Eine Chance zur Transformation
London wurde von der Pandemie besonders hart getroffen. Dennoch könnte der Weg der Metropole anderen Städten weltweit ein Beispiel geben.
Städte befinden sich immerfort im Umbruch. Aber sie sind keine Betriebsplattformen, denen ein Upgrade genügte, um den jüngsten Anforderungen in Sachen wirtschaftliche Funktionen, gesellschaftliches Umfeld oder Ökobilanz zu entsprechen. London erlebte seit den 1990er Jahren eine Blüte. Die Stadt wurde dafür gefeiert, wie sie in ihrer kosmopolitischen und globalen Rolle aufging – und das nach einer Periode des Bevölkerungsrückgangs. Denn noch bis in die 1980er Jahre galt London als die Hauptstadt des „kranken Mannes von Europa“.
Aber wo steht London heute? Was bedeutet der Brexit, und was folgt aus der Politik, die unter dem Slogan „Global Britain“ firmiert, für diese Stadt? Und vor allem: Wie wird die Coronavirus-Pandemie am Ende das Leistungsversprechen der Metropolregion London mit ihrem hyper-erreichbaren Stadtzentrum verändert haben? Jeder Gedanke darüber, wie Londons Zukunft in den 2020er Jahren aussehen kann und soll, muss auf der Wahrnehmung und Reflexion folgender vier Probleme aufbauen.
Der erste Punkt betrifft das wachsende Bewusstsein für die soziale Ungleichheit in der Stadt. Die Ungleichheit von Vermögen und Einkommen wurde in den 2010er Jahren durch staatliche Sparmaßnahmen noch verstärkt. Hinzu kamen der spekulative Immobilienmarkt sowie die schlecht bezahlten Jobs in der „Gig-Economy“, die zu einem Rückgang der Arbeitnehmereinkommen führten. Unbezahlbarer Wohnraum, hohe Raten von Kinderarmut und Gewaltkriminalität gehörten zu den sichtbarsten und auch von der Politik anerkannten Symptomen dieser Entwicklung.
Zweitens schwindet im restlichen Großbritannien die Akzeptanz für London als wirtschaftliches Kraftzentrum der Nation – allein die Londoner Innenstadt trägt mit knapp über 4 Prozent der Arbeitsplätze etwa 8 Prozent zur Bruttowertschöpfung des Vereinigten Königreichs bei. Tatsächlich ist die regionale Ungleichheit in Großbritannien im europäischen Vergleich extrem hoch. Dieses Ungleichgewicht hat auch zum Brexit-Votum beigetragen.
Der dritte Aspekt ist der Strukturwandel in der Wirtschaft, der durch die Digitalisierung noch beschleunigt wird. Er trifft London zu einer Zeit, in der sich der Bankensektor auf den Brexit-Schock einstellen musste. Selbst wettbewerbsfähige Läden in der Londoner Innenstadt litten unter dem Online-Shopping. Während des größten Teiles der 2010er Jahre verzeichnete London einen allgemeinen Produktivitätsrückgang. Ab 2015 signalisierte ein unerwarteter Rückgang im Personenverkehr, dass die Menschen begannen, die Stadt anders zu nutzen.
Viertens verbreitete sich auch in London die Einsicht, dass es einen inneren Widerspruch zwischen ökologischen Grenzen und konventionellen wirtschaftlichen Aktivitäten gibt. Ob es um ein neues Bewusstsein für die CO2-Relevanz der Bauindustrie, den ökologischen Fußabdruck des Lebensmittel- und Einzelhandelssektors der Stadt oder die Umweltkosten der globalen Anbindung geht (mit weit über 30 Prozent der Kohlenstoffemissionen ist der Luftverkehr Londons größte CO2-Quelle): Es wurde deutlich, dass das alte Modell der globalen Stadt nicht mit dem Notstand von Klima und Ökologie vereinbar ist.
