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01. Sep 2011

Energie für Europa

Erdgas bietet größtes Potenzial für Versorgungssicherheit und Innovation

Wohl noch keine Regierung hat bislang so weit reichende Entscheidungen getroffen wie die deutsche, die bis zum Jahr 2022 den Ausstieg aus der Kernenergie vollziehen will. Welche Energieträger werden die Lücke füllen, die der Ausstieg reißt? Und wann werden die erneuerbaren Energien eine verlässliche Stromerzeugung gewährleisten können?

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Rund 80 Prozent des Stroms in Europa werden nach wie vor in konventionellen Kraftwerken erzeugt. Die erneuerbaren Energien haben einen Anteil von knapp 20 Prozent. Damit ist zwar das Fundament für den Einstieg in ein regeneratives Energiezeitalter gelegt, doch sind die Erneuerbaren noch weit davon entfernt, rund um die Uhr zuverlässig Strom zur Verfügung stellen zu können. Dementsprechend wird auf politischer Ebene über einen verstärkten Einsatz von Gas in der Stromerzeugung nachgedacht. Die Aussichten für diesen Energieträger sind derzeit weltweit betrachtet besonders vielversprechend.

Nahezu alle Prognosen erwarten mittel- bis langfristig einen deutlichen Anstieg des welt- und europaweiten Erdgasverbrauchs. So sieht die Internationale Energieagentur (IEA) in ihrem Bericht vom Juni 2011 „Are we entering a golden age of gas?“ exzellente Perspektiven für Erdgas. Demnach könnte der weltweite Erdgasverbrauch im Jahr 2035 bei 5,1 Billionen Kubikmetern liegen. Das sind 600 Milliarden Kubikmeter mehr, als die IEA noch im vergangenen Jahr als möglich angesehen hat. Wachstumsmärkte sind vor allem China, der Nahe Osten und Indien. Auch für den europäischen Markt werden die Prognosen weiter angehoben: Die IEA rechnet mit einem Anstieg des Erdgasverbrauchs um etwa 100 Milliarden auf rund 640 Milliarden Kubikmeter bis zum Jahr 2035. Das sind rund 40 Milliarden Kubikmeter mehr als in der letztjährigen Prognose.

Aufgrund neuer Möglichkeiten in der Gasförderung – derzeit insbesondere in Nordamerika, aber perspektivisch auch in anderen Teilen der Welt – ist Erdgas über einen wesentlich längeren Zeitraum verfügbar als bislang angenommen. Einige Experten gehen von 250 Jahren Verfügbarkeit aus. Durch die erhöhte Eigenproduktion in den USA ist der dortige Importbedarf drastisch zurückgegangen. Gleichzeitig werden weltweit die Produktionskapazitäten für verflüssigtes Erdgas (LNG) massiv ausgebaut – zwischen 2009 und 2012 um rund ein Drittel. Allein 2010 wurden weltweit Kapazitäten in einer Größenordnung von 47 Milliarden Kubikmetern fertig gestellt. Neben klassischen Produzentenländern von Pipelinegas wie Norwegen und Russland spielen dadurch Länder wie Katar eine immer wichtigere Rolle. In Europa steht in der Konsequenz deutlich mehr LNG zur Verfügung als bisher. Auch der durch den Ausfall von Kraftswerkskapazitäten erhöhte LNG-Importbedarf Japans hat daran nichts Grundlegendes geändert. Europa erlebt weiterhin ein mehr als ausreichendes Angebot an Erdgas.

Partner der Erneuerbaren

Nicht zuletzt aufgrund der guten Verfügbarkeit kann Erdgas seine Schlüsselposition in einer zunehmend CO2-armen Energiewelt ausbauen. Es ist der sauberste unter den fossilen Energieträgern und erfüllt zwei wichtige Funktionen bei der Umsetzung der Energiewende: Es unterstützt die Integration der Erneuerbaren in unser Energiesystem und es gleicht Schwankungen in der Stromerzeugung mit Erneuerbaren aus.

Moderne Gaskraftwerke leisten einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Stromerzeugung. Niedrige Investitionskosten, kurze Bauzeiten, hohe Wirkungsgrade, gute Klimaverträglichkeit und flexible Fahrweise sprechen für diese Erzeugungsart. Für konkrete Investitionsentscheidungen müssen allerdings die Rahmenbedingungen stimmen: Hier wird auch die weitere Entwicklung der Strom- und Gaspreise sowie der Preise für die CO2-Zertifikate maßgeblich sein. Grundsätzlich sind Gaskraftwerke eine ideale Ergänzung zu erneuerbaren Energien und bestens dazu geeignet, Stromnachfrage und schwankende Erzeugung von Wind- und Solarstrom auszugleichen.

