IP

01. Juni 2004

Eine Strategie für den Schwarzmeer-Raum

Noch immer fehlt es dem Westen an einer Strategie gegenüber dem Schwarzmeer-Raum. Das ist
jedoch die unerlässliche Voraussetzung dafür, die Länder dieser Region im Westen zu verankern
oder sie zumindest für eine enge Zusammenarbeit zu gewinnen. Nur so kann der Stabilitätsraum
über die südöstlichen Grenzen Europas hinaus ausgedehnt werden, und nur so kann die Grundlage
dafür geschaffen werden, Stabilität in den Weiteren Nahen Osten zu projizieren.

Eine Reihe von historisch bisher nicht da gewesenen Ereignissen hat die Aufmerksamkeit des Westens auf eine Region gelenkt, die lange Zeit vernachlässigt wurde: das Schwarze Meer und die umliegenden Staaten Bulgarien, Rumänien, Moldau, Ukraine, Russland, Georgien, Armenien, Aserbaidschan und die Türkei.

Der erfolgreiche Abschluss der Verankerung und der Integration der mittel- und osteuropäischen Länder, vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer, in die transatlantische Gemeinschaft kennzeichnet die Vollendung des großen historischen Projekts der neunziger Jahre, das nach dem Ende des Kalten Krieges in die Wege geleitet wurde. Überdies haben die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 und vom 11. März 2004 auf die Gefahren eines neuen Jahrhunderts und auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass die größten Bedrohungen sowohl für Nordamerika als auch für Europa wahrscheinlich aus weiter Ferne und von jenseits des Kontinents ausgehen werden, insbesondere vom „Weiteren Nahen und Mittleren Osten“.

Diese Ereignisse haben das Schwarze Meer nach und nach von der Peripherie in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Westens gerückt. Gleichzeitig haben sie die Tatsache unterstrichen, dass es dem Westen heute an einer schlüssigen und langfristigen Strategie gegenüber dieser Region mangelt. Weder die Vereinigten Staaten noch die wichtigsten europäischen Mächte haben dieser Region eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt; ebenso wenig haben sie dort strategische Ziele ausgemacht. Angesichts des Fehlens eines überzeugenden, von den Eliten und der Öffentlichkeit auf beiden Seiten des Atlantiks nachvollziehbaren Konzepts wird sich daran wahrscheinlich nichts ändern.

Da ein solches Konzept fehlt, werden Europa und die Vereinigten Staaten wohl weder den Willen noch die Fähigkeit aufbringen, die Aufmerksamkeit und die Ressourcen zu beschaffen, die notwendig sind, um die Länder der Region für den Westen zu begeistern und sie dort zu verankern, geschweige denn ihnen dabei zu helfen, sich selbst in vollwertige Partner und vielleicht irgendwann in der Zukunft in vollwertige Mitglieder der wichtigsten transatlantischen Institutionen zu wandeln. Im Folgenden soll dargelegt werden, warum der Schwarzmeer-Raum ganz oben auf die transatlantische Tagesordnung gesetzt werden muss.

Warum hat dem Westen eine solche Strategie in der Vergangenheit gefehlt und was hat sich geändert, dass sie jetzt so entscheidend wichtig geworden ist?

Versäumte Jahre

Das fehlende Interesse in der Vergangenheit beruht im Wesentlichen auf vier Faktoren:

Erstens war der Schwarzmeer-Raum in vielerlei Hinsicht so etwas wie das Bermuda-Dreieck in den strategischen Studien des Westens. Diese Region liegt am Kreuzweg europäischer, eurasischer und nahöstlicher Sicherheitszonen; sie ist deshalb von den maßgeblichen Experten aller drei Regionen weitgehend ignoriert worden. Geographisch an den Grenzen jeder einzelnen von ihnen angesiedelt, stand die Region bei keinem von ihnen jemals im Mittelpunkt.

Wenn von Europa die Rede war, wurde dem Bogen von Ländern, der sich vom Baltikum bis zu den Staaten des östlichen Balkans erstreckt, Vorrang eingeräumt. Ging es um die frühere Sowjetunion, konzentrierte man sich auf den Aufbau einer neuen, kooperativen Beziehung zu Moskau. Und vom israelisch-palästinensischen Konflikt einmal abgesehen endeten das Interesse und die Aufmerksamkeit unserer Nahost-Politik üblicherweise an der südlichen Grenze der Türkei.

