Internationale Presse

01. Juli 2013

Eine neue Kultur des Kompromisses

Ein „Pakt für Mexiko“ bringt Reformen für das Schwellenland auf den Weg

Das Image des Schwellenlands Mexiko, das unverdient im Schatten Brasiliens stand, verändert sich: Ausländische Medien feiern es als „aztekischen Tiger“, Beobachter würdigen die gegenüber China wiedergewonnene Wettbewerbsfähigkeit, die Nähe zu den USA als strukturellen Standortvorteil und die Potenziale der schnell wachsenden Mittelschicht.

Die Gräueltaten der Drogenkartelle kommen in den Zeitungen kaum mehr vor. Im ersten halben Jahr seiner Amtszeit glänzt der neue Staatspräsident Enrique Peña Nieto damit, die beschädigte „Marke“ Mexiko mit einer Überfülle neuer politischer Pläne und Reformversprechen wiederherzustellen. Lieblingsformeln sind „Für ein inklusives Land“, „Mexiko bewegen“, „Das Land tiefgreifend verändern“. Eine „diskursive Wolke“ nennt das Sara Sefchovich von der Nationalen Autonomen Universität Mexikos in der liberal-konservativen Tageszeitung El Universal.

Die Mexikaner, zwischen hochfliegendem Patriotismus und fundamentalem Zweifel an der Stärke ihres Landes schwankend, reagieren skeptisch: Zu oft haben Politik und Interessengruppen das enorme Potenzial des Landes blockiert. Sie erinnern sich an manch vorschnelles Urteil, das verkannte, dass beschlossene Gesetze auch eingehalten und Reformen umgesetzt werden müssen. Und sie wissen, wie profund die Last von Korruption, Ungleichheit, Machtkonzen-tration, Unbehagen am politischen Konflikt und fehlender demokratischer Tradition die Fähigkeit der Mexikaner einschränkt, sich der Moderne und deren Anforderungen zu öffnen.

In ersten Bewertungen erkennen Ricardo Alemán in El Universal und José Buendía in der liberalen Tageszeitung Excelsior aber das Bemühen Peña Nietos an, das Image Mexikos zu verbessern. Die Kommentatoren loben Peña Nieto für den „Pakt für Mexiko“, den der Präsident mit seinen politischen Rivalen einging. Damit habe er die Furcht vieler Bürger vor einer Restauration des Autoritarismus der PRI (Partei der institutionellen Revolution) entschärft, einer Partei, die 71 Jahre lang an der Macht war, bevor sie 2000 für zwölf Jahre in die Opposition geschickt wurde. Nach Jahren eines gerade von der PRI in ihrer bisherigen Oppositionszeit verantworteten politischen und wirtschaftlichen Stillstands wagt die politische Elite einen beherzten Versuch, blockierte strukturelle Reformen im Konsens voranzubringen. Am Tag nach dem Amtsantritt Nietos hatten die großen Parteien eine Agenda von 95 politischen Verpflichtungen für Reformen unterzeichnet, die sie auf den Weg bringen wollen. Auch wenn der Pakt Gegenstand innerparteilicher Machtkämpfe vor allem in der konservativen Regierungspartei der vergangenen zwölf Jahre, der Partei der Nationalen Aktion (PAN), geworden ist, führt er das in der politischen Kultur Mexikos bislang unbekannte Element der Übereinkommen und des Kompromisses ein. José F. Santillán von der Universität Tecnológico de Monterrey konstatiert in El Universal einen beginnenden Übergang vom Oktroy der bisherigen Präsidenten zur Verhandlung von Interessen.

Ein solcher Pakt ist natürlich eine Herausforderung für jede Partei, die Opposition ist und sein will, aber auch mit dem politischen Gegner zum Wohle des Landes verhandeln muss. Entlang dieser Linie zieht sich ein Bruch durch die PAN, die sich nach dem Verlust der Präsidentschaft in einer veritablen Krise befindet. Einige fürchten, die Partei könnte vor den im Juli dieses Jahres in 14 der 32 Bundesstaaten anstehenden Wahlen als Komparse der Regierung wahrgenommen werden, welche die Früchte des Paktes alleine erntet; andere sehen die Chance, als politische Kraft zu gelten, die für das langfristige Wohl des Landes verantwortlich handelt. Ein breites Unbehagen besteht an der Art, wie derzeit allein die Führungen der großen Parteien den „Pakt für Mexiko“ und damit die aktuellen politischen Fragen des Landes in Händen halten und der parlamentarischen Debatte entziehen. Enrique Campos aber zeigt in der Wirtschaftszeitung El Economista kein Verständnis für eine Blockade der Regierung. Mexiko brauche Maßnahmen von der Größe und Effizienz des Paktes, zu dem niemand eine Alternative habe. Er sei wie eine chinesische Vase, so der Herausgeber von Excelsior, Pascal Beltrán del Rio: „Zerbricht sie, ist sie nicht mehr zu reparieren.“

