IP Special

25. Febr. 2022

Eine gemischte Tüte, bitte!

Marokko oder Deutschland? Marl oder Marrakesch? Islam oder Christentum? Migrationshinter-  oder -vordergrund? Und wieso ist das mit der Herkunft überhaupt so wichtig? Vom Aufwachsen zwischen und mit zwei Kulturen.

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Bild: Blick von oben auf die Gerbereien von Fez
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Als ich feststellen musste, dass es gar nicht so einfach ist, fremden Menschen in einem Halbsatz meine Herkunft zu erklären, war ich gerade vier Jahre alt. Ein Animateur hatte mich im All-Inclusive-Urlaub mit meinen Eltern aus dem Publikum gefischt und auf eine kleine Bühne getragen, um für ein Losspiel des Hotels Glücksfee zu spielen. Bevor ich jedoch in seinen Zylinder greifen konnte, um einen Zettel zu ziehen, fragte er mich nach meinem Namen und woher ich käme. Ich beugte mich über das Mikrofon und antwortete: „Ich komme aus halb Marokko und halb Deutschland.“ Das Publikum lachte laut auf und ich verstand zum ersten Mal in meinem Leben die Welt nicht mehr.

Seit diesem Tag sind 24 Jahre vergangen, die ich zu allergrößten Teilen im Ruhrgebiet, zu kleineren Teilen in Köln und im Norden Marokkos und zum Glück überhaupt nicht mehr auf provisorischen Hotelbühnen verbracht habe. Als ich Kind war,  entschieden meine Eltern, wann ich neue Winterschuhe brauchte, dass zuerst das Sandmännchen und dann „Wissen macht Ah!“ im Fernsehen lief, dass der Käse in Mausform auf meinem Brot lag, dass das Brot einen Roggenanteil von 80 Prozent hatte, dass ich im Kindergarten Osterhasen basteln sollte, während zu Hause im Käfig die echten saßen, dass es bei jedem Einkauf eine Scheibe Mortadella gab und dass ich in Freundebüchern unter dem Punkt „Wohnort“ keine marokkanische, sondern eine deutsche Stadt eintragen musste.

Trotzdem sollten mein Bruder und ich immer auch daran erinnert werden, dass Deutschland nicht unser einziges Zuhause ist. Wir tragen beide marokkanische Vornamen, haben zwei Muttersprachen, die Mortadella beim Einkaufen war nie aus Schweinefleisch, und gefühlt zu jeder erdenklichen Ferienzeit saßen wir im Flieger Richtung Marokko. Mit den Jahren habe ich nicht nur gelernt, wie man liest, schwimmt, Schach spielt, auf Händen läuft, einen Knopf annäht, Versicherungen abschließt, Niederlagen einsteckt und Freundschaften pflegt. Ich habe auch ge­lernt, was es bedeutet, zwischen zwei Welten aufzuwachsen. Zwischen Westeuropa und Nordafrika, zwischen Deutschland und Marokko, zwischen Marl und Marrakesch. Ich bin auf dem Papier in zwei Ländern dieser Welt zu Hause, aber in keinem von beiden zu 100 Prozent.

Ich kann das Vaterunser auswendig und sieben Suren aus dem Koran aufsagen, aber ich weiß bis heute nicht, was meine Konfession ist. Ich habe seit fast zehn Jahren einen Freund in Deutschland, von dem meine Familie in Marokko immer noch nichts weiß. Ich werde von Taxifahrern in Agadir übers Ohr gehauen, aber auch von Nazis in Dortmund angepöbelt. Und wie schon vor 24 Jahren, stoße ich auch heute immer wieder an Grenzen, wenn es darum geht, das zu beschreiben, was ich bin oder Label zu sortieren, die andere mir verpassen.

„Du als Woman of Color musst doch ein besonderes Interesse daran haben, dass Rassismus in der Buchbranche keinen Platz hat“, schrieb mir beispielsweise im Oktober jemand bei Instagram. An diesem Abend sollte die Frankfurter Buchmesse eröffnet werden und ich als Moderatorin der Veranstaltung auf der Bühne stehen. Tags zuvor hatte eine Autorin ihre Teilnahme an der Messe abgesagt, weil sie sich durch die Präsenz rechter Verlage bedroht fühlte. Das führte dazu, dass ich plötzlich dutzende Nachrichten erhielt, in denen ich gebeten, aufgefordert oder regelrecht bedrängt wurde, den Fall am Abend auf der Bühne zu erwähnen.