Zum Zweiten blieben angesichts der übervollen Agenda der transatlantischen Gemeinschaft in den 15 Jahren seit dem Zusammenbruch des Kommunismus wenig Zeit oder politische Energie, um sich mit der Schwarzmeer-Region zu befassen. Die Aufgaben der Einbeziehung und Integration von Mittel- und Osteuropa, der Beendigung der Balkan-Kriege und der Rückführung jener Länder auf einen Weg in Richtung europäische Integration und schließlich der Versuch, in der Zeit nach Beendigung des Kalten Krieges eine neue und kooperative Beziehung mit Moskau zu etablieren, wurden zu einer Vollzeitbeschäftigung. Wenn man sich in den neunziger Jahren die Prioritätenliste eines amerikanischen oder europäischen Außenministers ansah, so figurierte dort, zu Recht oder zu Unrecht, der Schwarzmeer-Raum kaum in einer der ersten Reihen. Eine Ausnahme stellte natürlich die Türkei dar, die einen einsamen politischen Kampf austrug, um den Westen dazu zu bringen, dieser Region mehr Aufmerksamkeit zu widmen. In Ermangelung von etwas anderem wurde das westliche Interesse an einem sicheren und stetigen Energiefluss durch die Region der Antrieb der Politik – statt einer umfassenden Vision, wie wir die Rolle und den Platz dieser Länder in der transatlantischen Gemeinschaft sehen sollten.

Drittens kam wenig Anstoß aus der Region selbst für eine engere Beziehung zum Westen. Es gab dort weder einen Lech Walesa noch einen Václav Havel, die unsere Aufmerksamkeit erregt oder an unsere Tür geklopft hätten. Die Länder der Region, unterschiedlich und mit weit auseinander strebenden Erwartungen, waren vorrangig mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und sahen sich zeitweise in Bürgerkriege und ihre eigenen bewaffneten Konflikte verstrickt. Jeder Gedanke, sich in absehbarer Zukunft dem Westen anzuschließen, erschien unrealistisch oder gar utopisch – in ihren Augen ebenso wie unseren. Im Westen hat es immer eine Tendenz gegeben, Probleme zu ignorieren oder zu verleugnen, für die es keine einfache Antwort oder Erfolgsaussichten gibt – sie gehören in die Kategorie des „zu schwierig, um damit fertig zu werden“. Henry Kissinger soll einmal gesagt haben, dass ein Außenminister keine Aufgabe anpacken sollte, wenn es nicht mindestens eine 90-prozentige Erfolgsaussicht gäbe. Von den Problemen der Schwarzmeer-Region nahm man an, dass sie diesen Standard so bald nicht erreichen würden.

Viertens ist das Schwarze Meer kulturell ein „schwarzes Loch“ im historischen Verständnis des Westens. Wir wissen nicht nur zu wenig von dieser Region, von ihren Menschen und ihren Problemen, von ihrer reichen Kultur und ihrem Beitrag zur Ausbreitung der westlichen Zivilisation, wir leiden auch an einer Art von historischer Amnesie. Für einige bedeutete „Europa“ Westeuropa, für andere erstreckte es sich bis zur Ostsee und zum Schwarzen Meer, in diesem Falle allerdings nur bis zu deren westlichen und südlichen Grenzen. Für viele im Westen waren die Ukraine und der südliche Kaukasus ganz weit entfernte Gegenden, von denen wir wenig wussten und um die wir uns, ob zu Recht oder Unrecht, wenig kümmerten. Andere wiederum waren zu ängstlich, um auch nur daran zu denken, sich dorthin zu wagen, was von Moskau als „nahes Ausland“ und natürliche Einflusszone beansprucht wurde.

Viele dieser Hindernisse und Befürchtungen verschwinden allmählich oder verändern sich. Da es dem Westen gelungen ist, seine Agenda der neunziger Jahre umzusetzen, kann er es sich nun leisten, seinen geopolitischen Horizont auszuweiten und über Herausforderungen nachzudenken, die weit in der Ferne liegen. Das erfolgreiche Beispiel des „Big Bang“ der Erweiterung von NATO und EU hat dazu beigetragen, in der Schwarzmeer-Region Erwartungen zu wecken. Heute äußert eine neue Generation von demokratischen Politikern in der Region offen den Wunsch, ihre Länder näher an die transatlantische Gemeinschaft heranzuführen und sich ihr möglicherweise einmal anzuschließen. Nachdem es ihnen gelungen ist, Mitglieder der NATO zu werden, versuchen Länder wie Bulgarien und Rumänien gemeinsam mit der Türkei, dem Westen klarzumachen, dass er diesen Vorstellungen eine größere strategische Priorität zuweisen solle. Nachdem der Westen das Schwarze Meer in den vergangenen zehn Jahren weitgehend ignoriert hat, scheint er nun aufzuwachen und sich der Notwendigkeit bewusst zu werden, das es lohnt darüber nachzudenken, was genau das Ziel und die Strategie sein sollten.

