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01. Nov. 2014

Eine neue Ordnung

Der Ukraine-Konflikt stellt die Weichen für Europas Sicherheit

Die Ukraine-Krise hat die Grundlagen der europäischen Sicherheitsordnung dauerhaft verändert. Die Nationalstaaten sowie NATO, EU und OSZE müssen diese neue Ordnung nun gestalten und dabei eine sinnvolle Arbeitsteilung entwickeln. Gleichzeitig gilt: Sicherheit gibt es nur mit, nicht ohne Russland.

Fast 24 Jahre lang basierte die Sicherheitsordnung in Europa auf den Prinzipien der Unverletzbarkeit der Grenzen, des Gewaltverzichts, der friedlichen Beilegung von Konflikten und des Respekts der Souveränität der europäischen Staaten. Diesem regelbasierten Ordnungssystem, das alle Seiten vertraglich mehrfach anerkannt haben, sei es in der KSZE-Schlussakte von 1990, dem Budapester Memorandum von 1994 oder der NATO-Russland-Grundakte von 1997, hat Wladimir Putin seit März 2014 eine krachende Absage erteilt. Für Europa sind das schlechte Nachrichten – mit tiefgreifenden politischen, militärischen und wirtschaftlichen Folgen.

Auf politischer Ebene läutet Russlands Vorgehen das Ende einer halbwegs kooperativen Sicherheitsordnung und den Beginn einer konfrontativen und instabilen Ära ein. Denn mit der Annexion der Krim und der bis heute andauernden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung der prorussischen Separatisten im Osten der Ukraine hat Putin nicht nur die Grundprinzipien der europäischen Sicherheitsarchitektur mit Füßen getreten. Er hat im gleichen Atemzug klargestellt, dass er sich auch in Zukunft nicht mehr länger an ihre Regeln gebunden fühlt, wenn sie russischen Interessen zu wider laufen.

Konkret bedeutet dies zum Beispiel, dass Putin die territoriale Inte­grität seiner Nachbarn im postsowjetischen Raum und die Unverletzbarkeit ihrer Grenzen nur so lange respektiert, wie diese nicht auf die Idee kommen, sich von russischem Einfluss lösen zu wollen. Das Recht der postsowjetischen Staaten auf freie Bündniswahl lässt Moskau nur dann gelten, wenn die Wahl auf Russland fällt, wie etwa in Zentralasien. Dies bedeutet aber auch, dass sich die Europäer auf weitere Regelbrüche einstellen müssen, nämlich immer dann, wenn die Regeln russischen Vorstellungen zufolge stören, etwa bei der Rüstungskontrolle.

Die Basis jedweder vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Westen ist durch die Ukraine-Krise somit auf lange Zeit gestört. Denn selbst wenn sich die Lage in der Ostukraine nun beruhigen sollte: In Europa herrschen große Zweifel daran, dass Putin zukünftig diejenigen Verträge auch einhält, die Russland mitverhandelt und ratifiziert hat. Darüber hinaus ist ein fast in jeder Hinsicht autoritärer Staat, dessen Präsident seine Zustimmung zu großen Teilen aus einer nationalistischen, antiwestlichen und revisionistischen Politik zieht, ein schwieriger Partner für eine Sicherheitspartnerschaft von Vancouver bis nach Wladiwostok, sowohl für die NATO als auch für die EU. Doch auf eine Politik in der unmittelbaren Nachbarschaft, die nicht auf Partnerschaft beruht, sondern mit Störern und Gegnern umgehen muss, ist die Europäische Union schlecht vorbereitet.

Mehr Unsicherheit, mehr Kosten

Putin hat Europa unversehens in einen (Groß)konflikt mit Russland katapultiert, an dessen schiere Möglichkeit eigentlich fast niemand im Westen mehr glauben wollte. Für Europa bedeutet eine konfrontative Sicherheitsordnung ganz simpel mehr Unsicherheit, weniger Stabilität und mehr Kosten. Denn die europäischen Staaten verstehen Russlands Politik immer weniger. Und mehr Unsicherheit im Verhalten eines Akteurs bedeutet mehr Unsicherheit für alle Beteiligten. Die Europäer müssen sich nun für ein breites Spektrum an Risiken wappnen und ihre Gesellschaften darauf vorbereiten, von Engpässen in der Energieversorgung über Cyber­attacken hin zu militärischen Bedrohungen – das erhöht auch die Kosten für Sicherheit.

