Erinnern für die Zukunft
Europas Verantwortung in der Welt
Trotz veränderter Weltlage fühlt sich Europa weiterhin verantwortlich für die Lösung globaler Fragen. Doch wie will es Einfluss ausüben? Die Antwort lautet: durch produktive Macht. Auch nach 1989 kann Europa seinen Beitrag leisten, wenn es vier Voraussetzungen beachtet. Vor allem muss Europa seinen Worten auch Taten und Mittel folgen lassen.
1 Die hierzulande immer noch gebräuchliche Version der Weltkarte, auf der Europa in der Mitte liegt, bildet die Verhältnisse nicht mehr adäquat ab. Europa ist nicht mehr die Mitte der Welt, es ist nicht mehr das dynamische Gravitationszentrum. Im soben erschienenen Bericht des National Intelligence Council „Global Trends 2025 – A Transformed World“ 2 findet man Europa als Ganzes nur in der Kategorie „andere Schlüsselakteure“ und nicht mehr in der ersten Klasse. Nach den Berechnungen von Goldman Sachs werden die großen europäischen Volkswirtschaften, die gemessen am Bruttosozialprodukt weltweit noch die Plätze 3 (Deutschland), 5, 6 und 7 (Großbritannien, Frankreich, Italien) belegen, bis 2050 stark abrutschen.3 Keine der sechs größten Volkswirtschaften der Welt wird dann noch eine europäische sein.
Vor diesem Hintergrund mutet das Selbstverständnis Europas bzw. der EU als zentraler oder gar wichtigster Akteur bei der Bewältigung der globalen Probleme eigenwillig an. Gäbe es einen „Global Responsibility Indicator“, dürfte Europa zumindest in der Selbstbeschreibung einen Spitzenplatz einnehmen. Nirgendwo sonst werden die globalen Herausforderungen und Gefahren so intensiv diskutiert wie in Europa. Die gefühlte globale Verantwortlichkeit ist sehr hoch: Wer, wenn nicht Europa, soll das Weltklima retten? Wer tritt weltweit für die Einhaltung der Menschenrechte ein? Kann es eine Lösung der globalen Finanzkrise ohne Europa geben? Nur Europa kann die USA auf einen vernünftigen Weg bei der Terrorismusbekämpfung bringen, und die dringend notwendige Zivilisierung und Verrechtlichung der Weltpolitik ist Europas Projekt schlechthin.
Deckt sich dieses Selbstbild mit der Realität? Wie kann das weltpolitisch randständige Europa den Umgang mit den Weltgefahren beeinflussen, mitbestimmen und auf den richtigen Weg bringen? Europa und insbesondere Deutschland geben sich in dieser Hinsicht etwas skurril. Man schreibt sich eine gewichtige Rolle bei der Rettung der Welt zu, glaubt dies aber ohne Macht erreichen zu können.
Macht wird aber seit Max Weber als die Möglichkeit definiert, das Verhalten anderer gegen deren Willen oder durch die Beeinflussung von deren Willen umzulenken.4 Einfluss ohne Macht gibt es folglich nicht und ohne Einfluss kann man den Gang der Dinge nicht mitbestimmen, geschweige denn den globalen Gefahren begegnen. Die Vorstellung eines auf die Kategorie der Macht verzichtenden, aber dennoch einflussreichen Europas ist also in sich widersprüchlich.
Drei Formen der Macht
Mit unterschiedlichen Formen oder Phasen der Macht kann man die Rolle Europas in der Weltpolitik seit 1648 beschreiben und zeigen, wie die EU auch heute noch die Weltpolitik mitgestalten kann.
Die erste Phase beginnt mit der Entwicklung des Staatensystems im 17. Jahrhundert. Entscheidend war dabei die so genannte Beziehungsmacht. Bei dieser klassischen Form der Machtausübung bestimmen Staaten mit starkem Militär und großen finanziellen Ressourcen die Welt, indem sie schwächere Akteure mit Drohungen oder Versprechungen zu den von ihnen gewünschten Verhaltensweisen bringen oder gar mit Gewalt zwingen. Macht wird in diesem Sinne als Kontrolle über andere verstanden. Europa hatte damals eine solche Ressourcen- und Machtüberlegenheit im internationalen System und dominierte die Welt. Das Zeitalter des Kolonialismus und Imperialismus war dabei nur ihr extremster Ausdruck. Diese Epoche ging mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs zu Ende.