Ein Kernelement des Paktes ist die Reform des politischen Systems, die Einführung der Wiederwahl von Mandatsträgern, eine Neudefinition des Verhältnisses zwischen Exekutive und Legislative. Mexikos politisches System kombiniert demokratische Strukturen und Verfahren mit autoritärem Erbe. Der Pakt bietet die Möglichkeit, die Rechte des Parlaments zu stärken und gar den Übergang zu einem semipräsidentiellen oder parlamentarischen Regierungssystem zu entwerfen. Dafür sei aber eine breite Diskussion in den Parteien notwendig, so Sergio Gutiérrez in der liberalen Tageszeitung Reforma. Denn ein seit 200 Jahren bestehendes politisches System zu ändern sei doch etwas anderes als eine Energie- oder Fiskalreform.

Reformen des Rechtsstaats …

„Impunidad“, also Straflosigkeit von Rechtsbrechern, ist eines der Grundübel Mexikos. Ricardo Alemán kritisiert in El Universal die neue Regierung dafür, dass auch sie Delinquenten unangetastet lässt. Eher setzten Mexikos Verantwortliche auf Verhandlungen und stellen damit eine Situation her, in der niemand Recht und staatliche Autorität achtet. Allerdings enthält der „Pakt für Mexiko“ auch überfällige Reformvorhaben im Bereich Sicherheit und Justiz. Zentral hierbei: Mit der Einführung der mündlichen Hauptverhandlung im bislang klandestin nach Aktenlage geführten Strafverfahren samt der Schaffung eines einheitlichen nationalen Straf- und Strafprozessrechts soll die Justiz transparenter werden.

Diese Justizreform wird, typisch für Mexiko, nur schleppend umgesetzt, weil sie von einer Gruppe feudal regierender Gouverneure in ihren Bundesstaaten blockiert wird. Bis Mai 2016 muss sie aber landesweit implementiert sein. Dann werden Umschulungen von Richtern und Anwälten notwendig, so Francisco Valdés Ugalde in El Universal: „Unser Rückstand gegenüber der entwickelten Welt liegt an unserer Verwurzelung in einer feudalen Mentalität, in der Autoritarismus, Intoleranz und fehlende Rechtstreue fortbestehen. Gleichheit vor dem Gesetz und Chancengerechtigkeit beim Zugang zu öffentlichen Gütern sind nicht Teil unserer Tradition. Die Umgestaltung von Gerichtsverfahren und damit der Rechtsordnung gibt uns die Gelegenheit zu einem geradezu historischen Schritt.“

… und in der Wirtschaft

Auch auf wirtschaftlichem Gebiet ist Reformwille zu spüren: Abgearbeitet sind die Reform des Arbeitsmarkts, seit Peña Nietos Amtsantritt die Reform des Erziehungswesens und der Telekommunikation; für das zweite Halbjahr 2013 sind eine Energie-reform, die hauptsächlich die marode staatliche Erdölgesellschaft PEMEX betrifft, eine Reform des Finanzsektors, die den Wettbewerb um Finanzprodukte und eine bessere Kapitalausstattung der Institute sichern soll, dazu eine Fiskalreform vorgesehen, welche zentrale Voraussetzung für weitere Reformen des Paktes ist.