Die politische Veränderung bezieht sich auch darauf, dass die Wertvorstellungen für eine globale Sicherheitsordnung, auf die die europäische und die transatlantische Zusammenarbeit in EU und NATO aufbauen, von außen in Frage gestellt werden. Nämlich eine vom Respekt der Grundrechte bis zur Achtung des Prinzips nationaler Souveränität reichende regelbasierte Ordnung. Dramatisch ist dabei, dass diese Wertebasis nicht nur im Osten durch das russische Vorgehen bedroht wird, sondern auch an der Südflanke durch den Islamischen Staat (IS). Und nicht zuletzt – wenn auch in einer anderen Dimension – mitten im Westen selbst.

Hier wurde im Zuge der Ukraine-Krise deutlich, wie viele Europäer, mit Verweis auf eigenes Fehlverhalten – von Abu-Ghraib, Guantánamo bis NSA – bereit sind, universale Maßstäbe aufzugeben. Jakob Augstein scheint den Nerv vieler Deutscher zu treffen, wenn er das „normative Projekt des Westens“ eine „totalitäre Ideologie“ und den „Anspruch des Westens, für die ganze Welt zu sprechen“, eine „historische Anmaßung“ nennt, die nicht auf einer „höheren Moral“, sondern auf einer „stärkeren Macht“ beruhe.1

Auf militärischer Ebene bedeutet die Ukraine-Krise, dass Streitkräfte und militärische Mittel wieder an Bedeutung gewinnen. Allerdings werden sie anders eingesetzt als noch etwa im Georgien-Krieg 2008: In der Ukraine agiert das russische Militär verdeckt, in Form der kleinen grünen Männchen und mittlerweile halb offiziell, wenn Moskau Separatisten in der Ostukraine personell und materiell unter die Arme greift. Konventionelle Kräfte sind auch beteiligt, übernehmen aber neue Aufgaben: Die bis zu 40 000 Soldaten, die Russland an der ukrainischen Grenze postiert hatte, sind vor allem Drohkulisse, Schild und Versorgungspunkt für die unkonventionellen Kräfte, die in der Ukraine kämpfen.

Putin zeigt, wie er derzeit gedenkt, Konflikte auszutragen: scheinbar überraschend, als eine Art moderner Stellvertreterkrieg, ohne gekennzeichnete Kombattanten, aber mit Spezialkräften, Angriffen auf Informationssysteme, dem gezielten Einsatz von Propaganda, Wirtschaftssanktionen, Cyberangriffen und der Instrumentalisierung von ethnischen Minderheiten. In der Ostukraine kann man diese Form „hybrider Kriegsführung“ wie im Reagenzglas beobachten: Sie steht Modell für einen von außen erzeugten und gesteuerten scheinbar innerstaatlichen Konflikt, in dem ein vormals stabiler Staat in wenigen Monaten in eine Arena für erbitterte bewaffnete Auseinandersetzungen verwandelt werden kann.

Zusammengenommen offenbart Putins Vorgehen auf der Krim wie auch in der Ostukraine, wie zentral militärische Macht als Instrument zur Durchsetzung russischer Interessen ist. Militär wird nicht erst dann eingesetzt, wenn alle Möglichkeiten friedlicher Konfliktlösung ergebnislos verlaufen sind, sondern ist Mittel erster Wahl. Dies zwingt auch die Europäer dazu, wieder intensiver über Militär und den Einsatz von Streitkräften nachzudenken. Aber darauf sind nur wenige europäische Staaten vorbereitet.

Kein Wandel durch Handel

Auch auf wirtschaftlicher Ebene hat Russland den europäischen Staaten ihre eigene Verwundbarkeit und Abhängigkeit in mehreren Bereichen vor Augen geführt. Dies gilt besonders für den Energiesektor. Denn die meisten Unternehmen haben in den vergangenen Jahren keinen Anlass gesehen, die Energieversorgung zu diversifizieren, um die Abhängigkeit von Russland zu reduzieren. Einige EU-Länder hängen zu 100 Prozent von russischen Gaslieferungen ab, etwa Litauen und Finnland. Diese Abhängigkeit zu reduzieren dauert Zeit – denn so schnell lassen sich weder die Verträge ändern noch die technischen Voraussetzungen für alternative Versorgung schaffen. Und Diversifizierung kostet Geld, etwa, wenn alternative Energiequellen oder Zugänge erschlossen oder neue Terminals gebaut werden müssen. Vor allem aber haben die meisten Staaten in dem liberalisierten europäischen Energiemarkt nur begrenzte Steuerungsfähigkeit gegenüber den Energieunternehmen.