In der zweiten Phase zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Fall der Mauer beruhte die Bedeutung Europas auf struktureller Macht. Zwar verloren die europäischen Länder nach 1918 ihre absolute Ressourcenüberlegenheit und die USA sowie die Sowjetunion entwickelten sich zu Giganten. Doch die strukturelle Macht Europas blieb bestehen und erreichte vielleicht sogar ihren Höhepunkt. Internationale Politik fand nämlich nach wie vor im Rahmen der internationalen Normen und Institutionen statt, die von den mächtigen europäischen Staaten geschaffen worden waren. Viel mehr noch: Die Konflikte in Europa strukturierten die gesamte Welt. Zwischen den Weltkriegen besaß Europa eine erhebliche Chaosmacht und die ganze Welt wurde im Zweiten Weltkrieg durch Deutschland in der Mitte Europas in dieses Chaos hineingezogen.
Diese strukturprägende Macht blieb nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhalten. Der Eiserne Vorhang in Europa und später die Mauer in Berlin strukturierten die Weltpolitik. Jedes Ereignis von politischer Relevanz, ob in Afrika oder Lateinamerika, wurde in das Interpretationsschema „Ost-West-Konflikt“ gepresst. Selbst Entwicklungshilfe wurde entlang dieser Konfliktlinie vergeben. Zwar dominierten die beiden Supermächte mit jeweils nur einer partiell europäischen Identität die Weltpolitik, sie agierten im Kern aber in Strukturen, die europäischen Ursprungs waren. Daher konnten einige europäische Länder auch nach 1945 im Zentrum der weltpolitischen Bühne weiter agieren. Dass diese Phase ausgerechnet nach 1989, also dem Jahr, in dem Europa nochmals das Zentrum aller weltpolitischen Aufmerksamkeit wurde, zu Ende ging, mag paradox erscheinen. Aber Europa verlor mit dem Ende der Teilung seine Strukturierungsmacht. Nach klassischen machtpolitischen Indikatoren waren das vereinte Deutschland und das größere Europa viel mächtiger als vor 1989 – seinen weltpolitischen Status büßte Europa aber ein.
Produktive Macht
Seit 1989 prägen globale Fragen wie Klimaerwärmung, Finanzkrise und Terrorismus die Agenda. Europa ist nur noch einer von vielen Verursachern internationaler Probleme. Ist es angesichts fehlender Beziehungs- und Strukturmacht heute zum Zuschauen verdammt? Ist die Zeit Europas 1989 zu Ende gegangen? Nein: In einer Welt, in der Staaten durch transnationale Nichtregierungsorganisationen und soziale Bewegungen stärker an universelle Normen und internationale Institutionen gebunden werden, kann auch Einfluss durch produktive Macht ausgeübt werden 5 . Wer nämlich den Weg zu den Lösungen der globalen Probleme anleitet, der übt Einfluss aus. Dies kann durch das bloße Aufzeigen von Problemlösungen (Vorbildfunktion), durch die intensive Nutzung von transgouvernementalen und transnationalen Kommunikationskanälen sowie durch die Übernahme einer Führungsrolle in internationalen Verhandlungen erfolgen.
In den Fällen, in denen europäische Staaten auch nach 1989 noch erfolgreich und autonom Einfluss ausgeübt haben, kam jeweils eine Kombination dieser Einflusskanäle zum Zuge. Das gilt für die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs, für die Anti-Minen-Konvention und auch für die kleinen Erfolge der Klimapolitik. Dieser dritte Typus der Machtausübung ist also derjenige, auf den sich Europa in der neuen Epoche konzentrieren muss. Nur diese produktive Macht steht Europa noch zur Verfügung. Sie ist aber angesichts einer gewachsenen transnationalen Zivilgesellschaft auch bedeutsamer denn je.
Europas Chance
Produktive Macht wird einem aber nicht einfach in die Wiege gelegt. Sie bedarf ebenso harter Vorarbeit in internationalen Prozessen wie die strukturelle Macht und ist ähnlich kostenintensiv wie die Ausübung von Beziehungsmacht. Damit Europa eine gewichtige Quelle produktiver Macht bei der Bewältigung globaler Probleme in der neuen Ära der Weltpolitik werden kann, müssen vier Voraussetzungen gegeben sein.
1. Europa übt durch das Modell EU als institutionelles Vorbild für regionale Integrationsprozesse produktive Macht aus. Die Strahlkraft der neunziger Jahre hat allerdings nachgelassen. Ein wesentlicher Grund dafür sind erhebliche Effektivitätsdefizite vor allem in der Außenpolitik Europas und die wachsenden Probleme bei der sozialen Akzeptanz der europäischen Institutionen. Eine effektive und legitime EU ist mithin nicht nur Voraussetzung für den Bestand der europäischen Integration, sie ist auch Voraussetzung für ein weltpolitisch einflussreiches Europa. Wenn das europäische Modell des Umgangs mit Interdependenz und Denationalisierung in Europa nicht funktioniert, dann wird auf absehbare Zeit auch keine andere Weltregion den Weg der vertieften Integration durch Recht mehr einschlagen. Die Reform der EU ist insofern eine Angelegenheit von weltpolitischem Rang.
