Essay

01. Mai 2015

Eingebunden im Westen

Europäisches Deutschland oder deutsches Europa?

Die deutsche Haltung ist ein Schlüssel für den Zusammenhalt in der EU. Das zeigt sich derzeit vor allem an den Reaktionen auf die neoimperiale Politik Russlands sowie auf die europäische Schuldenkrise. Deutschland darf nicht vergessen, mit welcher Unterstützung es nach 1945 wieder auferstehen konnte und was es seiner Westbindung verdankt.

Man muss sich die Ursprünge der EU vor Augen führen, um zu wissen, in welche Richtung sie sich bewegen sollte, wenn wir die aktuellen Probleme lösen wollen. Schon die Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 war ein europäisches Ereignis. Nicht nur, weil sie nur im Einvernehmen mit dem alten Erzfeind Frankreich und dem ehemaligen Kriegsgegner Großbritannien erfolgen konnte. Sie war eingebettet in eine rasche Abfolge dramatischer Ereignisse, die vom Ende des Zweiten Weltkriegs zum Kalten Krieg führten, dessen Epizentrum Europa bildete. Die ein Jahr währende Berlin-Blockade brachte die Welt an den Rand einer militärischen Konfrontation zwischen den ehemaligen Alliierten der Anti-Hitler-Koalition. Der Korea-Krieg zeigte dann die globale Dimen­sion dieser neuen Konfliktachse. Insofern ist die Gründung von zwei deutschen Staaten auf dem Territorium des ehemaligen „Dritten Reiches“ unauflösbar mit der Spaltung Europas in eine westliche und eine sowjetische Sphäre verwoben.

Zugleich war die Ausrufung der Bundesrepublik Deutschland in vielfältige Initiativen für die Vertiefung europäischer Kooperation eingebettet. Bereits unmittelbar nach Kriegsende wurden die Fundamente für die heutige EU gelegt. Idee und Praxis der europäischen Integration gehen auf jene Jahre zurück, in denen sich die Menschen mühsam aus den Trümmern eines katastrophalen Krieges erhoben. Schon nach dem Ersten Weltkrieg war die industrielle und kulturelle Vorrangstellung Europas erschüttert; der Zweite Weltkrieg verwandelte weite Teile des Kontinents in ein Massengrab und eine Ruinenlandschaft. Viele Millionen Tote und Vertriebene, zerstörte Infrastruktur, eine stark dezimierte Industrie, bankrotte Staatsfinanzen – auf sich allein gestellt bestand nicht nur für die Bundesrepublik keine Aussicht, wieder auf die Beine zu kommen. Dazu kamen der moralische Makel der unabweisbaren Kriegsschuld und die Verantwortung für namenlose Verbrechen, die im deutschen Namen begangen wurden. Für die neu gegründete Bonner Republik war die Überwindung ihrer wirtschaftlichen und politischen Isolierung eine Existenzbedingung.

Auch auf Seiten der westlichen Siegermächte wuchs die Einsicht, diesmal nicht die Fehler von Versailles zu wiederholen, sondern dem demokratischen Deutschland die Hand zu reichen und den Wiederaufbau Europas als Gemeinschaftsprojekt anzugehen. Dabei trafen gleich mehrere Motive zusammen:

  • die Überwindung des europäischen Nationalismus in einem Prozess fortschreitender Kooperation und Integration,
  • die Einbindung des industriellen und politischen Potenzials Deutschlands in ein euro-atlantisches Sicherheitsbündnis,
  • die erfolgreiche Stabilisierung der Bundesrepublik als Frontstaat und Schaufenster gegenüber dem „sozialistischen Lager“,
  • die schiere ökonomische Notwendigkeit, den grenzübergreifenden Zahlungsverkehr, Handel und Investitionen in Europa wieder in Gang zu bringen.

