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01. Juli 2020

Eine Friedenslösung für Afghanistan

Die Menschen am Hindukusch sind der Gewalt müde. Eine Machtteilung mit den Taliban ist der einzige Weg, um das zerrissene Land zu versöhnen.

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Bild: Verletzte Kinder in Herat
Ohne einen Friedensschluss in Afghanistan wird sich die humanitäre Katastrophe unaufhaltsam ausweiten: Verletzte Kinder nach einem Anschlag in der Provinz Herat.
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Kaum vorstellbar, dass es noch schlimmer kommen könnte. Dann aber trifft eine Katastrophe wie die Corona-Pandemie auf eines der ärmsten Länder der Welt: Afghanistan. Dort sind bereits über ein Drittel der Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen; 41 Prozent aller Kinder unter sechs Jahren leiden an chronischer Unterernährung. Bald 19 Jahre nach Beginn der jüngsten Konfliktphase steht Afghanistan vor zwei entscheidenden Fragen: Gelingt es, ein Friedensabkommen zwischen Regierung und den Taliban auszuhandeln? Und: Wie kann das Land finanziell mit geringerer oder ganz ohne US-Unterstützung überleben?



Die bisherige Bilanz: Seit 2001 wurden mehr als 157 000 Menschen in Kriegshandlungen getötet, 43 000 davon Zivilisten. 3500 Soldaten der internationalen Truppen, 2300 davon Amerikaner, sind ums Leben gekommen. 2,5 Millionen Afghaninnen und Afghanen waren 2018 weltweit auf der Flucht. Die USA kostete der Krieg bislang zwei Billionen Dollar. Zugleich hat sich Afghanistan verändert: Trotz weiterhin bestehender großer Unterschiede zwischen Stadt und Land verfügt das Land heute über eine gut ausgebildete junge Generation, Partizipation von Frauen und Minderheiten und zarte Pflanzen demokratischer Institutionen, allen voran freie Wahlen und unabhängige Medien.



Der amerikanische Abgang

Viel davon steht nun auf dem Spiel. Am 29. Februar 2020 unterzeichneten die USA und die Taliban ein bilaterales Abkommen. Hierin sagt Washington den Abzug aller US-Truppen aus Afghanistan zu, während die Taliban garantieren, dass das Land nie wieder sicherer Hafen für Terroristen, allen voran Al-Kaida, sein wird. Weiterhin sieht das Abkommen innerafghanische Verhandlungen zwischen der Regierung und den Taliban vor, die im März bereits begonnen haben, und einen Waffenstillstand zwischen den USA und den Taliban. Das US-Kalkül ist klar. Präsident Donald Trump will mit der Rückholung von US-Soldaten im Wahlkampf politisch punkten. Zudem ist ein Rückzug aus dem längsten, nicht siegreichen Krieg der USA weithin innenpolitischer Konsens.



Allerdings ist der Deal zwischen den USA und den Taliban kein Friedensabkommen. Er hat die afghanische Regierung, die außen vor gehalten wurde, weiter destabilisiert und den Taliban einen diplomatischen Teilerfolg beschert. Jedoch ist es besser, dass die USA sich auf Basis eines Abkommens zurückziehen als ohne.



Ein gespaltenes Land

Im September 2019 wählte die Bevölkerung einen neuen Präsidenten. Erst ein halbes Jahr später, im Februar 2020, wurde der Amtsinhaber Ashraf Ghani zum Wahlsieger erklärt. Sein Konkurrent Abdullah Abdullah erkannte dies nicht an, Parallelvereidigungen und politisches Chaos folgten. Lange währte die Doppelpräsidentschaft jedoch nicht: Angesichts des Vormarschs der Taliban und der offenkundigen Rückzugsabsichten der USA einigten sich die Rivalen doch wieder auf eine gemeinsame Regierung. Die Drohung von US-Außenminister Mike Pompeo, Hilfszahlungen um eine Milliarde Dollar zu kürzen, dürfte ebenfalls eine Rolle gespielt haben.