Der Schwarzmeer-Raum

Historisch gesehen trafen am Schwarzen Meer das russische, das persische und das osmanische Kaiserreich zusammen. Während des Kalten Krieges war es zudem in Ost und West geteilt. Das Bild der Region war in der Öffentlichkeit vor allem geprägt durch Spionagethriller und James-Bond-Filme. Die Revolutionen von 1989 bzw. 1991, die zum Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und zur Auflösung der Sowjetunion führten, öffneten dann die Tür für ein neues Kapitel in der Geschichte der Region. Zum ersten Mal seit dem „großen Spiel“, das im 19. Jahrhundert entlang der Ufer des Schwarzen Meeres gespielt worden war, genoss die Region wieder Aufmerksamkeit. Mit den NATO-Mitgliedern Bulgarien, Rumänien und Türkei, die das westliche und südliche Ufer beherrschen, und mit den neu geschaffenen GUS-Staaten Moldau, Ukraine, Russland und Georgien im Norden und im Osten beginnt die Region Gestalt anzunehmen.

Zur Schwarzmeer-Region müssen auch die drei Staaten im Südkaukasus, Georgien, Armenien und Aserbaidschan, gezählt werden. Wenn man von der Region spricht, spricht man ausdrücklich auch vom euro-asiatischen Energiekorridor, der das transatlantische System mit den Energievorräten des Kaspischen Raumes und mit mit den zentralasiatischen Staaten verbindet. Darüber hinaus gibt es eine gewisse Berechtigung zur Ausweitung des Schwarzmeer-Systems in den Norden von Transnistrien, Odessa und Suchumi, weil ein stabiles System sowohl die Lösung von „kalten Konflikten“ entlang des nordöstlichen Bogens und den Zugang zu den großen Handelsströmen erfordern würde, die in das Schwarze Meer, die Donau und den Dnjestr fließen. In diesem Sinne wäre die Schwarzmeer-Region dann so ausgedehnt und abwechslungsreich wie die Norddeutsche Tiefebene oder der baltisch-nordische Raum.

Bezeichnenderweise fand das Konzept einer einheitlichen Schwarzmeer-Region in mehreren Bemühungen zum Aufbau regionaler Zusammenarbeit in den neunziger Jahren seinen Niederschlag, zunächst in Ad-hoc-Strukturen und dann, seit 1999, im Engagement wichtiger transatlantischer und europäischer Institutionen. Begrenzte Systeme der Zusammenarbeit wie der Schwarzmeer-Wirtschaftsrat oder der so genannte GUUAM, ein Koordinationsmechanismus zwischen den früheren Sowjetrepubliken Georgien, Ukraine, Usbekistan, Aserbaidschan und Moldau, waren Ausdruck eines wachsenden Gefühls für gemeinsame wirtschaftliche und politische Interessen. Die Formulierung der so genannten „südlichen Dimension“ der europäischen Sicherheit im Jahr 2001 und der Beitritt Rumäniens und Bulgariens zur NATO im April 2004 bekräftigten, dass sich die drei wichtigsten Staaten der Schwarzmeer-Region darüber einig waren, einem einzigen Sicherheitssystem anzugehören, das vollkommen integriert ist in das umfassendere transatlantische System. Im Hinblick auf den bevorstehenden NATO-Gipfel im Juni 2004 in Istanbul streben sowohl die Ukraine als auch Georgien eine Mitgliedschaft in der NATO an, was den Schluss zulässt, dass auch diese Staaten ihre Zukunft unter dem Aspekt gemeinsamer Sicherheit und Zusammenarbeit in der Schwarzmeer-Region sehen.

Eine ähnliche Übereinstimmung regionaler Interessen lässt die Entwicklung der Beziehungen mit der Europäischen Union erkennen. Die Länder am südlichen und westlichen Ufer des Schwarzen Meeres, die Türkei, Bulgarien und Rumänien, bilden eine gemeinsame Klasse von Beitrittsbewerbern zur EU und damit potenziell ein integriertes politisches und wirtschaftliches System. Nach der für den 12. Juni 2004 vorgesehenen Entscheidung, die europäische Nachbarschaftspolitik auf Georgien, Aserbaidschan und Armenien auszudehnen, werden alle Länder am nördlichen und östlichen Ufer des Schwarzen Meeres, eingeschlossen Russland, die Ukraine und Moldau, an der Schaffung engerer Beziehungen zur Europäischen Union beteiligt sein.

