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01. Juli 2012

Eine Solarunion für das Mittelmeer

Der Beitrag der Energiepolitik zur transmediterranen Kooperation

Wie könnte eine moderne, von gemeinsamen Interessen geleitete Zusammenarbeit im EUMENA-Raum aussehen? Welchen Beitrag können die Energiepolitik und namentlich die Desertec-Initiative leisten, um eine solche Zusammenarbeit zu etablieren? Entwurf einer Strategie – und Plädoyer für einen Paradigmenwechsel.

Im August 2011 – in Libyen waren Milizen des Nationalen Übergangsrats gerade dabei, Tripolis zu erobern – veröffentlichte eine Gruppe junger Wissenschaftler der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik eine Studie mit einer provokanten Grundfrage: „Wenn die strategische Antwort auf den Fall des Eisernen Vorhangs die EU-Erweiterung war, was ist dann die strategische Antwort der Europäischen Union auf den Arabischen Frühling?“1

Die Transformation im Maschrek ist eine der raren Gelegenheiten für einen politischen Pfadwechsel. Der Clubcharakter der Europäischen Union ist nicht mehr geeignet, die Interessen ihrer Mitgliedstaaten in einer multipolaren Welt zu befördern. Das binäre Schema „Die und Wir“ trägt den komplexen Austauschbeziehungen moderner Gesellschaften nur unzureichend Rechnung. Letztlich wird es darauf ankommen, ideologischen Ballast abzuwerfen und die Grenzen der Europäischen Union aufzuweichen und auszuweiten.

Ebenso verhält es sich mit einer einseitig an Stabilität orientierten, Demokratiedefizite ignorierenden westlichen Nahost-Politik. Wie wir langfristig unsere Austauschbeziehungen zu den Ländern der Region gestalten, wird über unsere Zukunftsfähigkeit mitentscheiden. Das gilt besonders für jene Politikfelder, die regionale und überregionale Lösungsansätze erfordern: Sicherheit, Klimaschutz, Migration, Energieversorgung. In diesen Politikfeldern müssen Systementscheidungen getroffen werden, die langfristig große Mengen Investitionskapital binden (Beispiel Kraftwerksbau) und weitere Systementscheidungen nach sich ziehen (Beispiel Netzausbau).

Radikaler Pfadwechsel

Mit der Energiewende hat Deutschland eine weitreichende Systementscheidung getroffen und einen radikalen Pfadwechsel vorgenommen. Bei einer solchen Entscheidung ist das Land auf kooperatives Verhalten seiner Anrainer angewiesen. Die Bundesregierung erkennt diese Abhängigkeiten in ihrem Energiekonzept an und will deshalb bis 2050 15 Prozent der Energieversorgung aus der MENA-Region importieren – Strom aus erneuerbaren Energiequellen.

Über Desertec und den Mittelmeer-Solarplan, die eine Energieversorgung Europas über das Mittelmeer ermöglichen sollen, ist in den zurückliegenden Jahren viel und kontrovers diskutiert worden.2 Und obwohl die Wüstenstrominitiative nach beschwerlichem Start nun endlich Fortschritte macht, scheint der Preisverfall auf dem Photovoltaikmarkt (PV) die Vision eines transkontinentalen grünen Strompakts zu gefährden, noch ehe die ersten solarthermischen Anlagen (Concentrated Solar Power, CSP) ans Netz gehen. Denn verdoppelt sich weltweit die PV-Kapazität, halbiert sich der Preis für Stromgewinnungskosten aus Sonnenenergie. Allein in den vergangenen 18 Monaten ist der Marktpreis für PV-Module um rund 40 Prozent gesunken. Setzt sich dieser Trend fort, wird Solarstrom hierzulande schon 2015 – auch ohne Subventionen – konkurrenzfähig sein.