Dieses Bündel unterschiedlicher Motive führte zu einer ganzen Reihe politischer Initiativen, die parallel zur Gründung der Bundesrepublik gestartet wurden. Im Frühjahr 1948 trat das „European Recovery Program“ in Kraft, besser bekannt als „Marshall-Plan“: Die USA pumpten rund 13 Milliarden Dollar als Investitionshilfen und Darlehen in den Wiederaufbau und die Modernisierung der europäischen Industrie. Beteiligt waren 16 europäische Staaten, die im April 1948 die „Organisation für europäische Zusammenarbeit“ gründeten, den Vorläufer der heutigen OECD. Noch im selben Jahr unterzeichneten sie ein Abkommen zum innereuropäischen Zahlungsverkehr, 1949 folgte ein Kodex zur Liberalisierung des grenzüberschreitenden Handels, im Juli 1950 wurde die „Europäische Zahlungsunion“ etabliert. Der nächste Schritt war die Gründung der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (Montanunion) im April 1951. Ihr Architekt war der französische In­dustrielle, Diplomat und Wirtschaftspolitiker Jean Monnet. Nach seiner Vor­stellung war die Integration der westeuropäischen Kohle- und Stahlindustrie der Katalysator für eine immer umfassendere wirtschaftliche Verflechtung, die schließlich in eine politische Föderation münden sollte.

Vom gemeinsamen Markt zur politischen Union

Zugleich ging es um ein friedenspolitisches Projekt: Sicherung des Friedens durch Vergemeinschaftung der kriegswichtigen Schlüsselindustrien. Deshalb war die „Montanunion“ ein visionäres Projekt. Sie war Vorläufer der 1957 aus der Taufe gehobenen „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“, die dem gleichen Grundgedanken folgte: Die Schaffung eines gemeinsamen Marktes zieht die politische Integration Europas nach sich. Die Römischen Verträge, mit denen die EWG begründet wurde, waren ein revolutionärer Schritt über die Grenzen nationaler Souveränität hinaus. Mit der gemeinsamen parlamentarischen Versammlung, dem europäischen Gerichtshof und dem gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialausschuss wurden supranationale Institutionen geschaffen, die über die bloße intergouvernementale Kooperation hinausgingen.

Auch der Gründungsprozess der Bundesrepublik Deutschland folgte der funktionalistischen Logik, bei der die wirtschaftliche Integration der politischen vorangeht. Der wirtschaftliche Zusammenschluss der westlichen Besatzungszonen, die Einführung der D-Mark und die Errichtung der Bank deutscher Länder gingen der Ausrufung des neuen Staates voraus. Die „Methode Monnet“ stand auch Pate bei der Errichtung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (1990): Der europäische Binnenmarkt und die ein Jahrzehnt später folgende gemeinsame Währung sollten eine Art Sachzwang für die Vollendung der politischen Union erzeugen. Eine gemeinsame Währung kann auf Dauer nicht ohne gemeinschaftliche Wirtschafts- und Finanzpolitik funktionieren; insofern waren die Maastrichter Verträge nur ein Provisorium. Die globale Finanzkrise von 2008 enthüllte die Konstruktionsmängel der Euro-­Zone auf brutale Weise; sie sind bis heute nicht durchgreifend behoben.

Zur wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte der neu gegründeten Bundesrepublik gehört noch eine Begebenheit: der großzügige Schuldenerlass, der dem Nachfolgestaat des Dritten Reiches gewährt wurde. Auf der Bundesrepublik lasteten Anfang der fünfziger Jahre Auslandsschulden in Höhe von 30 Milliarden DM. Rund die Hälfte gingen auf Kredite zur Bedienung von Reparationsforderungen aus dem Versailler Vertrag zurück. Dazu kamen ausstehende Zinszahlungen in einer Größenordnung von rund 20 Milliarden. Sie waren eine schwere Hypothek für ein Land, dessen Wiederaufbau nur mühsam in Gang kam. Ab Sommer 1952 verhandelte eine deutsche Delegation unter Leitung des Bankiers Hermann Josef Abs mit den Gläubigerstaaten über eine Neuregelung der Schuldenfrage. Die Konstellation war günstig. Die Bundesrepublik war zum Frontstaat des Kalten Krieges und zum Verbündeten der Westmächte geworden. Washington, London und Paris wollten kein gedemütigtes und verarmtes Deutschland, sondern eine stabile und prosperierende Demokratie. Entsprechend weit kamen sie der deutschen Seite entgegen.

Am 27. Februar 1953 wurde der Londoner Schuldenerlass verkündet: Der Bundesrepublik wurden 15,5 Milliarden DM Schulden sowie alle ausstehenden Zinsen erlassen. Für die restlichen Zahlungsverpflichtungen wurden günstigere Zinsen und Laufzeiten gewährt. Damit reduzierten sich die Belastungen aus dem Schuldendienst auf 3 Prozent der deutschen Exporterlöse – eine Größenordnung, die weit unter den Zahlungsverpflichtungen liegt, die gegenwärtig von europäischen Krisenländern wie Griechenland zu leisten sind.