Das Engagement weiterer multilateraler Institutionen – der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die Bemühungen der Minsk-Gruppe um „kalte Konflikte“ im Norden des Schwarzen Meeres, die Verhandlungen im Umfeld der Südflanke des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa – richtet sich stets nach der Formel „Gemeinsame regionale Probleme – kooperative regionale Lösungen“. Gemeinsame wirtschaftliche und politische Interessen und die Anziehungskraft eines sich rasch integrierenden Europas drängen die Schwarzmeer-Staaten zu einer Art regionaler Konvergenz. Obwohl das Fortbestehen von Konflikten und die Brüchigkeit nationaler Institutionen die Vermutung nahe legen, dass das Entstehen eines voll funktionsfähigen geopolitischen Systems im Schwarzmeer-Raum noch einige Jahre auf sich warten lassen wird, gibt es doch deutliche Anzeichen dafür, dass das Schwarze Meer dabei ist, eine transatlantische Region zu werden. Daraus folgt, dass die transatlantischen Staaten ein Interesse daran haben und dass sie über eine Strategie für eine so wichtige und potenziell positive Entwicklung verfügen sollten.

Die strategische Frage

Warum brauchen wir heute eine neue transatlantische Strategie für die Schwarzmeer-Region? Wir wollen mit der strategischen Frage beginnen, die zwei wichtige, miteinander verknüpfte Komponenten enthält: Die erste bezieht sich auf die Vollendung der Aufgabe, Frieden und Stabilität innerhalb Europas zu sichern; die zweite hat zu tun mit der Auseinandersetzung mit der gefährlichsten Bedrohung für die zukünftige transatlantische Sicherheit, die von jenseits des Kontinents, vom „Weiteren Nahen Osten“ ausgeht. Eine zusätzliche, aber immer noch wichtige strategische Überlegung betrifft den Zugang Europas zu Energievorräten.

Im Verlauf des letzten Jahrzehnts haben NATO und EU erfolgreich Stabilität verbreitet und dabei geholfen, die Demokratie in großen Teilen der östlichen Hälfte des europäischen Kontinents zu festigen, von den baltischen Staaten im Norden bis nach Rumänien und Bulgarien im Süden. Als Ergebnis davon ist Europa heute wahrscheinlich demokratischer, prosperierender und sicherer als jemals zuvor in seiner Geschichte. Gleichzeitig gibt es jedoch Teile des Kontinents, wo Frieden und Stabilität noch nicht vollständig etabliert sind. Dazu gehören vor allem der westliche Balkan, in die Ukraine und Weißrussland sowie der Schwarzmeer-Raum. Während sich EU und NATO nachdrücklich auf dem Balkan engagieren und eine neue Haltung gegenüber der Ukraine und Weißrussland entwickeln, kann dasselbe im Hinblick auf das Schwarze Meer nicht gesagt werden, einer Region, die strategisch ebenso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger ist.

Die Einbeziehung der Schwarzmeer-Region in das transatlantische System würde sowohl die Grundfesten dieses Systems stärken und es auch sicherer machen angesichts der vielen künftigen Bedrohungen von Frieden und Stabilität, die die größten Sorgen bereiten. Die Frage des strategischen Schutzes ist am einfachsten von der negativen Seite her zu beschreiben. Wenn man über die zahlreichen großen und neuen Probleme und Bedrohungen nachdenkt, die den Europäern heute Sorge bereiten – seien es illegale Einwanderung, Drogen, Proliferation oder Frauenhandel –, so stellt die Schwarzmeer-Region die neue Frontlinie zu deren Bekämpfung dar, denn durch diese Region führen einige der Hauptwege für derartigen Schwarzhandel. Die traditionellen Handelsrouten der Seidenstraße dienen heute dazu, um Heroin auf europäische Märkte zu schleusen und gefährliche Technologien an Al-Khaïda-Terroristen zu liefern. Zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrhundert werden Handelswege, die von europäischen Staaten kontrolliert werden, für den Handel mit Zwangsprostitution, also Frauen und Kindern, genutzt. Darüber hinaus reichen die vier „eingefrorenen Konflikte“, die von der OSZE überwacht werden (Transnistrien, Abchasien, Süd-Ossetien und Berg-Karabach) in diese Region hinein. Es wird vielfach und zu Recht vermutet, dass diese ungelösten Probleme des Sowjetreichs nun als Verladeorte für Waffen, Drogen und Opfer von Menschenschmuggel dienen und dass sie Brutstätten für das internationale organisierte Verbrechen und nicht zuletzt für Terrorismus sind.

