Missbilligung und Verurteilung weiblicher Prostitution. Untersuchungen zeigen, dass europaweit nur wenige Menschen Prostitution als normalen Beruf erachten. Frauen, die in der Sexindustrie arbeiten, werden als Opfer, Verliererinnen, inkompetent und suchtgefährdet wahrgenommen – als Menschen, mit denen man keinen sozialen Kontakt pflegen möchte. In vielen Staaten, beispielsweise in den USA, ist Prostitution gesetzeswidrig und wird so in die Illegalität gedrängt. Selbst in Staaten, in denen Prostitution offiziell legal ist, beispielsweise Großbritannien, Finnland oder Kenia, wird sie stigmatisiert und kriminalisiert.
Nicht nur gelten käuflicher Sex und sexuelle Dienstleistungen als Schande, sondern alle Situationen, in denen es zu irgendeiner Art von Tausch von erotischem Kapital gegen Status oder Geld kommt. Dies ist eine patriarchalische Moralvorstellung, die den ökonomischen Wert von erotischem Kapital leugnet, und sie funktioniert ganz ähnlich in anderen Branchen, beispielsweise im Pflegedienst. Das Prinzip, Liebe und Zuwendung seien nicht käuflich, rechtfertigt dort niedrige Gehälter.
Versagen des Feminismus
Warum ist es Frauen und speziell Feministinnen nicht gelungen, den Wert von erotischem Kapital zu erkennen und aufzuwerten? Ganz offensichtlich ist es der Feministischen Theorie nicht gelungen, die geltenden Denkmuster zu durchbrechen. Sie hat sie nach außen wohl bekämpft, in Wirklichkeit aber eher verfestigt.
In der Feministischen Theorie wird eine falsche Dichotomie aufgestellt: Entweder wird eine Frau aufgrund ihres Humankapitals, also aufgrund ihrer Intelligenz, Bildung, Arbeitserfahrung und ihres beruflichen Engagements geschätzt – oder wegen ihres erotischen Kapitals, ihrer Schönheit, ihres Stils, ihrer Sexualität, ihres Charmes. Es ist nicht vorgesehen, dass Frauen beides besitzen und nutzen. So konnte die Feministische Theorie zwar die empirische Forschung durchaus innovativ und erfolgreich bereichern, aber nicht die männliche Hegemonie in der theoretischen Sozialwissenschaft brechen. Feministinnen bestehen weiterhin darauf, dass die gesellschaftliche Stellung von Frauen exklusiv auf ihrem Humankapital basieren sollte. Sie sollen in Ausbildung und Bildung investieren, anstatt ihr erotisches Kapital zu nutzen und in „Ehekarrieren zu verschleudern“. Die Europäische Kommission hält sich strikt an diese ideologischen Vorgaben, wenn sie darauf besteht, Geschlechtergleichheit ausschließlich in Beschäftigungsraten, Zugang zu Spitzenposten und Einkommensunterschieden zu messen. Das Ergebnis ist: Frauen ohne Beruf und Einkommen werden diskriminiert und gelten automatisch als „ungleich“.
Natürlich ist der feministische Diskurs vielfältig und befindet sich in permanenter Weiterentwicklung. Grundtenor bleibt jedoch, dass Frauen Opfer von männlicher Unterdrückung seien. Heterosexualität wird zu etwas Verdächtigem, sozusagen zu einem Pakt mit dem Feind, und der Einsatz von erotischem Kapital wird zu einem verräterischen Akt. Der Postfeminismus umgeht zwar auf den ersten Blick diese Denkfalle, sieht er doch Männer nicht mehr als Wurzel allen Übels für Frauen. Doch auch der Postfeminismus kann sich nicht von der puritanischen, angelsächsischen Askese und ihrer hartnäckigen Abneigung gegenüber Schönheit und Sinnlichkeit lösen.