Daran sollten wir uns erinnern, wenn es heute um die Bewältigung der europäischen Schuldenkrise geht. Die in Deutschland vorherrschende Haltung „Wir kommen nicht für die Schulden anderer auf“ ist geschichtsvergessen. Sie verdrängt, dass das berühmte Wirtschaftswunder nicht zuletzt auf die Bereitschaft der ehemaligen Siegermächte zurückging, der Bundesrepublik finanziell unter die Arme zu greifen. Marshall-Plan und Schuldenerlass waren Zeugnis einer weitblickenden, auf Aussöhnung, Kooperation und Integration gerichteten Politik. Dieses Credo ist seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 immer stärker von einer Rückkehr des nationalen Egoismus verdrängt worden, der nicht nur den wirtschaftlichen, sondern auch den mentalen Zusammenhalt der EU gefährdet.

Der älteste politische Zusammenschluss europäischer Staaten ist der Europarat, der am 5. Mai 1949 von zehn westeuropäischen Staaten gegründet wurde. Auch dabei standen die USA Pate. Für sie lag die politische Einigung (West-)Europas in ihrem aufgeklärten Eigeninteresse. Das gilt, allen Unkenrufen zum Trotz, auch heute noch. Das wirkungsmächtigste Abkommen, das in diesem Rahmen geschlossen wurde, ist die Europäische Menschenrechtskonvention. Auf dieses Dokument berufen sich zahllose Beschwerden, die beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht werden, der über die Einhaltung der Konvention wacht. In dieser Richtung wirken auch der Menschenrechtskommissar, der von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats gewählt wird, und die Berichte zur Menschenrechtssituation in einzelnen Ländern. So ist für den Europarat der Einsatz für Menschenrechte und rechtsstaatliche Normen zum Schwerpunkt seiner Arbeit geworden – zum Missvergnügen insbesondere jener Regime, die es mit den Grundrechten nicht besonders ernst nehmen, obwohl sie als Mitglieder des Europarats auch auf die Europäische Menschenrechtskonvention verpflichtet sind. Die mit Abstand höchste Zahl von Beschwerden stammt aus Russland.

Der Beitritt der Bundesrepublik erfolgte im Mai 1951. Heute gehören dem Europarat 47 Staaten mit 820 Millionen Bürgern an. Im Anschluss an die Europäische Menschenrechtskonvention wurden zahlreiche weitere Abkommen beschlossen, darunter die Europäische Sozialcharta, eine Antifolterkonvention, die Europäische Charta der Regional- und Minderheitssprachen, eine Datenschutzkonvention und eine Anti-Doping-Konvention. Alle diese Vereinbarungen konstituieren europäisches Recht, das eingeklagt werden kann. Sie sind Meilensteine auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Rechtsraum, der Mindeststandards im Hinblick auf Bürger- und Menschenrechte garantiert.

Jeder Rückblick auf europäische Kooperations- und Integrationsprojekte in der Gründerzeit der Bundesrepublik wäre grob lückenhaft ohne Verweis auf die Sicherheitspolitik. In jenen Nachkriegsjahren wurden auch die Fundamente der NATO und einer gemeinsamen europäischen Verteidigung gelegt. Die Verhandlungen über einen nordatlantischen Verteidigungspakt begannen im Juni 1948 unter dem Eindruck der Abriegelung Berlins durch die sowjetische Armee. Besiegelt wurde das Bündnis am 4. April 1949, also noch vor Gründung der Bundesrepublik, die erst 1955 beitrat. Zuvor war die Bundesregierung bereits am ersten Anlauf für eine europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) beteiligt. Sie sollte eine europäische Armee schaffen und damit auch die politische Integration Westeuropas fördern. Eine entsprechende vertragliche Vereinbarung mit Frankreich, den Benelux-Staaten und Italien wurde 1952 unterzeichnet. Bevor sie in Kraft treten konnte, scheiterte die EVG zwei Jahre später an der Ablehnung der französischen Nationalversammlung. Damit war auch die innenpolitisch heiß umstrittene Wiederbewaffnung der Bundesrepublik auf Eis gelegt. Erst der NATO-Beitritt öffnete dann die Tür für die Aufstellung der Bundeswehr. Das galt sowohl im Hinblick auf die politische Zustimmung im eigenen Land wie hinsichtlich der Akzeptanz der europäischen Nachbarn. Nach den Erfahrungen zweier Weltkriege, die durch den deutschen Drang nach Vorherrschaft über Europa ausgelöst wurden, musste Deutschland entweder entwaffnet oder fest in das europäisch-transatlantische Bündnis eingebunden werden. Dieser Zusammenhang besteht noch heute – jeder sicherheitspolitische Alleingang Deutschlands würde die europäische Sicherheitsarchitektur zum Einsturz bringen.