Der „Weitere Nahe und Mittlere Osten“

Ein weiterer, gleichermaßen wichtiger strategischer Grund hat mit dem „Weiteren Nahen und Mittleren Osten“ zu tun. Während des 20. Jahrhunderts war Europa, insbesondere Mitteleuropa, der Ausgangspunkt für den größten potenziellen Konflikt, dem sich der Westen gegenübersah. Das „Fulda Gap“ im geteilten Deutschland war der Ort, von dem viele fürchteten, dass dort der nächste große Krieg ausbrechen würde. Heute werden in dem einzigen in Fulda verbliebenen Gap Blue Jeans verkauft, während wir uns Sorgen machen über Terroristen, die mit Massenvernichtungswaffen ausgerüstet sind und Angriffe auf beiden Seiten des Atlantiks durchführen können. Nun ist der „Weitere Nahe Osten“ die Gegend, von der wahrscheinlich die gefährlichsten Bedrohungen für die transatlantische Gemeinschaft ausgehen und wo Amerikaner und Europäer mit großer Wahrscheinlichkeit riskieren, ihr Leben zu verlieren, und wo dies auch passiert.

Die Schwarzmeer-Region ist das Epizentrum der großen strategischen Herausforderung, die darin besteht zu versuchen, Stabilität in einen großeuropäischen Raum und darüber hinaus in den „Weiteren Nahen Osten“ zu tragen. Während die NATO ihre Rolle in Afghanistan ausweitet und sich dort auf eine langfristige Mission vorbereitet und während sie darüber nachdenkt, zusätzliche Verantwortung in Irak zu übernehmen, wird die Schwarzmeer-Region allmählich mit anderen Augen gesehen: Sie erscheint nicht mehr als ein Punkt an der Peripherie der europäischen Landmasse, sondern man sieht in ihr zunehmend ein Kernelement des strategischen Hinterlands des Westens.

Kurz gesagt verläuft die Nahtstelle zwischen der transatlantischen Gemeinschaft und dem „Weiteren Nahen Osten“ entlang dem Schwarzen Meer, dem neuen „Fulda Gap“. Die Generationenaufgabe, Stabilität in den „Weiteren Nahen Osten“ zu bringen, würde durch eine stabile und erfolgreich verankerte Schwarzmeer-Region wesentlich erleichtert. Dies ist beileibe nicht nur eine Frage der Geographie, des Territoriums oder des westlichen Zugangs zu Militärbasen, die es uns erleichtern, den Krieg gegen den Terrorismus zu führen. Wir haben ein grundsätzliches Interesse daran, dass sich diese Länder selbst erfolgreich zu jener Form von demokratischen und stabilen Gesellschaften wandeln, die dann als eine Plattform dienen können, um westliche Werte weiter in Richtung Osten und Süden zu verbreiten. Die Fähigkeit Aserbaidschans, sich selbst in eine erfolgreiche muslimische Demokratie zu verwandeln, ist wahrscheinlich ebenso wichtig wie unsere Fähigkeit, den Krieg gegen den Terror zu gewinnen oder Zugang zu Militärbasen auf dem Boden Aserbaidschans zu erlangen. Was aus diesen Ländern wird, ist möglicherweise genau so wichtig wie ihre geographische Lage.

Die Mechanismen und Bündnisse, die Europa und die Vereinigten Staaten bei gemeinsamen Unternehmungen auf dem Balkan, im Kaukasus und in der Schwarzmeer-Region entwickelt haben, werden aller Voraussicht nach auch von unschätzbarem Wert sein bei der Erfüllung der langfristigen Aufgabe, Demokratie in den „Weiteren Nahen Osten“ zu bringen. In der Schwarzmeer-Region stehen wir ethnischen Konflikten und wirtschaftlichem Niedergang mit denselben Bedingungen gegenüber wie im „Weiteren Nahen Osten“. Vielleicht werden wir einmal auf eine erfolgreiche Schwarzmeer-Strategie zurückblicken und darin ein Versuchsfeld sehen, auf dem Multilateralismus und Staatenbildung erstmals wirkungsvoll entwickelt worden sind.

Zu guter Letzt gibt es im strategischen Bereich eine Überlegung, die sich auf die euro-asiatischen Energievorräte bezieht und auf ihre Bedeutung für die Energiesicherheit Europas sowie auf die Umweltqualität im transatlantischen Raum. Gegenwärtig importiert Europa ungefähr 50 Prozent seiner Energie über schwierige und oftmals gefährliche Routen durch den Bosporus und den Ärmelkanal. Um das Jahr 2020 wird Europa 70 Prozent seiner Energie aus Quellen außerhalb des Kontinents beziehen.

In dem Maße, wie wir in westlichen Hauptstädten politische Befürchtungen über russischen oder saudischen Einfluss oder Einwände gegen Atomenergie und unbegrenzte Schiffstransporte entlang unserer Strände haben, sollten wir ernsthaft prüfen, was ein stabiles und sicheres Schwarzmeer-System an Alternativen zu bieten hat.