Mit klopfendem Herzen schloss ich die oben zitierte Nachricht, öffnete die ­nächste und las: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass du das Thema bei der Eröffnung nicht ansprechen wirst. Das ist halt dein White Privilege.“ Ich stockte. Vor 30 Sekunden hatte mich noch jemand als „Woman of Color“ bezeichnet, jetzt ging es plötzlich um mein Privileg, weiß zu sein, und in wenigen Stunden sollte ich geordnet und selbstsicher auf der Bühne in der Frankfurter Festhalle vor 500 geladenen Gästen und einer Livestream-­Kamera stehen. Etwas fahrig und verwirrt tat ich deshalb das einzig Sinnvolle in dieser Situation: Ich löschte die Instagram-App von meinem Handy und verschob alle großen und kleinen Identitätsfragen auf den nächsten Tag.



Nicht mehr als ein Ferienziel

Die Grundzüge meiner Familienkonstellation sind schnell erklärt: Mein Vater ist Marokkaner, meine Mutter ist Deutsche. In Marokko nennt man mich deshalb „nos-nos“, was wörtlich übersetzt so viel bedeutet wie „halb-halb“, umgangssprachlich aber vor allem die Bezeichnung für einen Milchkaffee (halb Milch, halb Kaffee) ist. Im englischsprachigen Raum gibt es das Wort „mixed“, das mir ebenfalls ganz gut gefällt. Leider klingt die deutsche Übersetzung „gemischt“, als sei ich eine bunte Tüte vom Kiosk nebenan, und das Sub­stantiv „Mischling“, als sei meine Mutter eine Pudeldame und mein Vater ein ­Cockerspaniel.

Deshalb bin ich hier in Deutschland, je nach Situation, Tagesform oder Gegenüber, Deutsche oder Marokkanerin, beides zu 50 oder beides zu 100 Prozent. Mal bin ich zwischen zwei Kulturen aufgewachsen, mal mit zwei Kulturen. Mal erzähle ich von meiner Herkunft, mal von meinen Wurzeln und meine damit immer etwas, das sich für mich den Großteil meines Lebens irgendwie weit weg angefühlt hat. Oder noch schlimmer: nach Urlaub.

Sollten Wurzeln nicht eigentlich das Wichtigste für einen Organismus sein? Etwas, das den Ursprung von allem bildet und niemals vergessen werden darf? Und wieso ist das mit der Herkunft überhaupt so entscheidend? Also für andere. Und für mich. Ich habe mich schon häufiger bei dem Gedanken ertappt, dass ich Menschen wie die Journalistin und Moderatorin Dunja Hayali beneide, weil sie ganz selbstbewusst und öffentlich von ihrem Migrationsvordergrund sprechen. Den will ich auch, doch wenn ich ehrlich zu mir bin, dann war Marokko immer sehr viel in meinem Leben, aber selten im Vordergrund.

Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, habe hier das gesamte Bildungssystem durchlaufen und arbeite seit Jahren als Journalistin und Moderatorin beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Marokko war dagegen lange Zeit nicht mehr als ein Ferienziel für mich. Die immer gleiche Pausentaste. Letzter Schultag, ab ins Flugzeug, drei Wochen bei meinen Großeltern in Fès, ein bisschen rumfahren, viel rumsitzen, wenig verstehen und wieder zurück.

Als Kind konnte ich mir erst mal lange Zeit nichts Besseres vorstellen. Ich wurde daher auch nicht müde, damit anzugeben, dass meine Großeltern im echten Afrika leben und ich schon so oft (ein Hoch auf die Zeiten, in denen man Zahlen noch mit den Fingern gezeigt hat) da gewesen bin. Mit Sicherheit war ich auch schuld daran, dass sehr viele Kinder in meiner Grundschulklasse dachten, Marokko sei eine große Savanne mit freilaufenden Giraffen- und Löwenfamilien. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich das nie behauptet habe. Ich habe es eventuell nur nicht vehement genug bestritten.

Als Teenager hatte sich die Sache dann erledigt, weil ich auf einmal viel lieber, wie alle anderen, in den Ferien nach Amrum, Usedom oder Dänemark gefahren wäre, statt immer wieder nach Fès. Heute klingt das total irre, aber mit 15 Jahren hat sich „Anderssein“ leider noch nicht nach etwas Besonderem angefühlt, sondern nach etwas sehr Einsamem, das es um jeden Preis zu vermeiden galt.