Über drei Jahrhunderte hinweg, seit dem Westfälischen Frieden, kreiste die europäische Staatenpolitik um die Frage, wie der deutsche Koloss im Zentrum Europas eingebunden oder neutralisiert werden konnte. Die klassische Antwort war eine Politik des Kräftegleichgewichts und die Bildung von Allianzen und Gegenallianzen der europäischen Mächte. Zwei Mal versuchte das Deutsche Reich, dieses Kräftegleichgewicht zu sprengen. Die europäischen Gegenmächte konnten sich nur unter Aufbietung aller Kräfte und unter schrecklichen Verlusten behaupten, und sie konnten es nur, weil die USA ihr wirtschaftliches und militärisches Gewicht in die Waagschale warfen. Im Unterschied zu 1918 setzten die westlichen Siegermächte nach 1945 nicht auf die dauerhafte Schwächung und Kontrolle Deutschlands, sondern auf seine Einbindung.  

EU als Vorreiter einer neuen globalen Ordnung?

Das Projekt einer politischen Union – der von Churchill proklamierten „Vereinigten Staaten von Europa“ – markiert einen Bruch mit der bis dahin herrschenden europäischen Staatenordnung. An die Stelle der Rivalität der europäischen Großmächte, die sich in wechselnden Bündnissen bekämpften, trat die fortschreitende wirtschaftliche und politische Integration. Zugleich lösten sich die europäischen Imperien auf, ihre außereuropäischen Kolonien erkämpften sich die Unabhängigkeit. Statt Expansion nach außen sollte nun die Festigung und Vertiefung der innereuropäischen Zusammenarbeit gelten; Krieg ein für allemal aus der Staatenwelt verbannt werden. Die Europäische Union versteht sich als Vorreiter eines postnationalen, postimperialen und postbellizistischen Zeitalters der Weltgeschichte. Sie basiert auf der Überzeugung, dass sich im Prinzip jeder Konflikt durch einen Interessenausgleich auf dem Verhandlungsweg lösen lässt.

Es ist allerdings nicht ausgemacht, ob sie damit tatsächlich ein Modell für das 21. Jahrhundert wird oder eine Ausnahme bleibt. Vieles deutet darauf hin, dass die Epoche nationaler Großmachtpolitik und kriegerischer Konflikte noch lange nicht zu Ende ist. Die USA bleiben eine Weltmacht; China schickt sich an, eine zu werden; Russland hat unter Putin einen nationalistischen und expansiven Kurs eingeschlagen; Schwellenländer wie Indien, Brasilien oder Südafrika sind auf dem Weg zu Regionalmächten. Der ewige Frieden zwischen den Nationen lässt auf sich warten; stattdessen sehen wir seit den neunziger Jahren eine Serie von genozidalen Exzessen und militärischen Interventionen. Neue, nichtstaatliche Gewaltakteure betreten die Szene. Die friedensstiftende Funktion der Vereinten Nationen erodiert; das Völkerrecht wird beiseite gewischt, wenn es um nationale Machtinteressen geht. Die Annexion der Krim ist dafür ein eklatantes Beispiel. Autoritäre Regime stellen die Universalität der Menschenrechte infrage. Das europäische Demokratiemodell wird keineswegs als globales Vorbild anerkannt. Für die EU stellt sich damit die Frage, wie sie ihre normativen Grundlagen und ihr postnationales Credo in einer Welt behaupten kann, die durch eine Vielzahl konkurrierender Mächte und Regierungsformen geprägt ist.