Die Schwarzmeer-Region umfasst und beherrscht den gesamten euro-asiatischen Energiekorridor, von den transukrainischen Öl- und Gaspipelines, die auf die Märkte im Norden Europas führen, bis zu der Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline, die ins Mittelmeer führt. Eine neue, auf die Anbindung und Stabilisierung der Region gerichtete transatlantische Strategie könnte dazu dienen, die riesigen Energiereserven des Kaspischen Beckens und Zentralasiens auf vielfältigen, sicheren und umweltverträglichen Routen auf europäische Märkte zu bringen. Diese Energievorräte werden nicht nur den Wohlstand eines politisch unabhängigen Europas auf Jahrzehnte hinaus sichern, sondern die Schaffung und Erhaltung dieser Routen wird den Volkswirtschaften, die in der Revolution des Jahres 1989 auf der Strecke geblieben sind, einen wichtigen wirtschaftlichen Anstoß geben.

Die moralische Frage

Genauso wichtig wie das strategische Argument für ein transatlantisches Engagement in der Schwarzmeer-Region ist die moralische Frage. Schließlich war es genau die Verknüpfung von moralischen und strategischen Faktoren, die die Frage der Erweiterung von NATO und EU für Mittel- und Osteuropa so zwingend machte und die wahrscheinlich sowohl die Elite als auch die öffentliche Meinung beherrschte. Zusammengefasst basierte dieses Argument auf der Annahme, dass der Westen eine moralische Pflicht hatte, den Schaden, den ein halbes Jahrhundert der Teilung und des Kommunismus angerichtet hatte, zu beheben und Europas östliche Hälfte so demokratisch und sicher zu machen wie die westliche Hälfte des Kontinents. Jetzt muss dasselbe Argument auf den Schwarzmeer-Raum ausgedehnt werden

Die Einbeziehung der Schwarzmeer-Länder ist ein natürlicher Schritt bei der Vollendung unserer Vision eines geeinten und freien Europas. Heute gibt es dort eine wachsende Zahl von Stimmen, die den Wunsch äußern, sich mit der transatlantischen Gemeinschaft zu verbinden und durch die Mitgliedschaft in NATO und EU eines Tages Vollmitglieder dieser Gemeinschaft zu werden. Die Ukraine erklärt öffentlich, eine strategische Entscheidung in diesem Sinne getroffen zu haben, auch wenn einige Entscheidungen von Präsident Leonid Kutschma und der geringe Fortschritt der Ukraine bei Reformen das Verfahren gebremst haben. Und erst vor kurzem hat sich Georgien eindeutig in dieselbe Richtung bewegt; Aserbaidschan hat bereits länger Hoffnungen in Richtung NATO gehegt. Armenien bleibt wegen seiner engen Bindung an und seiner Abhängigkeit von Russland in diesem Zusammenhang weiterhin die einzige Ausnahme.

Diese Wünsche haben bis jetzt eine ambivalente Reaktion des Westens hervorgerufen – genau so, wie dies vor zehn Jahren auf Grund der Wünsche Mittel- und Osteuropas ursprünglich bei Vielen der Fall war. Überwältigt von den Herausforderungen, die die Vollendung der Integration Mittel- und Osteuropas erforderten, wollen viele Europäer über Optionen für eine weiter gehende Erweiterung in absehbarer Zeit nicht nachdenken. Außerdem haben im Westen viele die Schlüsselrolle vergessen, die diese Region einstmals bei der Entwicklung der westlichen Zivilisation gespielt hat. Zusammen mit dem Mittelmeer-Raum war sie Wiege und Schmelztiegel von Kulturen und Zivilisation, die in beträchtlichem Maße zum Aufbau dessen beigetragen haben, was wir heute den Westen nennen. Die Rückgewinnung dieser Kulturen und die Unterstützung dieser Gesellschaften bei der Reform und ihrer Transformation in Gesellschaften wie die unseren stellt den nächsten Schritt dar hin zur Vollendung der Vereinigung Europas.

Einmal mehr tut der Westen sich schwer mit der Definition dessen, was „Europa“ und was „die transatlantische Gemeinschaft“ darstellen. Mehrmals im Verlauf der in den neunziger Jahren geführten Debatte über die Erweiterung von NATO und EU sahen wir uns der Frage gegenüber, wie weit die Mitgliedschaft in diesen Institutionen gehen konnte oder sollte. Auf jeder dieser Etappen gab es westliche Stimmen, die nach einer Pause oder Unterbrechung des Prozesses riefen. Schließlich gewannen die Befürworter eines offenen Vorgehens die Oberhand mit dem moralischen Argument, dass Länder, die länger unter dem Kommunismus gelitten hätten oder einfach weniger entwickelt seien, deshalb nicht diskriminiert oder bestraft werden sollten, sondern dass ihnen vielmehr in Aussicht gestellt werden sollte, dass ihnen die Tür zu unseren Institutionen offen stünden, wenn sie sich denn eines Tages unsere Werte zu eigen gemacht hätten und die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft erfüllten. Darauf müssen wir heute erneut drängen.