Ein schwerer Pandemie-Verlauf
Ungeachtet dieser Sorgen schaute London bis zum März 2020, als es von der Corona-Pandemie getroffen wurde, recht zuversichtlich in die Zukunft. Doch seit jenem Moment hat sich die Stimmung deutlich verändert. Am ersten Jahrestag des landesweiten Lockdowns trauert die Stadt nicht nur um mehr als 18 000 Londoner, die an Covid-19 gestorben sind, sondern sorgt sich auch verstärkt um Risiken und Verwundbarkeiten. Auch wegen der globalen Vernetzung Londons und der Wohndichte der ärmeren Bevölkerungsschichten war die Infektionsrate in London anfänglich sehr hoch. Zudem beraubten die Lockdown-Maßnahmen die Stadt ihrer wichtigsten Wettbewerbsvorteile: der Agglomerationseffekte einer großen Metropole, des vielfältigen Ökosystems von Firmen und Organisationen, der reichen Auswahl an Restaurants und Geschäften sowie der blühenden Kunst-, Kultur- und Unterhaltungsszene – alles konzentriert in der Londoner Innenstadt.
In vielen europäischen Städten hatten die Pandemie und die verschiedenen Lockdowns vergleichbare Auswirkungen. Anders war es in London, auch wegen der einzigartigen Struktur. Im Vergleich zu den Stadtzentren von Paris, New York und Tokio war Central London während der vergangenen zwölf Monate auffallend leer, weil sehr viel weniger Menschen dort wohnen. In der Londoner Innenstadt mit ihren mehr als zehn Millionen Quadratmetern Bürofläche und fast zwei Millionen Quadratmetern Einzelhandelsfläche arbeiten normalerweise 1,4 Millionen Menschen, was bis zu 150 000 Beschäftigten pro Quadratkilometer entspricht. Dagegen wohnen im gesamten Innenstadtbereich etwa 300 000 Menschen – nur ein Drittel der Einwohnerzahl in den genannten Vergleichsstädten.
Anders ausgedrückt: Was die Londoner Innenstadt zu einem so pulsierenden und energiegeladenen urbanen Zentrum machte, war die Tatsache, dass sie durch einen Zustrom von Pendlern aktiviert wurde, die täglich aus einem riesigen Einzugsgebiet anreisten. Viele dieser Pendler hatten lange Anfahrtswege; London verzeichnet die höchste durchschnittliche Pendlerzeit aller Städte in Europa. Deshalb hat London seit der Pandemie auch ein besonders hohes Maß an Fernarbeit. Zudem mussten die Beschäftigten hier über eine längere Zeit im Homeoffice arbeiten als fast überall sonst in Europa. Der Einbruch beim Tourismus und bei kulturellen Aktivitäten in Central London mit normalerweise etwa 25 000 Beschäftigten erklären zusätzlich das hohe Maß an Verödung.
Zwei weitere Herausforderungen kommen hinzu: So hatte London vor der Pandemie einen besonders hohen Anteil von Arbeitsmigranten mit unsicheren Arbeitsverhältnissen, was jetzt zu einem erheblichen Bevölkerungsrückgang führt. Nach manchen Schätzungen haben bis zu 700 000 Menschen die Stadt bereits verlassen. Hinzu kommen weitere Auswirkungen durch den Brexit, die sich allerdings nur schwer von dem wirtschaftlichen Gesamtschock trennen lassen.
Außerdem war Londons Personennahverkehr eine seltene Ausnahme auf der Welt, denn hier wurde ein sehr hoher Anteil der Betriebskosten vollständig über den Fahrpreis gedeckt. Die Pandemie führte jedoch zu einem dramatischen Rückgang. Im Februar 2021 lag die Zahl der U-Bahn-Fahrgäste noch immer bei weniger als 20 Prozent des Vor-Corona-Niveaus. Busse fahren nur mit etwas mehr als 30 Prozent der normalen Fahrgastzahl. Wegen der Einnahmeverluste benötigte das öffentliche Verkehrssystem der Stadt seit März 2020 zwei Rettungspakete im Umfang von insgesamt fast 2,3 Milliarden Pfund (2,6 Milliarden Euro). Kurz gesagt: Die finanzielle Nachhaltigkeit und das Geschäftsmodell des Londoner Verkehrssystems stehen infrage.