Eine mögliche Antwort darauf ist, dass die Europäische Union selbst zum Staat werden muss, um sich im Konzert der Großen behaupten zu können. In dieser Lesart sind die europäischen Staaten – einschließlich Deutschlands – allesamt zu schwach, um allein in einer multipolaren internationalen Ordnung mitspielen zu können. Als machtpolitischer Faktor sind sie künftig nur relevant, wenn sie ihre Kräfte bündeln und gemeinsam nach außen auftreten. Solange die Außen- und Verteidigungspolitik die Domäne der nationalen Regierungen bleiben, sei Europa nicht in der Lage, als Gestaltungsmacht auf der internationalen Bühne aufzutreten. Die EU müsse deshalb den Sprung zur Bildung einer zentralen Regierungsmacht wagen. Wenn nicht alle Mitgliedstaaten dazu bereit seien, müssten Deutschland und Frankreich im Verein mit anderen integrationswilligen Nationen vorangehen. Im Kern ist das eine machtpolitische Begründung für einen europäischen Zentralstaat. Einer ihrer prominenten Verfechter ist Joschka Fischer. Er steht damit beileibe nicht allein.

So nachvollziehbar diese Argumentationslinie ist, so voluntaristisch mutet sie angesichts der faktischen ökonomischen, politischen und kulturellen Heterogenität Europas an. Das gilt auch für die Außen- und Sicherheitspolitik. Die Unterschiede im sicherheitspolitischen Diskurs Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, Polens und Deutschlands sind offenkundig, um nur einige zentrale Akteure herauszugreifen. Politische Kernfragen wie der Einsatz militärischer Macht, Abschreckung, Rüstungsexporte, Rolle der NATO und Bedeutung der transatlantischen Allianz, Russland-Politik oder die Haltung zu Israel werden quer durch die EU unterschiedlich beantwortet. Das bedeutet nicht, dass diese Differenzen unüberwindliche Hindernisse auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik wären. Aber es spricht vieles dafür, dass ein gemeinsames Auftreten nach außen noch für lange Zeit zwischen den europäischen Regierungen ausgehandelt werden muss. Gerade in Fragen von Krieg und Frieden ist die Gefahr groß, dass eine europäische Zentralgewalt die internen Differenzen eher verschärfen würde. Eine europäische Öffentlichkeit ist erst im Werden; Konsensbildung immer noch primär national organisiert. Mit anderen Worten: Die Nationalstaaten bilden nach wie vor das Zentrum demokratischer Legitimation. Deshalb ist das Aushandeln politischer Kompromisse durch die europäischen Regierungen auch nicht undemokratisch, sondern repräsentiert noch am ehesten den Willen der europäischen Völker. Das Europaparlament muss in diese Rolle erst hineinwachsen. Die notwendige Bündelung politischer Souveränität auf europäischer Ebene ist nicht identisch mit dem allmählichen Verschwinden der Nationalstaaten zugunsten einer europäischen Staatlichkeit, repräsentiert durch eine europäische Regierung und das Europäische Parlament.

Das Europäische Parlament repräsentiert Europas Vielfalt

Man kann die „Vereinigten Staaten von Europa“ in sehr unterschiedlicher Form denken: als europäischer Bundesstaat, als Staatenbund oder als eine „Doppelhelix“ aus Staatenunion und Bürgerunion. In einer solchen Doppelstruktur sind die europäischen Bürgerinnen und Bürger zweifach repräsentiert: durch ihre nationalen Parlamente und Regierungen, die im europäischen Konzert eine maßgebliche Rolle spielen, und durch das direkt gewählte Europäische Parlament. Sie entspricht am ehesten der realen Vielfalt der europäischen Sprachen, Traditionen und politischen Landschaften. Wer allein auf Zentralisierung der Entscheidungsgewalt setzt, verkennt, dass diese Vielfalt geradezu konstitutiv für Europa ist. Die künftige politische Verfasstheit der EU muss beides ermöglichen: Einheit und Vielfalt.

Das gilt auch für den latenten Konflikt zwischen Erweiterung und Vertiefung der Union. Die Verfechter eines europäischen Bundesstaats sind in der Regel ausgesprochen reserviert, was die Aufnahme neuer Mitglieder betrifft. Das hat eine gewisse Konsequenz, weil mit jeder Erweiterungsrunde die wirtschaftliche und politische Heterogenität der EU zunimmt. Das macht gemeinsame, für alle verbindliche Regelungen und Entscheidungen nicht einfacher. Wer für die Aufnahme der Türkei oder der Ukraine plädiert, sabotiert aus dieser Perspektive das europäische Einigungsprojekt. Soll man also zugunsten der weiteren Vertiefung der Union ihre Erweiterung auf Eis legen und damit das Versprechen aufgeben, dass alle europäischen Nationen Mitglied der Union werden können, sofern sie sich auf den Weg von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit begeben und bereit sind, ihre Wirtschaft zu europäisieren? Das wäre Verrat am Ideal eines vereinten und freien Europa. Gleichzeitig untergräbt eine solche Position die Reformdynamik in den Nachbarländern der EU, die noch stark durch autoritäre Traditionen und ineffiziente bis korrupte Strukturen geprägt sind. Sie befördert damit gewollt oder ungewollt die erneute Spaltung Europas in einen Innen- und Außenraum der EU.