Wirtschaftlich bedeutet die Ukraine-Krise für die Europäer also auch hier mehr Unsicherheit und potenziell zusätzliche Kosten aufgrund höherer Preise. Außerdem entlarvt sie einen fundamentalen Trugschluss westeuropäischer Wirtschaftspolitik gegenüber Russland: Denn diese basierte spätestens seit den siebziger Jahren auf dem Glauben, durch wirtschaftliche Verflechtung, gegenseitige Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten militärische Eskalationen unmöglich zu machen. Das Konzept von „Wandel durch Handel“ verfolgte das Ziel, politische und wirtschaftliche Reformen in der Sowjetunion und später in Russland anzustoßen, die eine Annäherung an den Westen zur Folge hätten.

Die Ukraine-Krise lehrt uns, dass diese Annahme hier nicht zutrifft. Offensichtlich führen wirtschaftliche Interdependenz und gegenseitige Verwundbarkeit nicht immer zu stabilen und friedlichen Kooperationsbeziehungen. Die enorme wirtschaftliche Verflechtung zwischen Russland und dem Westen verhindert jedenfalls nicht, dass Konflikte auch militärisch ausgetragen werden. Sie erschwert aber sehr wohl, dass die Europäer auf diese Eskalation geschlossen und schlagkräftig reagieren können, weil die heimischen Industrien Sturm laufen gegen geplante Sanktionen oder den Bevölkerungen potenzielle Erhöhungen der Energiepreise nicht vermittelbar sind. Die Interdependenz mit Russland beeinträchtigt gerade den Einsatz der besten und schlagkräftigsten Mittel der EU: Wirtschaftssank­tionen. Denn die EU-Staaten würden selber darunter leiden.

Die Reaktionen der EU, OSZE, NATO und ihrer Verbündeten schwanken bislang zwischen Entschlossenheit und Hilflosigkeit. Insbesondere aber wirkt es, als ob die westliche Welt lediglich reagiert, während Russland den Takt vorgibt. Die Europäer scheinen die Konfliktentwicklung kaum steuern zu können, sondern hinken hinterher. Gemeinsam mit den USA haben sie von Anfang an versucht, Einigkeit in der Unterstützung für die Ukraine und der Verdammung des russischen Vorgehens zu demonstrieren. Gleichzeitig haben die USA den Europäern schnell klar gemacht, dass sie die Ukraine-Krise als europäisches Problem betrachten, entsprechendes europäisches Engagement erwarten und sich eher in der zweiten Reihe sehen.

Fragile Einigkeit

Einfach war und ist so ein gemeinsamer europäischer Ansatz allerdings nicht: Als die EU Anfang September endlich die dritte Stufe der Wirtschaftssanktionen gegen Russland beschließen wollte, ließen sich nicht wenige Mitgliedstaaten sehr bitten, ehe sie zustimmten. Frankreich setzte die Lieferung hochmoderner Hubschrauberträger der Mistral-Klasse an Russland erst Anfang September, kurz vor dem NATO-Gipfel, aus, nachdem zahlreiche Partner wiederholt Druck gemacht hatten. Aufgekündigt ist die Lieferung dieser Angriffsschiffe bis heute nicht.

Einige Staaten, etwa die Slowakei und Ungarn, halten die Kritik an Putin für übertrieben und scheren aus der vereinbarten EU-Linie aus. Ende September 2014 hat Ungarn überraschend Gaslieferungen an die Ukraine gestoppt. Für viele südliche EU-Staaten scheint die Wirtschaftskrise eine weitaus größere existentielle Bedrohung zu sein als die in der Ukraine. Und am anderen Ende des Spektrums fühlen sich Staaten wie Polen angesichts der russischen Bedrohungen mit ihren Ängsten allein gelassen und sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, die Situation zu eskalieren und zu laut nach militärischen Antworten zu rufen.

Innerhalb der europäischen Bevölkerungen gibt es mitunter eher Verständnis für Russland als Kritik. Nicht nur bei Anhängern der extremen Rechten, etwa dem Front National in Frankreich oder Jobbik in Ungarn, und der extremen Linken, wie etwa Die Linke in Deutschland. Bis weit in die Mitte der europäischen Gesellschaften hinein wird Putin nicht als Aggressor gesehen, sondern als vom Westen in die Enge getriebener und durch NATO und EU provozierter Staatschef.