Geradezu beispielhaft ist das Buch der kanadischen Autorin Naomi Wolf „Mythos Schönheit“ – eine Schmähschrift gegen die wachsende Bedeutung von Schönheit und sexueller Attraktivität, das gerade unter Feministinnen große Zustimmung gefunden hat. Hier spiegelt sich eine sehr puritanische, angelsächsische Abneigung gegen das Sinnliche, Erotische und Schöne wider. Demnach sei es Unrecht, die äußere Erscheinung von Menschen zu berücksichtigen – erotisches Kapital wird so delegitimiert.
Stellt eine Schule der Feministischen Theorie Männer also als gewalttätige, sexuelle Ausbeuter von Frauen dar, löst eine andere Denkschule die Konzepte des biologischen (sex) und des sozialen Geschlechts (gender) auf, bis es keine Gegensätze mehr gibt, die sich gegenseitig anziehen könnten. Eine dritte Denktradition wiederum hält Schönheit und Genuss für gefährliche Irrwege. Zwischen diesen drei Denkschulen finden Vorstellungen von weiblicher erotischer Macht keinen Platz. Der feministische Blick ist offenbar derart getrübt, dass er nicht mehr in der Lage ist, Heterosexualität als Quell des Vergnügens, Genusses und der weiblichen Macht über Männer zu sehen.
Subversiv und unberechenbar
Die Khajuraho-Tempel in Indien erinnern daran, dass erotisches Kapital in anderen Kulturen durchaus gewürdigt wird, vor allem weibliche Schönheit und Verführungsmacht. Manche Kulturen akzeptieren das subversive, gesetzlose und unberechenbare Wesen der Sexualität. Im kommunistischen Russland beispielsweise waren Sex und Sexualität in der offiziellen Ideologie verpönt und auf die Ehe beschränkt, sodass sexuelle Affären zu einem subversiven Akt des Widerstands, zu einer Form der politischen Rebellion und zu einer Bekräftigung der persönlichen Autonomie wurden.
Am deutlichsten verkörpert wohl Brasilien eine Kultur, die erotisches Kapital akzeptiert und honoriert. Die Brasilianer erachten die Investition in kosmetische Chirurgie als vollkommen rational in einer Gesellschaft, in der Aussehen und Sexappeal eine große gesellschaftliche Geltung besitzen. Am deutlichsten wird diese Auffassung der offen zur Schau gestellten Erotik während des jährlichen Karnevals, an dem alle gesellschaftlichen Gruppen und Schichten beteiligt sind. Obwohl Heterosexualität in Brasilien kulturelle Norm bleibt, stoßen Homosexuelle, Bisexuelle und Transvestiten allesamt auf mehr Akzeptanz als in vielen anderen Staaten, und sie haben ihren speziellen Platz in den Samba-Paraden des Karnevals. Die große kulturelle und ethnische Vielfalt in Brasilien findet ihre Entsprechung in einer Vielfalt der Sexualität und der sexuellen Darstellung, die größer ist als irgendwo sonst.
Erotisches Kapital ist ein facettenreicher Aktivposten, der sich grundlegend von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital unterscheidet. Es ist überdies ein entscheidendes Konzept, um die sozialen Prozesse in der privaten und der öffentlichen Sphäre in den individualisierten Gesellschaften der modernen Industriestaaten zu verstehen. Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung des erotischen Kapitals wächst, es verschafft den Frauen einen gewissen Vorteil und es ist ein Schlüsselfaktor für die Veränderung des Status von Frauen in Wirtschaft und Gesellschaft. In bestimmten Bereichen des Arbeitsmarkts kann erotisches Kapital eine größere Wirkkraft entfalten als wirtschaftliches, soziales oder kulturelles Kapital – und ähnlich wie Humankapital kann es erarbeitet, entwickelt und erlernt werden.
Verschiedene Kulturen und Länder unterscheiden sich auch profund in der Wertschätzung dieses Kapitals. Klar ist allerdings, dass die westliche Sicht auch in diesem Punkt keineswegs universal ist.
Dr. CATHERINE HAKIM ist Senior Research Fellow an der London School of Economics and Political Science.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2010, S. 110 - 119