Das bringt die Wüstenstrominitiative unter massiven Druck, denn ihr technologisches Rückgrat sind teure CSP-Kraftwerke, die nur im Sonnengürtel der Erde funktionieren. Im Gegensatz zu Photovoltaikanlagen, die Strahlungsenergie auch in sonnenarmen Regionen unmittelbar in Verbrauchsstrom umwandeln, können CSP-Anlagen Energie in vielfältiger Form speichern. Parabolspiegel fokussieren dabei die Sonnenenergie auf ein Rohrsystem, das mit einem speziellen Thermoöl befüllt ist. Dieses Spezialöl bringt Wasser zum Verdampfen, sodass mithilfe herkömmlicher Turbinenkraftwerke kinetische Energie und schließlich Strom erzeugt werden kann. Da man das hocherhitzte Öl über einige Stunden speichern kann, entsteht ein Strompuffer. So kann auch nachts, wenn keine Sonnenenergie zur Verfügung steht, Thermoöl zur Stromproduktion genutzt werden.

Genau hierin liegt der Vorteil der CSP- gegenüber der PV-Technologie. ­Während hierzulande teure Parallelstrukturen wie Hochspeicherbecken oder Power-to-Gas-Anlagen gebaut werden müssten, um Strom aus erneuerbaren Energien auch nachts in großem Maßstab nutzen zu können, sind CSP-Anlagen bereits mit einem effizienten Puffersystem ausgestattet.

Derzeit wird an der Verbesserung dieser mehr als 100 Jahre alten Technologie gearbeitet, um CSP-Anlagen im Vergleich zu PV-Anlagen rentabler zu machen: Salz könnte das teure Thermoöl ersetzen. Und die Markteinführung sogenannter Turmkraftwerke verheißt nicht nur weitere Kostensenkungen, sondern auch höhere Effizienz bei der Stromproduktion. Bei Turmkraftwerken bündeln tausende Hohlspiegel – so genannte Heliostaten – ihre Sonnenstrahlung auf einen einzigen Kollektor an der Spitze eines Turmes. Dabei entstehen Temperaturen von mehreren Tausend Grad, die wie bei den herkömmlichen CSP-Kraftwerken durch Nitratsalz oder flüssige Medien gespeichert werden können.

Welche Technologie sich durchsetzen wird, ist eine Frage des Endverbraucherpreises. Klar ist, dass eine Stromversorgung, die sich dereinst zu 100 Prozent auf erneuerbare Energien stützen will, die Vorteile unterschiedlicher Technologien und Standorte nutzen muss. Während in Deutschland derzeit Offshore-Windparks in der Nordsee gebaut werden, die einen massiven Ausbau von Nord-Süd-Netzen notwendig machen, werden im spanischen Villena bei Alicante und jenseits der Straße von Gibraltar neue CSP-Kraftwerke installiert. So hat das vornehmlich von deutschen Konzernen getragene Dii-Konsortium jüngst mit der marokkanischen Agentur für Solarenergie den Bau eines 500-Megawatt-Pilotprojekts in Ouarzazate vereinbart. Will Deutschland von Solarstrom aus dem westlichen Mittelmeer profitieren, müsste parallel zum innerdeutschen Nord-Süd-Trassenbau ein europaweiter Ost-West-Netzausbau erfolgen. Voraussetzung dafür: die weitgehende Liberalisierung des europäischen Strommarkts. Fortschritte bisher: weitgehend Fehlanzeige.

Neue Konkurrenz

Während hierzulande ein Technologiestreit entbrannt ist, kommt das Desertec-Projekt auch in der MENA-Region nur im Schneckentempo voran. Und während sich Europa angesichts der Euro-Krise fast ausschließlich mit sich selbst befasst, ist in kürzester Zeit ein mächtiger Konkurrent auf den Plan getreten: Saudi-Arabien. Das saudische Königshaus hat jüngst mitgeteilt, dass es bis 2032 Investitionsgelder in Höhe von 109 Milliarden Dollar bereitstellen will, um 41 Gigawatt aus erneuerbaren Energien zu installieren – so viel wie 25 moderne Druckwasserreaktoren produzieren.

Zweifellos ein bemerkenswerter Vorgang: Nachdem der Wendepunkt des fossilen Zeitalters erreicht worden ist (Peak Oil), beginnt der größte Ölförderer und eines der von Wassermangel am härtesten betroffenen Länder der Welt einen Systemwechsel vorzubereiten. Damit eröffnet das neben dem Iran und Ägypten einflussreichste Land der Region ein Zukunftsszenario, das für die Region eine wichtige Orientierungsfunktion haben könnte. Eingebettet in eine regionale Entwicklungsperspektive der Mitgliedstaaten des Golf-Kooperationsrats kann eine solche Initiative viel größere Akzeptanz bei gleichzeitig geringeren Transferkosten entwickeln als das europäische Konkurrenzmodell.