Die europäische politische Einigkeit ist also fragil. Und sie riskiert, in die Brüche zu gehen, etwa wenn die Folgen der Wirtschaftssanktionen auch in der EU zu spüren sein werden, Russland die Energielieferungen reduziert oder die ukrainische Regierung Entscheidungen trifft, die den westlichen Partnern schwer vermittelbar sind. Es wird enormen politischen Willen brauchen, alle EU-Staaten langfristig auf gemeinsamem Kurs zu halten. Dies gilt umso mehr, wenn die politische Unterstützung in den Mitgliedsländern wegbricht, weil die Bevölkerungen diesen Kurs nicht gut heißen oder die Kosten dafür nicht tragen wollen. Oder aber, weil einige europäische Unternehmen weniger Probleme mit Russlands widerrechtlicher Landnahme haben als mit eventuellen Gewinneinbußen.

Gleichzeitig hat die Ukraine-Krise die bereits bestehenden Tendenzen zur Renationalisierung der Außenpolitik deutlicher zu Tage treten lassen und möglicherweise verstärkt. Denn die wichtigsten Akteure in Verhandlungen und Gesprächen sind nicht die EU, OSZE oder NATO, sondern die Staaten selbst. So haben Deutschlands, Polens und Frankreichs Außenminister federführend den Rücktritt Janukowitschs im Februar 2014 verhandelt. Die deutsche Bundeskanzlerin hat zahlreiche Gespräche mit dem russischen Präsidenten geführt. Die Europäische Union und ihr Führungspersonal hingegen haben hier nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Lediglich im wirtschaftlichen Bereich konnten sie sich durch weitreichende Sanktionen Gehör verschaffen.

Diese Renationalisierung ist wenig hilfreich, denn allein können die europäischen Nationalstaaten (und auch die USA) weder militärisch noch wirtschaftlich etwas bewirken. Gerade weil dem russischen Präsidenten ohnehin daran gelegen zu sein scheint, die Divergenzen im westlichen Bündnis weiter zu schüren, um Europa zu spalten, ist Einigkeit jetzt umso notwendiger. Wichtig wäre daher, eine sinnvolle Arbeitsteilung und damit Bündelung der Kräfte zu gewährleisten zwischen dem, was die Staaten (als von Russland respektierte Akteure) gegenüber Moskau erreichen können, und dem, was die EU als geballte europäische Kraft bewirken kann.

Neue Verteidigungspläne

Die veränderte Sicherheitsordnung hat im militärischen Bereich dazu geführt, dass die NATO als Verteidigungsbündnis und Lebensversicherung wieder ganz hoch im Kurs steht. Die EU wurde hier nicht einmal ins Spiel gebracht. Vielmehr fordern gerade die östlichen NATO-Staaten die klassische Bündnisverteidigung nach Artikel 5 ein.

Die Allianz hat bislang dreigleisig auf die Ukraine-Krise reagiert: Erstens hat sie ihre Mitglieder militärisch und politisch rückversichert. Konkret umgesetzt wird dies vor allem durch verstärkte Luftraumüberwachung im Baltikum, Marine-Einsätze, AWACS-Flüge und bilaterale Truppenentsendungen. Zweitens hält das Bündnis trotz deutlicher Kritik am Kreml die politische Zusammenarbeit mit Russland aufrecht und hat lediglich die zivile und militärische Kooperation eingestellt. Drittens hat die Allianz militärische Planungen begonnen, um auf die neue Bedrohungslage zu reagieren. Zentrales Steuerungsdokument ist der Readiness Action Plan, den die Allianz auf dem Gipfel im September 2014 beschlossen hat. Er soll die Einsatz- und Reaktionsfähigkeit sowie die Ressourcen des Bündnisses verbessern.