Die Einigung Ghanis und Abdullahs sieht eine sorgfältig austarierte Machtteilung vor. So ist Ghani weiter Präsident Afghanistans, während Abdullah keine Rolle in der Exekutive innehat, aber als Chairman of the High Council for National Reconciliation Schlüsselfigur im Friedensprozess sein soll. Auch darf er die Hälfte der Positionen im Kabinett bestimmen.



Zurzeit ist Afghanistan ein Land mit zwei Regierungen: der Ghani-Regierung in Kabul, die etwa 30 Prozent der Distrikte kontrolliert, während sich die Schattenherrschaft der Taliban auf etwa 20 Prozent der Distrikte ausdehnt. Der Rest, also fast die Hälfte des Landes, ist umkämpft oder es gibt eine pragmatische Machtteilung. Seit 2001 haben die Taliban nicht mehr so viel Kontrolle über das Land ausgeübt wie heute – was ihre starke Stellung auch gegenüber den Amerikanern erklärt.



Ein derart zerrissenes Afghanistan bietet einem tödlichen Virus ideale Umstände. Besonders schlecht ist die Lage in ländlichen Gebieten, in denen drei Viertel der Afghanen leben. Für die Bevölkerung stellt sich die Frage, was lebensbedrohlicher ist: Covid-19 oder die Folgen seiner Bekämpfung. Eine Ausgangssperre in einem Land, in dem 80 Prozent der Bevölkerung von weniger als 1,25 Dollar pro Tag leben, sorgt für absolute Existenznot. Indes hat das Gesundheitssystem durchaus Fortschritte gemacht: 77 Prozent der Bevölkerung haben mittlerweile Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung. Die Lebenserwartung stieg zwischen 2007 und 2017 um zehn auf 63 Jahre, Kinder- und Müttersterblichkeit sind rapide gesunken.



Uhren zurückgedreht

Wie es nun weitergeht in Afghanistan, dafür gibt es verschiedene Szenarien. Das düsterste könnte ungefähr wie folgt aussehen: Nehmen wir an, die Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und den Taliban würden trotz internationaler Vermittlungsbemühungen scheitern. Es herrschte eine militärische Pattsituation zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Weitere Akteure wie der Islamische Staat in der Khorasan-Provinz (ISKP), in Afghanistan und Pakistan aktiver, salafistischer Ableger des Islamischen Staates, würden vermehrt Gewalttaten verüben. Andere islamistische Kämpfer, aus Irak und Syrien zurückgedrängt, könnten am Hindukusch ihre Basis ausbauen. So würde Afghanistan entgegen derzeitiger Garantien der Taliban erneut zum Rückzugsort für terroristische Gruppen werden.



Die ehemaligen Warlords, die sich der Einheitsregierung angeschlossen hatten, würden sich mit ihren Milizen wieder selbstständig machen – mithilfe von Finanziers in Nachbarländern. Das wiedererstarkte Kriegsherrentum würde abermals über ethnisch-religiöse Klientel-Netzwerke funktionieren: Zumeist schiitische Hazara erhielten finanzielle und militärische Unterstützung aus Iran, paschtunische Kämpfer aus Pakistan, tadschikische und usbekische Gruppierungen aus Russland und den zentralasiatischen Republiken. China hingegen hielte sich an die stärkste Gruppe: die Taliban.



In dieser Lage wäre davon auszugehen, dass die Konfliktparteien versuchen würden, in unterschiedlichen Allianzen entlang ethnischer, religiöser und regionaler Trennlinien ihren territorialen Anteil zu vergrößern. Die Einheit des afghanischen Staates, der ohnehin schwach ist, wäre in Gefahr. Die humanitäre Katastrophe würde sich unaufhaltsam ausweiten. Es fänden sich kaum noch Geber, die die UN und internationale NGOs in ihren Bemühungen unterstützten. Eine junge Generation verließe zu Hunderttausenden das Land – die meisten gen Europa, doch viele blieben in Afghanistans Nachbarländern stecken.