Denn das größte Zukunftsproblem der Region ist nicht Energiearmut. Ägypten etwa hat hinreichend Energie zur Verfügung, um seine Bevölkerung und seine Industrien zuverlässig zu versorgen, ohne dass das Potenzial an Erneuerbaren auch nur annähernd ausgeschöpft wäre. Das drängendste Problem der Region ist die Versorgung mit Trinkwasser. Der größte Energiebedarf in der Region wird in Zukunft durch die Produktion von Trinkwasser durch energieintensive Entsalzungsanlagen entstehen – und das bei rasantem Bevölkerungswachstum.

Wasserknappheit ist aber nicht bloß ein Problem der südlichen Mittelmeeranrainer. Es betrifft schon heute ganz Südeuropa. Denn wenn in regenarmen Perioden die Pegel der Flüsse sinken, müssen Kraftwerke und Industrieanlagen abgeschaltet werden, weil ihnen das Kühlmittel fehlt. Dabei wird der Klimawandel den Wassermangel noch erhöhen und auch in Regionen Europas spürbar werden lassen, die bislang von Dürren verschont geblieben sind. Dass sich ein solcher Wasser-Energie-Doppelinfarkt auf die Land- und Viehwirtschaft – und damit die Ernährungssicherung – auswirkt, ist ein Szenario, das bislang in keiner 2050-Prognose berücksichtigt wird. Spätestens dann wird Europa die Folgen klimabedingter Migration zu spüren bekommen.

Doch in jeder Krise liegt eine Chance. Denn schon heute verfügt der Grüne Industriekomplex Europas – insbesondere Deutschlands – sowohl über die technologischen Voraussetzungen als auch über die Innovationskraft und die Produktionskapazitäten, um den Folgen des Klimawandels zu begegnen. Und im globalen Wettbewerb wird die Zukunft Europas nicht zuletzt von der Erschließung neuer Beschaffungs- und Absatzmärkte abhängen.

Moderation von Abhängigkeiten

All das zeigt: Die Gesellschaften des erweiterten EUMENA-Raumes werden auch nach Peak Oil eine Schicksalsgemeinschaft bleiben. Diese gegenseitigen Abhängigkeiten vorzudenken und zum Nutzen aller auszugestalten, darin liegt die Chance des Arabischen Frühlings.

Voraussetzung hierfür ist ein grundlegender Wandel der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Die Konditionalität der bisherigen ENP-Aktionspläne ist nicht dazu geeignet, den gemeinsamen Herausforderungen zu begegnen. Je schneller wir zu einer integrierten EU­MENA-Politik nicht nur in Fragen der Wasser-, Energie- und Ernährungssicherheit kommen, desto milder werden in Zukunft die Folgen von Peak Oil und Klimawandel ausfallen. Mit kurzfristigen Hilfs- und Konversionsprogammen, mit technischer Machbarkeitsmentalität oder ökonomisch getriebener Investitionslogik wird diesen Herausforderungen nicht beizukommen sein. Hierzu bedarf es einer auf lange Sicht angelegten Kooperation auf allen gesellschaftlichen Ebenen.

Europa hat hierbei einen reichen Erfahrungsschatz. Denn immer, wenn es um seine vitalen Interessen ging, hat sich ein Mechanismus bewährt: maximale Integration durch strukturelle, womöglich irreversible Verflechtung. Weil eine Stabilitätspolitik für das 21. Jahrhundert der langfristigen Moderation von Abhängigkeiten bedarf, ist es an der Zeit für eine transmediterrane Solarunion.

Dr. OLIVER GNAD ist Leiter von GIZ AgenZ in Berlin. Der Beitrag gibt seine persönliche Meinung wieder.
 

  • 1 Almut Möller (Hrsg.): Crossing Borders. Rethinking the European Union’s Neighborhood Policies. Mit Beiträgen von Cornelius Adebahr, Claire Demesmay, Carsten Främke u.a. (DGAPanalyse 2), Berlin, August 2011.
  • 2Siehe u.a.: Europa unter Strom, Internationale Politik, Juli/August 2011.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/ August 2012, S. 26-29

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