Nachgebende Wirtschaftsdaten bestärken Nieto in seinem Ruf nach strukturellen Reformen. Mexikos Wachstumsprognose für 2013 wurde auf 3,1 Prozent seines BIP gesenkt. Ökonomen der Interamerikanischen Entwicklungsbank und der UN-Wirtschaftskommission CEPAL erwarten, dass Mexiko 2014, wie schon in den beiden Vorjahren 2011 und 2012, schneller wachse als Brasilien, weil das Land bereits in die Reformphase eingetreten ist. Mexikos Stärke sei sein ausgeglichenes Wachstum, das auf Konsum, Investitionen und Exporten gleichermaßen beruhe (El Economista). Den vom Wall Street Journal berichteten Anstieg der Direktinvestitionen multinationaler Unternehmen in Mexiko verantworten die USA und dahinter Deutschland als zweitgrößter Investor, vor allem die deutschen Autobauer.

Neue regionale Ordnung

Nachdem alle bisherigen Versuche regionaler Integration Lateinamerikas gescheitert sind, führt Mexiko endlich eine vielversprechende, pragmatische, auf den Prinzipien Demokratie und Freihandel basierende Initiative der wachstumsstärksten Marktwirtschaften des Kontinents an, die „Pazifik-Allianz“ der Länder Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile. Mit ihr zeige Lateinamerika der Welt ein neues Gesicht, so Mexikos Außenminister José Meade in Reforma. Die Pazifik-Allianz ist derzeit der nach Exporten und Außenhandel führende Handelsblock Lateinamerikas, seine Mitglieder erzielen 35 Prozent des gesamten BIP Lateinamerikas. In den vier Mitgliedsländern leben 210 Millionen Menschen, das ist die Größe Brasiliens, das sich durch die Allianz durchaus herausgefordert fühlen darf.

Mit der Allianz, innerhalb derer 90 Prozent der bisherigen Zolltarife dieser Wochen aufgehoben werden, entwickelt sich ein Wirtschaftsraum der Freizügigkeit von Gütern, Kapital, Dienstleistungen und Personen, der beispiellos in der Geschichte Latein-amerikas ist und zum Motor einer hohen wirtschaftlichen Dynamik werden kann. Damit wollen die Mitgliedstaaten vor allem auf den Märkten Asiens bestehen. Mexikos Orientierung nach Asien kommt auch in seiner Teilnahme an den 2014 abzuschließenden Verhandlungen über das Transpazifische Freihandelsabkommen (TPP) zum Ausdruck. Die dann zwölf Mitgliedsländer generieren 40 Prozent des weltweiten BIP und 30 Prozent des Welthandels und bilden ein Gegengewicht zu China, das derzeit Mexiko umgarnt.

Die Beziehungen mit den USA sollen, so Außenminister Meade, um die Themen Waffenkauf und Migra-tion erweitert werden. US-Präsident Obama wird hingegen im Wall Street Journal mit der Aussage zitiert, gerade die Themen Sicherheit und Migration verdrängten in den Beziehungen zwischen Mexiko „zu häufig“ das Thema wirtschaftliche Kooperation. Die sei deshalb so wichtig, weil, wie der mexikanische Ökonom Macario Schettino in Reforma schreibt, die Wirtschaften Mexikos und der USA „eine einzige, in zwei Hälften geteilte Ökonomie bilden und sich in einer Art Ehe auf das engste verbunden sind“.

Die Entwicklung guter bilateraler Beziehungen hängt von den jüngeren Generationen ab, doch da zeigt sich ein besorgniserregendes Bild. Weniger als 2 Prozent der ausländischen Studenten in den USA sind Mexikaner, und Mexiko ist nach Costa Rica und Argentinien nur noch dritte Wahl für amerikanische Studenten. Kein Wunder: Viel zu wenige der bald 118 Millionen Mexikaner sprechen Englisch, die Sprachausbildung in staatlichen Schulen ist katastrophal und mexikanische Universitäten unterrichten nicht auf Englisch.
Mexikos Aufstieg und weitere Demokratisierung werden beständig sein, und die jungen Menschen werden diese Entwicklung tragen. Eine Rückkehr autoritärer Herrschaft der PRI sollte ausbleiben, denn die jungen Mexikaner reagieren in den sozialen Medien immer wachsamer auf Fälle von Machtmissbrauch. Hier entstehen eine gesellschaftliche Gegenmacht, ein neuer politischer Dialog, politisches Urteilsvermögen. Hier bauen die Jungen selbst an ihrem „besseren Mexiko“.

Ulrich Wacker ist Regionalbüroleiter Lateinamerika der Friedrich-Naumann--Stiftung für die Freiheit mit Sitz in Mexiko-Stadt.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 130-133

Teilen