Deshalb gab es viele Momente, in denen ich gerne gewesen wäre wie die meisten Laras, Meikes, Janas und Annas um mich herum. Zum Beispiel, wenn ich sah, wie locker andere Eltern mit dem Thema „Alkohol“ umgingen, während ich nicht mal eine leere Sekt­flasche in den Keller tragen oder beim Straßenfest im Bierwagen helfen durfte.

Ohne meinen marokkanischen Vater wäre ich sicher häufiger frühmorgens aus irgendwelchen Clubs gewankt, und mein Freund hätte im Jahr vor unserem Abitur ohne wochenlange Diskussionen und die unendliche Unterstützung meiner Mutter bei uns übernachten dürfen. Andererseits wäre beides mit großer Wahrscheinlichkeit niemals möglich gewesen, wenn ich in Marokko aufgewachsen wäre. Es gibt, selbst in extrem westlich geprägten und modernen Gegenden, hunderte Malikas, Fatimas und Jamilas, die nicht mal Freund­innen über Nacht zu sich nach Hause einladen dürfen, von Mädchen in konservativeren Städten wie Fès oder auf dem Land ganz zu schweigen.

Manchmal schäme ich mich dafür, dass ich so oft vergessen habe, mit welchen Prinzipien und Regeln mein Vater aufgewachsen ist, dass er sich in vielen Momenten weit von seiner eigenen Kultur entfernt und es mir trotzdem nicht gereicht hat.

Um mir seine Sicht der Dinge zu verdeutlichen, zog er vor vielen Jahren mal einen interessanten Vergleich. Es war ein Samstagabend, ich war 17 Jahre alt und stand in der Tür zum Wohnzimmer, eingehüllt in eine Wolke aus Christina Agui­lera und einen schwarzen engen Rock von H&M. Mein Vater saß mit meiner Mutter auf dem Sofa und sagte bei meinem ­Anblick: „Stell dir vor, wir wären vor deiner Geburt nach Marokko gezogen und du hättest mit 14 Jahren auf einmal ein Kopftuch tragen wollen.“ Komische Vorstellung, aber nicht unmöglich. „Mama wäre ausgeflippt und hätte sicherlich alles getan, um das zu verhindern. Es gehört nicht zu ihrer Kultur, sie hätte dafür kein Verständnis gehabt, und du bist auch ihr Kind. Genauso fühlt es sich für mich an, wenn ich sehe, dass du jetzt in diesem Rock mein Haus verlassen und irgendwo feiern gehen möchtest.“

Das war einer der Momente, in denen auch meine Mutter keine Argumente mehr für mich hatte und nur stumm nicken konnte. Sorry, da hat er einen Punkt, sagte ihr Blick. Ich nahm das alles wahr und fand es unfair, wusste aber auch, dass ich nicht zu widersprechen brauchte. Statt­dessen nutzte ich all meine Energie dafür, möglichst schnell ein möglichst gutes Alternativoutfit zusammenzustellen. Vielleicht würden Röhrenjeans die Sachlage verändern, dachte ich. Vielleicht lassen sie mich dann doch gehen.



Ganz oben auf der Privilegienleiter

Dass ich meinem Vater tatsächlich recht geben musste, merkte ich erst viele Jahre später, als der Reiz von Großraumdiscos längst verpufft war und ich meine Sammlung an Schlauchröcken zu alternativen Putzlappen umfunktioniert hatte. Ich dachte an einen Satz, den ich in meiner Kindheit häufig gehört und – wie so viele Sätze von Eltern – nicht ernst genommen hatte: „Irgendwann wirst du merken, dass es ein Geschenk ist, in zwei Ländern dieser Welt zu Hause zu sein.“ Das hat mein Vater zum Beispiel auch an dem Nachmittag zu mir gesagt, als wir stundenlang in einem Warteraum im Konsulat in Düsseldorf saßen, um meinen marokkanischen Personalausweis zu beantragen. Ich weiß noch, dass ich mich immer wieder gefragt habe, ob das wirklich sein müsse, immerhin hatte ich ja einen deutschen Ausweis und einen Reisepass, und damit kam ich ohne Probleme überall hin.