Die Uhren wären zurückgedreht, das Engagement der vergangenen Jahrzehnte vergebens. Auch aus deutscher Perspektive, mit dem größten Einsatz in der Geschichte der Bundeswehr und hohem zivilen, politischen Engagement, wäre dieses Szenario verheerend.



Machtteilung mit den Taliban

Das optimistischste Szenario lautet dagegen so: Das viel kritisierte USA-Taliban-Abkommen würde sich als stabil genug erweisen, um darauf aufzubauen. Nach Umsetzung des vereinbarten Gefangenenaustauschs könnten die Verhandlungen zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban ernsthaft geführt werden. Beide Seiten müssten anerkennen, dass ein militärisches Patt besteht. Langwierige Verhandlungen in Katar, Norwegen und Deutschland folgten. Die UN sowie Pakistan, China, Iran und Russland dienten schließlich als Garantiemächte einer ausgehandelten Machtteilung. Indien wäre auch gern dabei, was aber China und Pakistan zu verhindern wüssten.



Schlüsselfaktor in diesem Szenario: die Kriegsmüdigkeit auf allen Seiten. Eine junge Generation, nicht mehr bereit, einen Krieg mit unscharfer ideologischer Zielsetzung zu führen, würde landesweite Friedensdemonstrationen starten – ethnienübergreifend. Am Ende könnte die afghanische Identität ihre Integrationskraft entfalten.



Auch die Rolle anderer Länder mit Gestaltungsanspruch müsste in diesem Szenario bedacht werden: China würde als Global- und Regionalmacht auf die Stabilisierung seines Nachbarn setzen; die Anrainerstaaten könnten ihren regionalen Handel ausbauen und sich gemeinsam bei der Bekämpfung gewaltbereiter transnationaler Gruppierungen wie dem ISKP engagieren. Pakistan, lange der „spoiler“ in Afghanistan, wäre mit eigenen Problemen wie der explodierenden Bevölkerung und stagnierenden Wirtschaft beschäftigt und froh, dass viele der afghanischen Flüchtlinge, die teils jahrzehntelang im Land waren, Pakistan verlassen. Peking hätte ein Auge darauf, dass sich Islamabad aus Afghanistan heraushält. Eine regionale Sicherheitsarchitektur – ähnlich der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – nähme Form an.



In diesem Szenario ließe sich auch Afghanistans starke Abhängigkeit von externen Finanzhilfen abmildern, aktuell verursacht durch die hohe Zahl an nationalen Sicherheitskräften, geringe Steuereinnahmen und Korruption. Die Machtteilung trüge zu besserer Regierungsführung und größerer Legitimität bei. Die Zahl der Sicherheitskräfte würde sinken, zugleich könnte ein Teil der Taliban-Kämpfer in die Armee integriert werden. Wirtschaftliche Investitionen, zum Beispiel durch die chinesische Belt and Road Initiative, würden bei der Erschließung der vielfältigen Ressourcen Afghanistans helfen, einschließlich Seltener Erden und Gold. Das Land würde so zum „Obstkorb“ der Region, könnte auf den Export von Bioprodukte wie Nüsse und Safran setzen. Schließlich würde Afghanistan ein Juwel unter den Tourismuszielen. Alles in allem: ein realpolitisches Szenario mit Happy End.



Fazit: Der Schlüssel ist ein nachhaltiger Friedensschluss. China wird dabei eine zentrale Rolle zukommen. Eine Machtteilung mit den Taliban ist schmerzhaft, führt aber zum Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen. Deutschlands Fokus sollte sich auf politische Verhandlungen und Peacebuilding richten – wissend, dass diese Jahrzehnte dauern können. Unsere Verantwortung für Afghanistan sollten wir, nicht zuletzt aus eigenem Interesse, nicht einfach vergessen. Das ist keine frohe Botschaft für eine Öffentlichkeit, die Afghanistans müde ist. Aber es ist verantwortungsvolle Politik.   

Dr. Almut Wieland-Karimi ist Geschäftsführerin des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2020; S. 87-90

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