2. Europa muss ein eigenes Kapitalismusmodell anbieten. In der Zeit der Dominanz des Washington Consensus gerieten die soziale Abfederung und ökologische Nachhaltigkeit der Marktwirtschaft in Verruf und Europas Kapitalismus in die Defensive. Dass sich Europa in diesen Fragen als schwerfällig erwies, könnte mittelfristig jedoch ein Vorteil sein. Mit dieser Aussage soll aber nicht den Verfechtern des Status quo das Wort geredet werden. Es geht um eine produktive und innovationsfreudige Neugestaltung der sozialen und ökologischen Dimension des Wirtschaftens. Wenn Europa dies gelingt, wird seine produktive Macht deutlich wachsen.
3. Europa hat eine lange Tradition der Rechtsstaatlichkeit, die auch die Außenbeziehungen geleitet haben. Während des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs betonte das britische Mutterland „the rule of law“ und beschimpfte die amerikanischen Populisten; die Amerikaner betonten die Selbstbestimmung und beschimpften die britischen Aristokraten. Heute stellt sich die Situation ähnlich dar: Während in den vergangenen zwölf Jahren die USA die Demokratisierung von Staaten als Hauptziel ihrer Außenpolitik verfolgten, begann man in Europa vorsichtiger zu werden und das Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in seiner natürlichen Abfolge zu sehen. Eine entsprechende, kohärent gestaltete Strategie der Förderung von Rechtsstaatlichkeit könnte Europas produktive Macht erhöhen.
4. Europa muss der Rhetorik auch Mittel folgen lassen. Gerade das Prinzip der „Responsibility to protect“ verbietet es, humanitäre Katastrophen in rein rhetorischen Übungen zu beklagen. Generell gilt: Die Bereitschaft Europas, bei der Bewältigung globaler Problemlagen auch signifikant Ressourcen einzusetzen, ist nicht allzu ausgeprägt. Man scheut auch die politische Auseinandersetzung im Innern. Das unaufrichtige Gezerre um den Afghanistan-Einsatz ist eher die Regel, positive Aktivitäten im Bereich der internationalen Umweltpolitik hingegen sind die Ausnahme 6 . Ohne die Bereitschaft, die Rolle des eigenständigen weltpolitischen Akteurs auch anzunehmen und sich bei nächster Gelegenheit nicht einfach in den Schatten des großen Bruders USA zu stellen, wird auch die produktive Kraft Europas klein bleiben.
Europa steigt gemessen an den traditionellen machtpolitischen Kriterien in die zweite Liga ab. An der Weltspitze spielt Europa schon seit 100 Jahren nicht mehr. Aber auch ohne überlegene Machtressourcen und trotz nachlassender struktureller Macht besitzt Europa noch einen Trumpf für die dritte Phase der Entwicklung des weltpolitischen Systems: die produktive Macht bei der Bewältigung globaler Probleme. Doch um diese Karte erfolgreich einsetzen zu können, muss Europa erst die Voraussetzungen im Innern schaffen. Die Skandinavisierung Europas in der Weltpolitik könnte eine ganz angenehme Aussicht sein. Die skandinavischen Länder zeigen, dass man ein reiches Land mit viel Wohlfahrt sein kann, ohne zu den größten Ökonomien der Welt zu zählen. Sie zeigen auch, dass die Bedeutung produktiver Macht in einer globalisierten Welt zunimmt.
Prof. Dr. MICHAEL ZÜRN ist Dekan der Hertie School of Governance in Berlin.
- 1Die Beiträge von Michael Zürn und Ursula Lehmkuhl beruhen auf Vorträgen, die gehalten wurden im Rahmen der Konferenz „1989–2009: Erinnern für die Zukunft“, organisiert im Februar 2009 von der Stiftung Zukunft Berlin, der FU Berlin und der Hertie School of Governance.
- 2Zu finden unter http://www.dni.gov/nic/PDF_2025/2025_Global_Trends_Final_Report.pdf.
- 3S. Goldman Sachs 2003: Global Economics Paper No. 99, http://www2.goldmansachs.com/ideas/brics/book/99-dreaming.pdf.
- 4Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der Verstehenden Soziologie, Tübingen 1980.
- 5Den Begriff „produktive Macht“ übernehme ich von Michael N. Barnett und Raymond Duvall: Power in International Politics, International Organization 3/2005, S. 39–75.
- 6Vgl. Michael Zürn: Konturen einer zukunftsfähigen deutschen Außenpolitik, in Jürgen Kocka (Hrsg.): Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Sozialwissenschaftliche Essays, Bonn 2007, S. 71–88.
Internationale Politik 11/12, November/Dezember 2009, S. 76 - 81.