Überlegungen zu Londons Zukunft
Welche Zukunft erwartet London, wenn man den jetzigen Zustand der Stadt und die neuen Wirklichkeiten berücksichtigt? Natürlich hoffen viele, die sich dem Vor-Corona-Modell verschrieben haben, dass das Leben der Stadt in die geordneten Bahnen von Arbeit, Freizeit und Einzelhandel zurückkehrt, wie es sie vor der Pandemie gab. Aber selbst bei dem Szenario, das dem früheren Leben am nächsten kommt, werden sich erhebliche Veränderungen nicht vermeiden lassen. Das betrifft vor allem die veränderte Nutzung von Büroflächen, den geschwächten Einzelhandel und neue Anforderungen an öffentliche Räume.
Was die Nutzung von Büroräumen angeht, so deuten Umfragen darauf hin, dass „Wissensarbeiter“ am liebsten zwei- bis dreimal pro Woche ins Büro in die Stadt kommen möchten, wobei sie flexibel auf dezentrale Büroräume zugreifen oder häufiger von zu Hause arbeiten wollen. Sollten sich solche Präferenzen in einer tatsächlichen Verhaltensänderung niederschlagen, würde dies zu erheblichen Verwerfungen auf dem Büroimmobilienmarkt der Londoner Innenstadt führen. Zu erwarten wäre, dass sich die Büroflächenauslastung in einer Größenordnung von 50 bis 60 Prozent verändert.
Mischung und Inklusion
Die Folgewirkungen auf andere Unternehmen im Zentrum Londons wären erheblich. Wenn weniger Menschen in den Büros arbeiten, wirkt sich das auf Wartungs-, Catering- und Sicherheitspersonal ebenso aus wie auf Empfangspersonen, Verkäuferinnen und Verkäufer, Beschäftigte in der Gastronomie und eine Vielzahl von Beschäftigten der Unterhaltungsindustrie. Ein aktueller Bericht des Beratungsunternehmens Arup und der London School of Economics sagt für London einen Verlust von 115 000 bis 160 000 Arbeitsplätzen im Jahr 2023 in „Face-to-Face“-Beschäftigungen voraus, also dort, wo Menschen persönlich zusammenkommen.
Andersherum lassen sich aber auch vielversprechende neue Gebäudenutzungen für die Londoner Innenstadt identifizieren. Eine große Chance besteht in der weiteren Abkehr von einer verkehrsorientierten Logik der Straßenraumnutzung. Andere Funktionen des öffentlichen Raumes werden wahrscheinlich als weitaus wichtigeres Element innerstädtischer Raumnutzung betrachtet werden. Auf einer imaginierten Oxford Street mischt sich die Nutzung von Innen- und Außenräumen. Indirekt wird die Stadt so zu einem Ort, an dem umfassendere Erfahrungen möglich sind, als wenn solche Räume nur als Konsumorte dienten. Auch die Einbeziehung der Natur, die zu dieser Neugestaltung des öffentlichen Raumes gehört, dürfte neben den sozialen Funktionen stärker in den Vordergrund treten.
Angesichts der enormen Unwägbarkeiten: Welche konkreten Maßnahmen sind geeignet und wünschenswert, um London für die 2020er Jahre zukunftsfähig zu machen? Die Innenstadt wird sich vorsichtig auf eine flexiblere Flächennutzung einlassen müssen. Dabei sollte sie auf dem starken politischen Bekenntnis aufbauen, eine Stadt mit mehr Mischnutzung und mehr Inklusion werden zu wollen.