Moderne Gas- und Dampfkraftwerke erreichen heute einen Wirkungsgrad von knapp 60 Prozent. Das neue Gaskraftwerk im bayerischen Irsching wird diesen im Herbst 2011 erstmals übertreffen und so weltweit neue Maßstäbe in der Gasverstromung setzen. Auch dezentrale, verbrauchsnahe Mikro-Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen, deren Einsatz E.ON Ruhrgas gemeinsam mit kommunalen Partnern in Feldtests vorantreibt, sind ein wichtiger Baustein im zukünftigen Energiemix.

Im deutschen Wärmemarkt ist Erdgas schon heute sowohl im Neubau als auch bei den Bestandsgebäuden Nummer eins. Jede zweite neue Wohnung in Deutschland wurde 2010 mit einer Erdgasheizung ausgestattet. Von den bestehenden 38,2 Millionen Wohnungen bundesweit wird ebenfalls fast jede zweite mit Erdgas beheizt. Besonders klimaschonende und effiziente Anwendungstechniken wie Erdgasbrennwert in Kombination mit Bio-Erdgas oder Solarthermie sind bewährt und breit im Markt etabliert. Innovative dezentrale Lösungen auf Basis von Kraft-Wärme-Kopplung stehen kurz vor dem Durchbruch. Mit dem Einsatz moderner, effizienter Technologien auf Erdgasbasis ist im Wärmemarkt ein Großteil der CO2-Reduktionsziele kosteneffizient, sozialverträglich und schnell erreichbar.

Darüber hinaus ist Erdgas eine intelligente Alternative im Verkehrssektor. Erdgasfahrer tanken billiger, ihre Autos stoßen rund 25 Prozent weniger Kohlendioxid aus als vergleichbare Benziner. Mit reinem Bio-Erdgas betankt, fahren sie sogar nahezu CO2-neutral. Der Bestand an Erdgasautos ist mit 90 000 Fahrzeugen in Deutschland noch ausbaufähig, zumal das Tankstellennetz kontinuierlich gewachsen ist. Mit heute 900 Erdgastankstellen verfügt Deutschland über das dichteste Netz Europas.

Diversifizierte Bezüge

Als Drehscheibe im europäischen Erdgasverbund ist Deutschland insgesamt hervorragend positioniert. Die Gaswirtschaft bezieht Erdgas aus mehreren Lieferländern – vor allem aus Russland, Norwegen und den Niederlanden – und ist seit Jahrzehnten partnerschaftlich mit den großen Produzenten verbunden. Die Importeure investieren in die eigene Gasproduktion und den Bezug von LNG. Im September nimmt E.ON Ruhrgas gemeinsam mit Partnern das LNG-Terminal Gate in Rotterdam in Betrieb, ein Tor für Deutschland und Nordwesteuropa. E.ON Ruhrgas hat dort eine jährliche Kapazität von drei Milliarden Kubikmeter Erdgas unter Vertrag, mit denen unter anderem der deutsche Markt versorgt wird.

Von besonderer Bedeutung für die Gasversorgung Europas sind die Ostseepipeline Nord Stream und deren Anbindungsleitungen in Deutschland. Nord Stream verbindet die russischen Gasfelder auf direktem Weg mit den westeuropäischen Absatzmärkten und leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Festigung der Versorgungssicherheit. Die beiden jeweils 1220 Kilometer langen, parallelen Leitungen durch die Ostsee werden nacheinander 2011 und 2012 in Betrieb gehen und dann insgesamt rund 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr transportieren. Nicht ohne Grund hat die EU-Kommission Nord Stream als eines der wichtigsten Projekte in die Leitlinien für die europäischen Energienetze aufgenommen. Mit dem Anschluss an einige der größten Gasreserven der Welt wird Nord Stream etwa ein Drittel des zusätzlichen Gasimportbedarfs der Europäischen Union der nächsten Jahrzehnte decken können.

Die Rohr- und Tiefbauarbeiten an der fast 500 Kilometer langen OPAL (Ostsee-Pipeline-Anbindungs-Leitung) sind fertig gestellt, die Inbetriebnahme ist für den 1. Oktober 2011 geplant. Diese Leitung schließt nahe Greifswald an die Nord Stream an und führt zur tschechischen Grenze nahe Olbernhau. Sie hat eine Transportkapazität von mehr als 35 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr.

Für die NEL (Nordeuropäische Erdgasleitung), die von Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern bis zum Erdgasknotenpunkt Rehden in Niedersachsen verläuft, liegen die Planfeststellungsbeschlüsse vor. Die Inbetriebnahme der rund 440 Kilometer langen Transportleitung ist für 2012 geplant. Die Transportkapazität beträgt mehr als 20 Milliarden Kubikmeter pro Jahr.

Eine weitere Diversifizierung wird durch die großen Pipelines nach Südeuropa erreicht, die sich zurzeit noch in der Planung befinden. Die South Stream-Pipeline wird eine direkte Verbindung zwischen dem russischen Transportsystem und den süd- und mitteleuropäischen Verbrauchszentren schaffen. Die Leitung soll teilweise auf dem Grund des Schwarzen Meeres verlaufen. Das Leitungsprojekt Trans Adriatic Pipeline (TAP) sieht den Bau einer 520 Kilometer langen Leitung von Griechenland über Albanien nach Italien vor. Als Teil des so genannten vierten Gaskorridors ermöglicht es einen Zugang zu den Erdgasfeldern in Zentralasien und erschließt damit neue Bezugsquellen für Europa.