Dem latenten Konflikt zwischen Erweiterung und Vertiefung kann man am ehesten durch eine möglichst flexible Verfassung der EU entgehen, die nicht dem Muster einer umfassenden Zentralisierung folgt, sondern Raum für Binnendifferenzierung lässt. Sie kombiniert gemeinsame europäische Institutionen (Europaparlament, Kommission, Europäischer Rat, Gerichtsbarkeit) mit unterschiedlichen Stufen der Kooperation und Integration zwischen Mitgliedstaaten. Nicht alle müssen den Euro einführen, sich auf eine gemeinsame Migrations- und Flüchtlingspolitik verständigen, den Aufbau einer europäischen Armee vorantreiben, ein gemeinsames außen- und sicherheitspolitisches Kabinett bilden, ihre Steuerpolitik vereinheitlichen oder eine gemeinsame Energiepolitik betreiben. Aber diejenigen, die dazu bereit und in der Lage sind, sollen das auch tun, und zwar in wechselnden Konstellationen. Die EU wäre dann ein gemeinsamer politischer und regulatorischer Rahmen für alle Mitglieder und zugleich ein flexibles Netzwerk, das unterschiedliche „coalitions of the willing“ ermöglicht. Diese Konstruktion ist heute bereits in der Kombination von „vergemeinschafteten“ Politikfeldern und intergouvernementalen Vereinbarungen angelegt.

Eine Stärkung des gemeinschaftlichen Elements sollte nicht vorrangig in der Bündelung politischer Entscheidungsbefugnisse in den Händen einer europäischen Regierung gesucht werden, sondern in der Herausbildung einer genuin europäischen politischen Sphäre. Dazu gehören europaweite Parteilisten und Spitzenkandidaten für die Wahlen zum Europaparlament, europäische Bürgerbegehren und die europaweite Vernetzung von Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, Berufsverbänden, Publikationen und Internetplattformen. Ohne gesamteuropäische Öffentlichkeit vergrößert die Zentralisierung politischer Befugnisse an der Spitze des europäischen Institutionengefüges nur die Kluft zwischen Bürgerschaft und politischen Eliten. Das wäre Wasser auf die Mühlen antieuropäischer Parteien und Bewegungen.

Die EU auf dem Prüfstand

Die Erfolgsgeschichte der europäischen Einigung ist nicht gesichert. Von innen ist sie bedroht durch eine Renationalisierung des Fühlens und Denkens der Bürger und eine Renationalisierung der Politik. Am deutlichsten wird diese Gefahr in den Reaktionen auf die schwere Finanz- und Wirtschaftskrise, die den Zusammenhalt der EU erschüttert. Auch wenn es nicht intendiert war, erscheint Deutschland in den Augen vieler europäischer Nachbarn wieder als selbstsüchtiger Dominator, der Europa seine Regeln aufzwingen will und eine staatenübergreifende Lastenverteilung zurückweist. Längst überwunden geglaubte nationale Ressentiments sind zurückgekehrt, die den europäischen Zusammenhalt vergiften. Gut möglich, dass sich an der Frage einer partiellen Vergemeinschaftung der Schulden die Zukunft des Euro und mit ihr auch die Zukunft der Europäischen Union entscheiden wird. Deutschland kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Ohne eine stärkere Koordination und Integration der Finanz- und Wirtschaftspolitik in der Euro-Zone bleibt die gemeinsame Währung ein Dach ohne Fundament.

Gleichzeitig wachsen auch die äußeren Herausforderungen an die EU. Schon die gewaltsamen Erschütterungen der arabischen Welt, die wachsende Zahl der Flüchtlinge, die an den Außengrenzen der EU rütteln, die Einbindung der Türkei in eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik und die sinkende Bereitschaft der USA, um jeden Preis die Sicherheit Europas zu garantieren, stellen die Handlungsfähigkeit der europäischen Gemeinschaft vor eine Bewährungsprobe.