Schon jetzt macht der Mix von Unternehmen, öffentlichen Institutionen und gemeinnützigen Organisationen den Erfolg der Londoner Innenstadt aus. Wenn dieses Zentrum künftig deutlich mehr Bewohner hat, die sich ein urbanes Leben und lebendige Straßen wünschen, vergrößert und stärkt das diese Diversität und Mischung. Auch eine weitere Diversifizierung der Orte, wo man arbeiten kann, wird wichtig sein – neue Ateliers, Labore, hybride Versammlungsräume und kleine Produktions- und Reparaturwerkstätten.
Ein neuer Rhythmus
Möglicherweise muss die Londoner Innenstadt auch einen neuen Tagesrhythmus entwickeln. Im Vergleich zu anderen Weltstädten folgte London bis zur Pandemie einer relativ strengen Routine, die durch die klare Abfolge von Ereignissen definiert war: zwischen 8 und 9 Uhr die morgendliche Rushhour, um 13 Uhr das Hochgeschäft der Schnellimbisse und Take-Aways und um 18 Uhr überfüllte Pubs. Abends setzte sich der Rhythmus im Rush auf Kinos und Theater um 19 Uhr fort, den überfüllten Restaurants um 20 Uhr und dem Schließen der meisten Pubs, Bars und Nachtlokale um 23 Uhr. Eine bessere Verteilung der Aktivitäten entlastet nicht nur diese Räume, sondern ermöglicht insgesamt mehr Zugang zu städtischen Einrichtungen und eine bessere Ausnutzung der verfügbaren Gebäudeflächen.
Außerdem braucht London ein neues Modell für die Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs, das den Fokus nicht mehr auf Spitzenbelastungen und die Maximierung von Fahrgastzahlen zugunsten von Einnahmen setzt. Dieses Modell wird noch stärker auf Straßennutzungsgebühren setzen müssen, um den öffentlichen Verkehr zu unterstützen, der dann als öffentliches Gut behandelt wird. Die Aufmerksamkeit gilt somit der Bereitstellung eines sicheren, zuverlässigen und dicht getakteten Betriebs als Rückgrat der Mobilität in London. Ebenso wichtig wird es sein, den Umstieg vom privaten Auto auf den Fuß- und Radverkehr zu beschleunigen, um die neue Rolle von lebenswerten, dynamischen Straßen und öffentlichen Räumen zu unterstützen. Wenn schließlich für Menschen, die regulär im Londoner Stadtzentrum arbeiten, mehr erschwinglicher Wohnraum in der Innenstadt geschaffen wird, werden deren Arbeitswege kürzer und umweltfreundlicher. Dann könnten auch die Luftverschmutzung deutlich zurückgehen und der Verkehrssektor bis 2030 klimaneutral werden.
Möchte man ein Leitprinzip für all die bisher beschriebenen Maßnahmen definieren, stößt man auf eine Zukunftsagenda, die weit über eine Erholung von Pandemie und Brexit hinausgeht. Sie ist eine kompromisslose Antwort auf den Klimanotstand – eine Antwort, die nicht weniger will als den Aufbau einer neuen urbanen Ökonomie. Diese ist sozial gerecht und ökologisch nachhaltig; sie berücksichtigt auch ihre indirekten und impliziten Auswirkungen in vollem Umfang, von ihrer Anbindung an die Welt bis hin zu lokalen Geschäftsmodellen.
Das London der 2020er Jahren darf kein bloßes Upgrade sein, sondern muss eine umfassende Transformation werden, die zur Erneuerung des städtischen Versprechens führt: das einer intensiven Interaktion zwischen Menschen, die durch die Bevölkerungsdichte und die Mischung von Menschen, Funktionen und Chancen befördert wird. So könnte London sogar die nächste Blütezeit erleben.
Aus dem Englischen von Bettina Vestring
Philipp Rode ist Executive Director von LSE Cities an der London School of Economics and Political Science.
Internationale Politik 3, Mai-Juni 2021, S. 69-73
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