Allerdings muss die NATO einiges nachholen, was sie in den vergangenen Jahren vernachlässigt hat, um ihre Fähigkeit zum gegenseitigen militärischen Beistand so weit auszubauen, dass weder die eigenen Mitglieder noch potenzielle Gegner am sicheren Schutz durch das Bündnis zweifeln. Konkret heißt das, dass sie neue militärische Pläne erarbeiten muss, wie sie ihre östlichen Mitglieder im Notfall verteidigen will. Sie muss auch schneller handlungsfähig sein. Dafür will sie nicht nur ihre schnelle Eingreiftruppe, die NATO Response Force, umstrukturieren, sondern auch die chronischen Defizite bei der Aufklärung abbauen, also bei der Beschaffung und Auswertung von Informa­tionen über potenzielle oder tatsächliche Gegner und deren Streitkräfte. Die NATO will zudem Ausrüstungslager in Osteuropa aufbauen, um schneller vor Ort einsatzbereit zu sein, und Truppen dort rotieren und üben zu lassen.

So beeindruckend das klingen mag – die Grenzen dieser NATO-Antwort liegen auf der Hand. Es besteht eine gewisse Ironie darin, dass die Bündnisverteidigung zwar wiederbelebt wurde, es aber gleichzeitig offenkundig schwierig ist, wirksame Bündnisverteidigung gegen hybride Szenarien zu organisieren und in bestimmten exponierten Regionen, insbesondere im Baltikum, glaubhaft zu gewährleisten. Denn um eine umfassende konventionelle Verteidigung zu garantieren, müssten die Alliierten viel mehr investieren, vor allem in traditionelles schweres Gerät, und das dauerhaft an den NATO-Grenzen positionieren. Für hybride Szenarien verfügt die NATO nicht über alle notwendigen Kapazitäten. Denn militärische Mittel, wie Panzer oder Raketen, helfen nur wenig gegen Cyberangriffe, grüne Männchen, Propaganda oder Störung der Infrastruktur.

Eine glaubwürdige Abschreckung ist zudem nicht umsonst zu haben. Die NATO-Mitglieder haben zwar angekündigt, für die notwendigen Investitionen mehr Geld bereitzustellen und ihre Verteidigungsetats auf 2 Prozent zu steigern (bzw. diese nicht weiter zu reduzieren) – allerdings gestreckt über zehn Jahre. Gleichzeitig wird eine „schwarze Null“ beispielsweise im Bundeshaushalt dann nicht mehr zu haben sein.

Schmerzhafte Erkenntnisse

Der Ukraine-Konflikt stellt für lange Zeit die Weichen für Europas Sicherheit. Die Veränderung ist zwar noch nicht abgeschlossen, die Parameter der neuen europäischen Sicherheitsordnung zeichnen sich aber bereits ab. Damit verbunden ist ein schmerzhafter Erkenntnisprozess: Die bisherige deutsche und europäische Russland-Politik, basierend auf gemeinsamen Regeln, Kooperation und Integration, ist vorerst gescheitert. Russland ist kein Partner für Stabilität in der europäischen Nachbarschaft mehr.

Stattdessen ist Europa deutlich unsicherer geworden und seine Sicherheitsordnung instabiler, konfrontativer und weniger berechenbar. Bei der Gestaltung der neuen europäischen Sicherheitsordnung steht Deutschland moralisch, aber auch als wirtschaftlich und politisch starkes Land in der Mitte Europas in der Pflicht. Zumal es überdurchschnittlich globalisiert wie kaum ein anderes Land von einer friedlichen, offenen und freien Weltordnung profitiert und daher auch besonders abhängig von und verantwortlich für das Funktionieren dieser Ordnung ist.

Das überragende strategische Ziel Deutschlands sollte es daher sein, gemeinsam mit seinen europäischen und transatlantischen Partnern wieder eine stabile, kooperative und inklusive Sicherheitsordnung in Europa zu etablieren. Dies geht nicht ohne eine zumindest halbwegs berechen­bare Interaktion mit Russland, in der Eskalation, ob gewollt oder ungewollt, durch Kontakt, Transparenz und Regeln eingehegt wird, und die zu einem belastbaren, planbaren und konfliktfreien gesamteuropäischen Modus Vivendi führt. Denn es bleibt wahr, dass Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland erzielt werden kann.

Deutscher Gestaltungsanspruch

Simpel formuliert heißt das für Deutschland, die deutsche und europäische Geschlossenheit zu bewahren und Widerstandsfähigkeit zu stärken, Russland bei aller Kritik nicht zu isolieren, und die Ukraine und Länder in vergleichbarer Lage (wie Moldawien, Georgien) zu unterstützen.