Investitionen fördern

Im Fokus aller Leitungsbauvorhaben stehen die Förderung des Wettbewerbs auf dem Gasmarkt nach den Zielen der deutschen und europäischen Energiepolitik sowie die Erhaltung der hohen Versorgungssicherheit in Deutschland und Europa. Der Zugang zum umweltschonenden Erdgas ist für Verbraucher und Industrie gerade auch vor dem Hintergrund der Stärkung erneuerbarer Energien in der Energieversorgung unverzichtbar. Es kommt jetzt darauf an, die Finanzierung künftiger Projekte in erster Linie nach marktorientierten Kriterien zu gewährleisten und die Genehmigungsverfahren für wichtige überregionale europäische Infrastrukturprojekte zu beschleunigen. Während die eigentliche Bauzeit einer Leitung häufig nur wenige Monate in Anspruch nimmt, ziehen sich Genehmigungsverfahren oft über Jahre hin. Die Energieregulierung muss zudem Investitions- und Innovationsanreize schaffen und darf sich nicht in einer reinen Kostenbetrachtung erschöpfen, die bislang viel zu sehr im Vordergrund steht.

Für die Energiewende sind massive Investitionen in Energienetze notwendig. Doch gerade Deutschland liegt beispielsweise beim Eigenkapitalzins für Neuanlagen weit unter dem europäischen Durchschnitt. Ein Gutachten von NERA Economic Consulting im Auftrag des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft kommt zu dem Ergebnis, dass andere Regulierungsbehörden in Europa im Gasnetzbereich Nominalsätze von bis zu zwölf Prozent gewähren. In Deutschland liegt der aktuelle Nominalsatz für Neuanlagen bei 9,29 Prozent. Durch die Anreizregulierung kommen aufgrund des Zeitverzugs beim Netzbetreiber derzeit nur vier bis fünf Prozent an.

Das Gutachten zeigt weiterhin, dass die deutschen Energienetzbetreiber höheren Risiken als andere europäische Energienetzbetreiber ausgesetzt sind, da der deutsche Regulierungsrahmen nicht ausgereift und verlässlich ist. Stetigkeit und Planungssicherheit sind der Untersuchung zufolge nicht gegeben, aber dringend erforderlich. Investitionen in Energienetze haben im Vergleich mit anderen Industrieinvestitionen eine besonders lange Bindung, bis zu 40 Jahre und länger.

Auch die Ethik-Kommission Sichere Energieversorgung kommt in ihrem Abschlussbericht zu einem klaren Ergebnis: „Die Netzregulierung ist neu auszurichten. Die derzeitige Regulierung zwingt die Netzbetreiber zu einer rein kostenorientierten Betrachtung. Sie haben ohne Renditeeinbußen keine Chance, die Infrastruktur auf den Umbau der Energieversorgung vorzubereiten. Die Umstellung der Regulierungsmaßstäbe auf einen zukunftsorientierten Netzausbau kann diesen deutlich beschleunigen.“

Netz der Zukunft

Gerade Erdgas und die gut ausgebaute europäische Erdgasinfrastruktur bieten vielversprechende Perspektiven für ein intelligentes, effizientes Energiesystem der Zukunft. Langfristig eignet sie sich unter anderem als Speichermedium für die Überschüsse der Stromerzeugung aus Erneuerbaren. Konkret heißt das: Regenerativ erzeugter Strom wird in Wasserstoff oder Methan umgewandelt und in das Gasnetz eingespeist. Die Eigenschaften von Erdgas – Hauptkomponente ist Methan – werden durch Zumischung von geringen Wasserstoffmengen kaum verändert. Das Gemisch hat weiterhin Erdgasqualität, erlaubt also den unveränderten Betrieb aller gastechnischen Anwendungen. Hier entstehen neue Möglichkeiten für ein Energiesystem der Zukunft, das auf der bestehenden Gasinfrastruktur aufsetzt. Diese transportiert und verteilt jährlich fast 1000 Terawattstunden in Erdgas gebundene Energie allein in Deutschland. Das ist fast doppelt so viel wie der deutsche jährliche Stromverbrauch.

Die Gaswirtschaft hat die Vorarbeiten für diese Innovationsgeschichte geleistet. Jetzt kommt es darauf an, attraktive Rahmenbedingungen für weitere Investitionen zu schaffen, damit Erdgas seine Stärken im zukünftigen Energiesystem voll ausspielen kann.

KLAUS SCHÄFER ist Vorstandsvorsitzender der E.ON Ruhrgas AG, Essen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2011, S. 109-113

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