Die moralische Frage hängt ab vom Ausmaß der gemeinsamen transatlantischen Verantwortung gegenüber den Völkern, die von unseren zentralen Institutionen nicht unmittelbar betroffen sind, die jedoch einige oder sogar alle kulturellen und historischen Charaktereigenschaften teilen, durch die unsere Zivilisation definiert ist – wie es beispielsweise auf die Armenier zutrifft. Die Neue Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union entspricht so weit wie möglich der Frage an Brüssel: „Bin ich meines Bruders Hüter?“ Und wie wir seit der Lektüre der Genesis wissen, gibt es auf diese Frage sehr unterschiedliche Antworten. Am einen Ende des Spektrums stehen diejenigen, die gerade mal über ein „Kerneuropa“ reden würden, dessen stark integrierte Märkte auf die jetzigen EU-Mitglieder beschränkt wären und das de facto ein „christlicher Club“ bliebe. Am anderen Ende stehen diejenigen, denen eine politisch vollendete Gemeinschaft vorschwebt, die ein weites Spektrum von Ethnien und Religionen in einem eher mäßig integrierten Europa umfasst. Auf jeden Fall kann man mit Gewissheit sagen, dass die Antwort auf diese moralische Frage existenzielle Bedeutung für die 250 Millionen Menschen hat, die auf unsere Entscheidung warten und von denen die meisten in der Schwarzmeer-Region leben.

Der zweite moralische Grund, der die Notwendigkeit einer transatlantischen Strategie für die Schwarzmeer-Region unterstreicht, kreist paradoxerweise um Russland. Heute sehen viel zu viele Menschen Russland als den Grund an, warum sich der Westen nicht in der Schwarzmeer-Region engagieren sollte – weil sie fürchten, dass ein solches Engagement neue Spannungen mit Moskau hervorrufen könnte. Wahrscheinlich ist genau das Gegenteil der Fall. Das langfristige Ziel des Westens besteht darin, die Demokratisierung des russischen Staates zu unterstützen und Moskau zu ermutigen, seine uralte, überholte Null-Summen-Einstellung zur Geopolitik über Bord zu werfen. Eine Politik, die im Wesentlichen das Schwarze Meer dem Einfluss Russlands überlässt, wird wahrscheinlich beides hinauszögern. Es ist hier nicht der Ort, um eine umfassende westliche Politik gegenüber Russland zu entwerfen, aber eines ist sicher: Einmal mehr sieht der Westen sich dem Dilemma gegenüber, dass eine Strategie, die auf einen weiteren Ausbau der Stabilität abzielt, aller Wahrscheinlichkeit nach von vielen Russen als feindselig empfunden wird. Und einmal mehr muss der Westen ein solches Denken zurückweisen und stattdessen bereit sein, seine eigene integrationistische Logik zu verteidigen.

In Wirklichkeit hat die Ausweitung von NATO und EU nach Mittel- und Osteuropa keine neuerliche Bedrohung an Russlands Westgrenze hervorgerufen. Ganz im Gegenteil – die Erweiterung hat wahrscheinlich einen dauerhafteren Frieden und ein Maß an Sicherheit in dieser Region geschaffen, wie zu keiner anderen Zeit in der jüngeren Geschichte . Eine erweiterte NATO und EU haben de facto Befürchtungen beseitigt, die russische Führer seit Napoleon umgetrieben hat, nämlich die Angst vor dem Entstehen einer aggressiven und feindlichen Macht in ihrem Westen. Darüber hinaus haben seit dem 11. September die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten viel getan, um die Bedrohung der südlichen Grenze Russlands zu vermindern, indem sie einen erfolgreichen Krieg gegen die Taliban geführt und dort eine NATO-geführte Friedenstruppe stationiert haben.

Wo anfangen?

Die Entwicklung einer neuen transatlantischen Strategie für die Schwarzmeer-Region muss damit beginnen, dass die großen Demokratien von Nordamerika und Europa sich ihrer moralischen und strategischen Interessen in der Region bewusst werden. In dieser Hinsicht hat die Europäische Union bereits einen wesentlichen Schritt getan, indem sie den Südkaukasus in Europas Nachbarschaftspolitik, informell auch das „größere Europa“ genannt, einbezogen hat. Das ermöglicht es diesen neuen Demokratien, über die „vier Freiheiten“ des größeren Europas nachzudenken – Freiheit des Marktzugangs, von Direktinvestitionen, zum Arbeitsplatzwechsel und zum Reisen. Während die Europäische Union Diskussionen über ihre Nachbarschaftspolitik auf bilateraler Ebene beginnen und dabei großen Wert auf die Konditionalität legen wird, wird die Liberalisierung von Handel, Arbeit und Kapitalflüssen im Hinblick auf die Schwarzmeer-Länder schnell positive regionale und innerregionale Auswirkungen zeitigen.