Erstens sollte die Bundesregierung bei der eigenen Bevölkerung für ihre Ziele werben. Denn diese Unterstützung bestimmt ihre strategische Handlungsfähigkeit. Darauf aufbauend gilt es, militärische Verlässlichkeit zu demonstrieren. Konkret bedeutet das, dass Deutschland seinen Verpflichtungen in der NATO glaubhaft nachkommen muss, sei es in der Bereitstellung von Flugzeugen für die baltische Luftüberwachung oder der Beteiligung an der schnellen Eingreiftruppe. Mehrausgaben im Verteidigungsbereich dürfen nicht klein geredet werden, sondern müssen der Öffentlichkeit gegenüber überzeugend und sicherheitspolitisch begründet werden.

Darüber hinaus sollte die Bundesrepublik ihre Verwundbarkeit im wirtschaftlichen, infrastrukturellen und Energiebereich reduzieren und ihre Resilienz stärken. Dabei muss Deutschland aber auch anerkennen, dass sich die asymmetrische Abhängigkeit Europas von russischem Gas kurzfristig nicht verändern lassen wird und dass der Staat hier nur geringen Spielraum hat: Schlüsselfiguren sind die Unternehmen; sie entscheiden, ob sie ihr Gas aus Russland beziehen oder nicht.

So gestärkt, kann die Bundesregierung ihre anerkannte internationale diplomatische Rolle in der Ukraine-Krise ausbauen. Die deutsche Bewerbung für den OSZE-Vorsitz 2016 ­verdeutlicht den deutschen Gestaltungsanspruch. Ein wichtiger Schritt bei der Wiederherstellung einer europäischen Sicherheitskooperation wird darin bestehen, die konventionelle Rüstungskontrolle und vertrauensbildende Maßnahmen zu modernisieren und krisenfester zu gestalten. Die fast vergessene OSZE könnte da­für einen Rahmen bieten und, wie schon einmal während des Kalten Krieges, helfen, die Parteien zusammenzubringen. Dies würde aber voraussetzen, dass alle Akteure die OSZE wieder ernster nehmen, als dies seit Ende des Kalten Krieges der Fall war.

Die EU ist ein Forum, das Deutschland und die Europäer noch besser zur Bündelung ihrer Kräfte nutzen können. Dabei geht es vor allem darum, die europäische Einigkeit zu wahren und mit intensiven politischen Konsultationen zu verhindern, dass Russland einen Keil zwischen die Europäer treibt. Praktisch geht es darum, die Widerstandsfähigkeit der EU-Staaten zu stärken. So wird die traditionell militärische Idee der Abschreckung, also den Gegner von Angriffen abzuhalten, in Zukunft keine reine Militärpolitik mehr sein, sondern zunehmend Wirtschafts-, Infrastruktur- und Sozialpolitik. Denn ­Szenarien wie in der Ostukraine und auf der Krim kann man am besten vorbeugen, indem zum Beispiel ethnische Minderheiten so gut integriert werden, dass sie gegen Aufstachelung immun sind und schlecht als Vorwand für eine Intervention instrumentalisiert werden können, oder wenn die Länder wirtschaftlich nicht erpressbar sind aufgrund einseitiger (Energie-)Abhängigkeiten.

Der EU kommt hier eine Schlüsselrolle zu, da sie über Instrumente in der Wirtschafts-, Infrastruktur-, Sozial- und Energiepolitik verfügt. Damit kann sie sowohl Druck auf Russland ausüben (z.B. Sanktionen) als auch die eigenen Mitglieder unterstützen (z.B. Infrastruktur). Mittel- bis langfristig sollte Europa alles daran setzen, Anreize für eine breite Diversifizierung in der Energieversorgnung zu setzen, um außenpolitische Handlungsspielräume zu erweitern. Tatsächlich liegt die Stärke der EU in der Prävention und im langfristigen Engagement, und darin, für die 28 Mitglieder einen Organisationsrahmen zu schaffen, in dem sie Politik gemeinsam organisieren. Diese Stärke gilt es besser zu nutzen.

Gleichzeitig sollte Deutschland zusammen mit den europäischen und transatlantischen Partnern überlegen, über diese bekannten Institutionen hinaus neue, auch informelle Verhandlungsformate zu erschließen. Denn die bestehenden Formate, sei es die OSZE oder die EU, haben bislang nur zu mäßigen Erfolgen geführt. Situationsbezogen sollten kleinere Runden genutzt werden, die Rahmen zum Gespräch bieten und beispielsweise Übereinkünfte vorbereiten können.

