IP

01. Febr. 2005

Ein Wort, das verpflichtet

Buchkritik

Die Völkermordkonvention blieb jahrzehntelang ohne politische Auswir­kung. Seit den Tribunalen für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda hat sich das geändert. William A. Schabas’ Meisterwerk erhellt diesen Prozess.

Wenn sich Sprache zu Recht verfestigt, verlieren sich begriffliche Unschärfen nicht von selbst unter dem kalten Blick des Gesetzgebers. Das gilt im ungeschützt politischen Witterungen ausgesetzten Völkerrecht einmal mehr, und der in diesen Wochen auf Gedenkveranstaltungen, wissenschaftlichen Tagungen und Konferenzen allgegenwärtige Genozidbegriff belegt diese ernüchternde Wahrheit eindrücklich. Dabei ist die juristische Definition des Völkermords längst verbindliche Grundlage der Ahndung eines Verbrechens, das Churchill einmal das „namenlose“ nannte.

Die 1948 von den damals 56 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen angenommene Völkermordkonvention fasste das Grauen in die Sprache des Rechts und klassifizierte als Völkermord eine Reihe von Handlungen, die in der Absicht begangen werden, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, sei es durch Tötung, schwere körperliche oder seelische Misshandlung, Zerstörung der Lebensgrundlagen, Geburtenverhinderung oder Kindesentziehung. Mehr als 40 Jahre fehlte es der Konvention an Durchsetzbarkeit, bis der Genozidbegriff bei der Neubestimmung des Verhältnisses von Souveränität und Recht, staatlicher Immunität und individueller Verantwortlichkeit in den neunziger Jahren wieder als juristische Kategorie ins Blickfeld rückte.

Unverändert wurde die in Artikel II der Genozidkonvention niedergelegte Völkermorddefinition in die Statuten der von den Vereinten Nationen errichteten Ad-hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda aufgenommen. Im September 1998 erging vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda in Arusha erstmals ein Urteil nach der Genozidkonvention. Kurz zuvor war die Genoziddefinition der Konvention in das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs übernommen worden, der inzwischen in Den Haag seine Arbeit begonnen hat.

Anschaulich zeigt die umfangreiche Studie von William A. Schabas, wie die Völkermorddefinition der Konvention von 1948 in den vergangenen Jahren zu einem Schlüsselelement des humanitären Völkerrechts wurde. Die inhaltlich aktualisierte deutsche Übersetzung seiner 2000 bei Cambridge University Press erschienenen und binnen kürzester Zeit zum Standardwerk avancierten Arbeit „Genocide in International Law“ ist gleichermaßen spannende historische Untersuchung, nüchterner juristischer Kommentar und leidenschaftliche politische Denkschrift.

Allzu oft laufen bei der Beschäftigung mit dem Genozidbegriff juristische, politische und historisch-soziologische Diskurse zusammenhanglos nebeneinander her. Schabas, Direktor des Irish Centre for the Study of Human Rights und Professor für humanitäres Völkerrecht an der National University of Ireland in Galway, ermöglicht indes gerade durch seine mit nüchterner Präzision entfaltete Interpretation der Genozidkonvention aufschlussreiche interdisziplinäre Durchblicke. Dass solche Grenzgänge am Schnittpunkt von Erinnerung und Verantwortung gerade auch im Blick auf die Prävention künftiger Gräuel unerlässlich sind, belegen neuerdings unter anderem die von dem in Toronto lehrenden Rechtssoziologen John Hagan vorgelegten Innenansichten der Arbeit des Haager Jugoslawien-Tribunals.

Eine gründliche einleitende Darstellung der historischen Ursprünge des strafrechtlichen Genozidverbots erleichtert bei William A. Schabas das Verständnis der dann skizzierten vielschichtigen Probleme bei der Ausarbeitung der Völkermordkonvention, die sich häufig bis in heutige juristische Interpretationsfragen hinein fortsetzen und dort noch politische Sprengkraft entwickeln. Schritt für Schritt erläutert Schabas die einzelnen Konventionsvorschriften, mit deren Interpretation sich fast ausnahmslos brisante völkerrechtliche Streitfragen verbinden: Welche Gruppen schützt die Konvention? Welche Handlungen sind strafbar? Wann genau liegt eine Absicht vor, Völkermord zu begehen? Dürfen sich Staatsoberhäupter auf ihre Immunität berufen, Täter auf einen Nötigungsnotstand? Gilt für Völkermord das Weltrechtsprinzip? Ist zu seiner Verhütung eine humanitäre Intervention zulässig?

Immer wieder bringt Schabas die travaux préparatoires, die Dokumente der vorbereitenden Arbeiten zur Völkermordkonvention, in einen erhellenden Dialog mit der umfassend ausgewerteten Spruchpraxis nationaler und internationaler Gerichte. Und immer wieder hört man auch die Stimme des polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin, der dem Verbrechen des Völkermords in seiner 1944 erschienenen Studie „Axis Rule in Occupied Europe“ begriffliche Konturen gab und sich unermüdlich für die Ächtung und Ahndung des Genozids durch die Vereinten Nationen einsetzte, wie Anson Rabinbach in seinem Beitrag in dieser Ausgabe der IP ausführlich berichtet.

Mit Lemkin, dessen von den Genoziden an den Armeniern und am jüdischen Volk beeinflusste Schriften er seiner Studie gleichsam als Resonanzboden unterlegt, verbindet Schabas die persönliche Berührung mit zwei Völkermorden des 20. Jahrhunderts. Es ist, wie er bekennt, einerseits imaginierte Erinnerung, die ihn treibt: Erinnerung an die jüdischen Gemeinden in Ostgalizien, in denen seine Großeltern väterlicherseits aufwuchsen, die der Shoah zum Opfer fielen. Zum anderen aber ist es die unmittelbare Erfahrung des Völkermords in Ruanda, dessen Zeuge er ab 1993 wurde und dessen juristische Aufarbeitung er seither als Berater begleitet.

