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01. Juli 2012

Eine grundlegende Selbsterneuerung

Haben die USA die Kraft dazu?

Bildung und Wissenschaft, Infrastruktur, Gesundheitswesen, Energieversorgung sowie Finanzaufsicht müssen dringend reformiert werden. Das wird auch gelingen – in der Vergangenheit jedenfalls haben die USA immer wieder ihre Fähigkeit zur Selbstkorrektur und eine erstaunliche Erneuerungskraft unter Beweis gestellt.

Wir brauchen ein starkes und weltoffenes Amerika, so wie wir ein starkes Europa brauchen, das immer enger zueinander findet. Die USA werden aber nur dann ihre Rolle als Führungsmacht spielen können, wenn es ihnen gelingt, das eigene Haus in Ordnung zu bringen. Sie müssen sich einmal mehr von Grund auf erneuern. Sind sie zu dieser Selbsterneuerung bereit und in der Lage?

Die amerikanischen Spitzenuniversitäten sind nach wie vor weltweit führend; sie ziehen weiterhin viele der klügsten Köpfe aus aller Welt an. Aber das Problem liegt nicht in mangelnder Qualität der besten Universitäten, sondern vielmehr in der Breite allgemeiner und beruflicher Bildung, der in einer wettbewerbsfähigen Industriegesellschaft ebenfalls eine Schlüsselbedeutung zukommt. Hier stagnieren die USA. Viele der ungefähr 100 000 öffentlichen Schulen in Amerika sind in schlechtem Zustand. Der Grund dafür liegt in Art und Ausmaß der Finanzierung. Das öffentliche Schulsystem in den USA wird im Wesentlichen von den Gemeinden aus Grundstückssteuern finanziert: Je geringer das Steueraufkommen der Gemeinde, desto weniger Geld steht für die Schulen zur Verfügung. Zwei Faktoren stehen dabei im Vordergrund: Zum einen setzen sich in Wahlen oft Kandidaten durch, die ohne Rücksicht auf die Folgen für das Schulsystem radikale Steuersenkungen versprechen. Im Ergebnis sinken die Ausgaben für Schulen und deren Qualität. Zum anderen öffnet sich – in den USA ob wachsender sozialer Ungleichheit noch ausgeprägter als anderswo – die Schere zwischen reicheren und ärmeren Gemeinden immer mehr – mit fatalen Folgen für die Bildung der Kinder aus ärmeren Familien.  

In den dreißiger Jahren haben die USA unter Präsident Roosevelt begonnen, mit großangelegten, öffentlich finanzierten Projekten nicht nur die Arbeitslosigkeit erfolgreich zu bekämpfen, sondern auch eine vorbildliche Infrastruktur zu schaffen. Diese Politik wurde vom republikanischen Präsidenten Eisenhower konsequent fortgesetzt, beispielsweise mit dem Ausbau der Interstate Highways. Heute sind die Defizite der Infrastruktur nicht mehr zu übersehen: Brücken verfallen, Straßen und Schienen, Bahnhöfe und Flugplätze befinden sich in einem deprimierenden Zustand. Die USA geben jetzt noch ganze 2 Prozent des BIP für Infrastrukturinvestitionen aus (Europa 5, China 9 Prozent). Das reicht nicht einmal zur Instandhaltung. Auch dieses Problem hat Obama frühzeitig beim Namen genannt; das Konjunkturpaket vom Februar 2009 enthält auch 90 Milliarden Dollar für Infrastrukturmaßnahmen. Aber mehrere republikanische Gouverneure (in Florida, Ohio und Wisconsin) haben 2011 die Bundesmittel für den Bau von Hochgeschwindigkeitstrassen zurückgewiesen. Zudem haben sich große Teile der republikanischen Partei – wohl auch auf Druck der Tea-Party-Bewegung – von der Politik Eisenhowers abgewendet und blockieren jede staatliche Förderung von Infrastrukturinvestitionen. Weitere Steuersenkungen halten sie für die einzig wirksame Konjunkturmaßnahme.

Bei Regierungsantritt von Präsident Obama hatten etwa 48 Millionen Menschen keine Krankenversicherung. Das Gesundheitssystem in den USA ist mit großem Abstand das teuerste der Welt; pro Kopf liegen die Kosten ungefähr doppelt so hoch wie in Deutschland (siehe S. 37 f.).

Bei den Zukunftsthemen Energie und Klimawandel ist es bislang nicht gelungen, einen Wechsel von fossilen zu erneuerbaren Energiequellen zu schaffen. Bezeichnend für den Stimmungsumschwung in den vergangenen zwei Jahren ist, dass z.B. die Steuererleichterungen als Anreiz zur Installierung sauberer Energieanlagen oder energieeffizienter Gebäude Ende 2010 auf Druck der Tea-­Party-Bewegung weitgehend wieder gestrichen worden sind. Ein deutlicher Anstieg des Anteils von Sonne, Wind, Geothermie und Wasser an der Energie­gewinnung ist somit kaum zu erwarten.

Die Herausforderungen sind gewaltig. Ermutigend aber ist, dass eine große öffentliche Debatte hierüber eingesetzt hat. Präsident Obama macht sich zum wichtigsten Fürsprecher der Notwendigkeit einer umfassenden Erneuerung; sie wird zum Thema der Wahlen im November.

Hier könnte sich einmal mehr die bemerkenswerte Fähigkeit der USA zur Selbstkorrektur beweisen. Dafür gibt es viele Beispiele: die Abkehr von der Sklaverei unter Präsident Lincoln, unter Johnson hin zur Gleichberechtigung von Schwarz und Weiß und zu einer neuen Einwanderungspolitik, unter Roosevelt weg vom „Nachtwächterstaat“ hin zu einer aktiven Rolle des Staates in der Wirtschaft bei hohen Steuern, unter Eisenhower hin zu massiven staatlichen Zukunftsinvestitionen, unter Clinton in wenigen Jahren hin zu einem ausgeglichenen Haushalt. Wer die USA frühzeitig abschreibt, unterschätzt die Klugheit der Wähler und die Vitalität dieser Gesellschaft. Winston Churchill hat es so ausgedrückt: „Amerika wird immer das Richtige tun – nachdem es alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft hat.“

Dr. Klaus Scharioth war von 2006 bis 2011 Botschafter in den USA. Heute ist er Rektor des Mercator Kollegs für internationale Aufgaben.
 

Bibliografische Angaben

IP Länderporträt 2, Juli/ August 2012, S. 16-17

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