Heute schäme ich mich ein bisschen für diese Gedanken. Ich weiß es immer mehr zu schätzen, wie sehr ich in meinem Leben davon profitiere, in zwei Ländern der Welt zu Hause zu sein, denn mir ist bewusst, dass es in Deutschland viele Menschen gibt, die das so nicht sagen können. Weil es in ihrem Fall nicht stimmt. Weil ihre familiäre Herkunft ihnen im Alltag zum Nachteil wird, sie stigmatisiert und diskriminiert werden aufgrund ihrer Hautfarben, ihrer Bärte, ihrer Kopftücher, ihrer Sprachen.

Wenn mein Vater, mein Bruder, Freundinnen oder Fremde von ihren Erfahrungen mit Alltagsrassismus berichten, dann nicke ich, weil ich mir vorstellen kann, wie schmerzhaft das sein muss. Nachfühlen kann ich es – wenn ich ehrlich zu mir bin – jedoch nicht, denn die Momente, in denen mich jemand latent anders behandelt, weil ich auch Marokkanerin bin, sind selten negativ.

„Du Glückliche wirst wie eine Weiße behandelt und nimmst trotzdem alle Migrationsvorteile mit“, hat sogar mal eine Kollegin zu mir gesagt, und es klang wie eine Mischung aus Feststellung und Vorwurf. Ich hätte ihr gerne widersprochen, aber ich tat es nicht. Weil ich nicht wusste, wie. ­Meine Hautfarbe könnte überall in Deutschland als gesunde Urlaubsbräune durchgehen, mein Name klingt exotisch, aber nicht zu fremd, ich spreche dreieinhalb Sprachen fließend, war als Kind in einer Schach-AG und im Turnverein, habe Förderstipendien bekommen, ein Studium abgeschlossen und arbeite seit Jahren in meinem Traumberuf. Guten Tag, die oberste Sprosse der Privilegienleiter lässt grüßen.

Natürlich werde auch ich in Gesprächen gefragt, wo ich herkomme, wobei es nicht selten vorkommt, dass meine Herkunft dann auch noch kommentiert wird mit Sätzen wie: „Ach krass, Marokko. Aha. Ich hätte wetten können, dass du Italienerin / Spanierin / Brasilianerin / Portugiesin / nur Deutsche bist.“ Natürlich finde auch ich das in bestimmten Situationen nervenzehrend und muss immer wieder erklären, warum solche Gespräche diskriminierend sind, selbst wenn vermeintlich ehrliche Neugierde dahintersteckt.

Der wichtige Unterschied zwischen mir und Menschen wie meinem Vater ist jedoch, dass ich im Alltag nicht nur nicht unter meiner Herkunft leide, sondern im Gegenteil sogar von ihr profitiere. Und an dem Tag, als mir klargeworden ist, dass das wahrscheinlich das größte Privileg von allen ist, habe ich aufgehört, mich von den Fragen stressen zu lassen, die ich mir selbst oder anderen nicht sofort beantworten kann.

Nein, ich weiß nicht, was anders wäre, wenn meine Eltern sich nach ihrer Hochzeit für ein Leben in Marokko ent­schieden hätten. Vielleicht wäre ich jetzt schon verheiratet oder für immer Single. Vielleicht hätte ich die Schule mit 16 abgebrochen oder mit 36 einen Doktortitel. Vielleicht wäre mir Deutschland alles in allem sympathischer oder aber völlig egal. Ebenso wenig weiß ich, ob ich eher eine „Woman of Color“ oder eine weiße Frau bin, eher ein Milchkaffee oder eine gemischte Tüte.

Ich bin 28 Jahre alt und kann immer noch nicht sagen, wie ich meinen Glauben definiere. Ich bin mit zwei Religionen aufgewachsen und dachte lange Zeit, dass ich irgendwann schon wissen würde, ob ich mich lieber als Muslimin oder als Christin bezeichnen möchte. Dieser Tag ist bis heute nicht gekommen. Na und? Sind die Fragen, auf die es keine klare Antworten gibt, nicht meist die viel interessanteren? Und sollten wir nicht alle versuchen, in unserem Alltag mehr von dem zuzulassen, das von Widersprüchen lebt?

Zumindest weiß ich: Wenn ich heute auf einer Bühne stehe und über meine Herkunft rede, dann brauche ich definitiv mehr als einen Halbsatz. Und das finde ich sehr schön.    



Mona Ameziane, geboren in Marl, arbeitet als freie Journalistin und Moderatorin im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. 2021 erschien ihr Buch: „Auf Basidis Dach“ (KiWi). 

Bibliografische Angaben

IP Special 3, März 2022, S.  10-16

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