Für die NATO ist es Zeit, auf ihrem bevorstehenden Gipfel in Istanbul einen ähnlichen Schritt zu tun, indem sie das strategische Interesse anerkennt, das das Bündnis in der Region hat. Eine solche Anerkennung sollte verbunden werden mit einem Stufenplan für umfassende bilaterale sowie regionale Zusammenarbeit. Verschiedene westliche Länder können sich entschließen – wie es sich in Mittel- und Osteuropa als effektiv erwiesen hat – eine Führungsrolle zu übernehmen, und mit jedem der Schwarzmeer-Staaten auf bilateraler oder multilateraler Ebene zusammenarbeiten. Das Handwerkszeug für ein solches Bündel erweiterter militärischer Zusammenarbeit ist im Rahmen der „Partnerschaftsprogramme“ der NATO bereits vorhanden. Was fehlt sind der politische Wille und die Leitung, um solche Programme den spezifischen Interessen und Bedürfnissen der Region anzupassen. So wie die NATO auf die veränderten geopolitischen Verhältnisse der Visegrád- und Wilna-Staaten reagiert hat, muss sie eine in sich schlüssige Schwarzmeer-Strategie entwickeln, die die politischen Ziele der Europäischen Union ergänzt.

Schließlich müssen sich Nordamerika und Europa aufraffen und mittels der OSZE und der Vereinten Nationen eine konzertierte Anstrengung unternehmen, um die verhärteten Konflikte zu lösen, die die Region immer noch belasten, und damit den Weg bereiten für einen Rückzug der russischen Truppen, die dort seit dem Ende des Kalten Krieges verblieben sind. Fortdauernde Konflikte und Besatzungstruppen wirken wie Krebszellen im Hinblick auf die Entwicklung einer friedlichen und prosperierenden Region. Ein „eingefrorener“ Konflikt wird kriminelle Energien freisetzen und den Schmuggel befördern, aber keine wirtschaftliche Entwicklung bringen. Anstatt eines gemeinsamen regionalen Bemühens um eine Sicherheitskooperation haben die russischen Militärbasen nur die Verbreitung von Waffen, ein Klima der Einschüchterung und Schutzgelderpressung begünstigt. 15 Jahre nach dem Fall der Mauer ist es an der Zeit, die Beilegung der schwelenden Konflikte von Transnistrien bis Berg-Karabach zu einem Hauptthema unserer Diplomatie und in unseren Beziehungen zu Moskau zu machen.

Derartige Schritte können zum Entstehen einer neuen Reformdynamik in der Region beitragen. Gewiss muss der Anstoß zu Reformen und Wandel aus diesen Ländern selbst kommen. Aber der Westen kann sowohl bei diesem Prozess als auch bei der Schaffung eines außenpolitischen Umfelds, das derartige Entwicklungen vorantreibt, behilflich sein.

Indem wir das tun, würden wir die Grundlage schaffen für die Vollendung der dritten Phase eines „größeren Europas“. Die erste Phase hat sich auf die Anbindung Polens und der Visegrád-Länder konzentriert. Die zweite Phase erweiterte unsere Vision eines größeren Europas durch die Einbeziehung der neuen Demokratien vom Baltikum bis zum westlichen Rand des Schwarzen Meeres. Heute sehen wir uns der Herausforderung gegenüber, unsere Strategie auszudehnen, damit sie ein Europa umfasst, das von Weißrussland im Norden bis zum östlichen Rand der Schwarzmeer-Region im Süden reicht.

Die Vollendung dieser Vision eines geeinten und freien Europas wäre ein enormer Fortschritt für Demokratie, Integration und Sicherheit in der transatlantischen Region. Sie würde auch die Position der Vereinigten Staaten und Europas verbessern, um mit den Herausforderungen des „Weiteren Nahen und Mittleren Ostens“ fertig zu werden. Die Schlüsselfrage indessen lautet nicht, ob es wünschenswert ist, sondern ob es erreichbar ist. Was wir aus der Erweiterung von NATO und Europäischer Union und seit der Koordinierung der Arbeit unserer multilateralen Institutionen gelernt haben, lässt den Schluss zu, dass eine gemeinsame und behutsame Strategie im Hinblick auf das Schwarze Meer durchaus im Rahmen unserer Möglichkeiten liegt.

Der Beitrag erscheint auch auf Englisch in Nr. 125 (Juni/Juli 2004) von Policy Review.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2004, S. 75-86

Teilen

Mehr von den Autoren