Die größte Herausforderung aber liegt in der neoimperialen Wendung ­Russlands. Die Okkupation der Krim und der unerklärte Krieg, den der Kreml gegen die Ukraine führt, stellen die Fundamente der europäischen Friedensordnung infrage. Seit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki im Jahr 1975 gehören Gewaltverzicht, Unverletzlichkeit der Grenzen, Einhaltung internationaler Verträge zu den Eckpunkten der europäischen Nachkriegsordnung. Putins Rückkehr zu einer Politik der Einflusszonen und der begrenzten Souveränität der ehemaligen Sowjetrepubliken, die er als Bestandteil der russischen Welt betrachtet, markieren eine Kehrtwende. Ob man will oder nicht: Die Ukraine ist zum Prüfstein für die Zukunft Europas geworden. Akzeptieren wir eine neue Spaltung Europas in eine westliche und östliche Sphäre oder stehen wir zum Versprechen eines einigen und freien Europa? Unterstützen wir die demokratische Selbstbestimmung der postsowjetischen Gesellschaften einschließlich ihres Rechts auf freie Wahl ihrer Bündnisse? Und stehen wir zu den viel beschworenen europäischen Werten, für die Millionen Menschen in der Ukraine auf die Straße gingen und für die inzwischen Tausende ihr Leben gelassen haben? Während im Westen die Europamüdigkeit grassiert, ist „Europa“ für viele Menschen in Mittelosteuropa der Inbegriff ihres Strebens nach Demokratie und Rechtsstaat, sozialem Fortschritt und einer Regierung, die nicht ihre eigene Bevölkerung ausplündert.

Der Fehdehandschuh, den Präsident Putin der EU vor die Füße geworfen hat, geht weit über die Ukraine hinaus. Die russische Führung vertritt inzwischen ein gesellschaftspolitisches Gegenmodell, das die EU im Kern herausfordert: „Gelenkte Demokratie“ statt einer liberalen und pluralistischen Verfassung, Staatswirtschaft statt Marktwirtschaft, Medienkontrolle statt Pressefreiheit, Fusion von kirchlicher und politischer Macht statt Trennung von Staat und Kirche, Stigmatisierung sexueller Minderheiten statt des „dekadenten Liberalismus“ des Westens, Gleichschaltung statt offener Gesellschaften, Nationalismus statt postnationale Integration, Hegemonie statt Gleichberechtigung. Für diesen Gegenentwurf sucht der Kreml offensiv Verbündete innerhalb der EU selbst. Zu seinem Netzwerk gehören ultrarechte Bewegungen wie der französische Front National, der Vlamse Block in Belgien oder die griechische „Morgenröte“ ebenso wie traditionelle Linksparteien und eine Vielzahl von Moskau finanzierter Medien mit dem Auslandssender „Russia Today“ als Flaggschiff.

Auch in dieser Frage ist die deutsche Haltung ein Schlüssel für den Zusammenhalt der EU. Es ist kein Zufall, dass der Kreml insbesondere auf die Beeinflussung der deutschen Öffentlichkeit zielt. Er weiß um ihre Anfälligkeit für antiwestliche Ressentiments, um die neutralistischen Strömungen und tief sitzenden Träume von einem deutsch-russischen Sonderverhältnis. Was auf dem Spiel steht, ist die Westbindung der Bundesrepublik. Sie war die Quintessenz aus dem Unglück, das deutsche Sonderwege über Europa und das eigene Land gebracht haben. Zugleich war und ist die Integration in die europäisch-transatlantische Gemeinschaft ein Garant für die Verankerung der liberalen Demokratie in Deutschland, das sich – wie Russland – lange Zeit als Gegenmodell zu ihr verstanden hatte. Ein Deutschland, das sich aus dieser Verankerung lösen und erneut auf eine irrlichternde Fahrt ins Ungewisse begeben würde, wäre ein Unglück für Europa und für sich selbst.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.

Dieser Text ist eine leicht gekürzte Fassung des Beitrags „Europäisches Deutschland oder deutsches Europa? aus dem von Ernst Piper herausgegebenen Sammelband „1945. Niederlage und Neuanfang“, Lingen Verlag, Köln, April 2015.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/juni 2015, S. 118-127

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