Schließlich gilt es, auch weiterhin den Schulterschluss mit den USA zu suchen. Ohne Einbindung der USA ist die Verhandlungsposition der Europäer in jeglicher Hinsicht geschwächt; politisch und militärisch. Einigkeit ist daher nicht nur das Gebot und Voraussetzung für Gestaltungsfähigkeit innerhalb Europas, sondern auch im transatlantischen Verhältnis.

Neue Nachbarschaftspolitik

Zweitens sollte es ein zentrales Ziel der EU-Staaten sein, diejenigen Länder, die zwischen Russland und der EU liegen, zu stärken und die Attraktivität des europäischen Modells zu verdeutlichen. Das bedeutet ehrlicherweise keinen schnellen EU- oder ­NATO-Beitritt, sondern intensive, klar definierte und konditionierte Zusammenarbeit unter der Schwelle der Mitgliedschaft. Nachdem die Europäische Nachbarschaftspolitik weitgehend als gescheitert angesehen wird, kann die neue EU-Kommission unter Präsident Juncker mit einer neuen Nachbarschaftspolitik hier eine Schlüsselrolle spielen.

Russland hat der EU bereits den Rücken gekehrt und definiert seine Zukunft in expliziter Abgrenzung zum westlichen Modell. In Ländern wie der Ukraine, Georgien und Moldau aber möchte sich eine breite Masse gen Westen orientieren. Die EU sollte diesen Ruf nicht ignorieren und sich unter Berufung auf Nichtmitgliedschaft hinter den Mauern westlicher Bündnisse verstecken. Ihre Glaubwürdigkeit und ihr Gestaltungsanspruch blieben dauerhaft erschüttert, ihre Außengrenzen würden unsicherer. Eine demokratische, rechtstaatliche Ukraine, die auch wirtschaftlich auf soliden Beinen steht, wäre das beste Gegenmittel gegen das Erstarken alter Großmachtansprüche und das Aufkommen eines neuen Nationalismus in Europa. Dies würde die europäischen Staaten über lange Zeit viel Engagement und Geld kosten, aber die Sicherheit und Stabilität Europas dauerhaft stärken – was den Preis rechtfertigt.

Drittens gilt es, den Kontakt zu Russland nicht abbrechen zu lassen. Niemand in Europa kann ein Interesse daran haben, Russland zu isolieren. Dabei sollten sich die europäischen Staaten keinen Illusionen hingeben: Putin wird nicht allein deshalb wieder Partner, weil die Europäer es so wollen. Aber sie können darauf hoffen, dass auch Russland daran gelegen ist, wieder eine gemeinsame Basis mit der Europäischen Union und der NATO herzustellen. Denn die momentane Außenpolitik bringt für Russland enorme Kosten mit sich, die das Land dauerhaft nicht tragen kann.

Zwar war es für die EU proble­matisch, schlagkräftige europäische ­Wirtschaftssanktionen zu verhängen. Aber nun hat sie ein wirksames Instrument in der Hand, gerade weil der europäische und der russische Wirtschaftsraum so eng miteinander verflochten sind. Die Sanktionen verbreiten ein langsames Gift, gegen das auch Russland langfristig nicht immun ist. Die Europäer sollten Putin deshalb Kooperationsangebote jenseits des Ukraine-Konflikts machen: Die Atom-Verhandlungen mit dem Iran, der Syrien-Konflikt, der Kampf gegen IS oder Maßnahmen gegen den globalen Klimawandel bieten sich an, um mit Russland wieder ins Gespräch zu kommen. Bei der Bewältigung all dieser Probleme sind Russland und der Westen aufeinander angewiesen. Wichtig bleibt auch, weiter mit der russischen Zivilgesellschaft im Dialog zu bleiben.

Alle Kooperationsangebote an Russland dürfen aber nicht dazu führen, dass der Westen eine neue Politik der Einflusssphären in Europa akzeptiert und die eigenen Grundsätze über Bord wirft. Die Unverletzbarkeit der Grenzen als Basis des Völkerrechts und Garant für Frieden auf dem europäischen Kontinent ist nicht verhandelbar. Weil die Ukraine-Krise die Weichen für Europas Sicherheit neu stellt, sind die Europäer gut beraten, dafür zu sorgen, dass sie in die richtige Richtung weisen.

Dr. Claudia Major ist stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Dr. Jana Puglierin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
 

  • 1Jakob Augstein: Auferstehung West?, Spiegel online, 21.4.2014.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2014, S. 62-71

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