Schabas weiß aus eigener Anschauung um die Schwierigkeiten der Strafverfolgung in einem Land, dessen verheerender Bürgerkrieg eine ohnehin nur schwach ausgebildete Justiz vollends zerstörte. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Täter wurde bisher vom UN-Tribunal in Arusha und von den völlig überlasteten staatlichen Gerichten verurteilt; mehr als 80 000 weitere mutmaßliche Täter sind noch immer in Haft.

Erst vor wenigen Tagen begannen mehr als 8000 Gacaca-Gerichte, traditionelle Dorfgerichte, mit der juristischen Aufarbeitung des Völkermords, dem 1994 mehr als 800 000 Tutsi und gemäßigte Hutu zum Opfer fielen. Die Gacaca, denen die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) logistische Hilfe bei der Aktenverwaltung leistet, sind eine Antwort auf die verbreitete Forderung, die gerichtliche Ahndung auf nationaler Ebene habe Vorrang vor internationalen Verfahren. Sie sind eine Antwort auf die international kritisierten Völkermordprozesse der „wiedererrichteten“ ruandischen Justiz, aber auch eine Antwort auf die Defizite des von den Vereinten Nationen eingesetzten Internationalen Tribunals in Arusha, das sich immer wieder dem Vorwurf der Ineffizienz und der Nähe zum ruandischen Militärregime ausgesetzt sieht. Nun wollen die UN-Richter zur Unterstützung der örtlichen Laienrichter Experten entsenden; eine wichtige Grundlage bei der juristischen Beratung wird dabei zweifellos die eigene Rechtsprechung des Tribunals sein, das 1998 mit Jean-Paul Akayesu erstmals in der Geschichte einen Angeklagten wegen Völkermords verurteilte.

Zwischen Strafrecht und Versöhnung

„Die Bemühungen Ruandas werden durch seine verzweifelte Knappheit der Ressourcen und durch die schiere Zahl der Beschuldigten behindert“, schreibt William A. Schabas. „Möglicherweise ist das Land irgendwann außerstande, weiterzumachen und entschließt sich dazu, Alternativen zur strafrechtlichen Verfolgung des Völkermords zu akzeptieren.“ Nach dem Wortlaut der Genozidkonvention genügen alternative Mechanismen für Gerechtigkeit und Versöhnung, wie beispielsweise die Errichtung von Wahrheitskommissionen nach dem Beispiel Südafrikas, jedoch nicht der Verpflichtung zur strafrechtlichen Verfolgung von Völkermord. Dennoch räumt Schabas ein, dass sie akzeptabel sein könnten, soweit sie zu den eigentlichen Zielen der Konvention beitragen.

Die wirkliche Lösung der praktischen Probleme, die sich aus der auf territorialer Zuständigkeit basierenden Strafverfolgung von Völkermord ergeben, liegt für Schabas aber grundsätzlich in der konsequenten Anwendung des Weltrechtsprinzips bei der Ahndung von Genoziden. Danach dürfte jeder Staat diese Verbrechen, wo und durch wen auch immer begangen, durch seine nationale Justiz strafrechtlich verfolgen. Indes muss auch ein so flammender Befürworter der „universal jurisdiction“ wie Schabas einräumen, dass die strikt dem Territorialitätsprinzip folgende Völkermordkonvention dem Weltrechtsprinzip keinen Raum lässt. Auch im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs fand das umstrittene Konzept keinen Widerhall, eine gewohnheitsrechtliche Geltung lässt sich daher derzeit schwerlich begrün-den. Stattdessen bietet die durch das Römische Statut begründete Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs eine Lösung, für die in Artikel VI der Völkermordkonvention vor mehr als 50 Jahren schon Raum gelassen wurde.

Eine neue völkerstrafrechtliche Alternative deutet sich auch in einer neuen Generation „internationalisierter“ Gerichte an, die nationale und internationale Elemente verbinden, von nationalen und internationalen Richtern besetzt sind und Recht beider Rechtsordnungen anwenden. Das 2002 errichtete Sondertribunal für Sierra Leone ist dafür ein wichtiges Beispiel, auch wenn hier das Verbrechen des Völkermords wegen mangelnder Einschlägigkeit in der konkreten Situation nicht in das Statut aufgenommen wurde. Dennoch könnten die Synergien der „Truth and Reconciliation Commission“ und des „Special Court“ in Sierra Leone, wie William A. Schabas unlängst an anderer Stelle dargestellt hat, auch für die Ahndung von Genozidverbrechen beispielgebend sein. Eine vollständige strafrechtliche Aufarbeitung, das zeigt auch das Beispiel des ehemaligen Jugoslawien, ist ebenso illusorisch wie möglicherweise, mit Blick auf die Verfestigung neuer staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen, kontraproduktiv.

Stattdessen geht es im internationalen Strafrecht stets auch um eine Kultur des Erinnerns, die in einer zusammenwachsenden Welt moralischer Indifferenz entgegenwirken und das Gewissen des Einzelnen schärfen soll. Als die Richter des Haager Jugoslawien-Tribunals am 2. August 2001 das Urteil gegen den am Massaker von Srebrenica beteiligten serbischen General Radislav Krstic verkündeten, machten sie sich in ihrer ausführlichen Urteilsbegründung das bekannte Wort des Anklägers und späteren Chronisten der Nürnberger Prozesse Telford Taylor zu eigen, dass „diese unfassbaren Ereignisse durch eine klare und öffentliche Beweiserhebung nachgewiesen werden müssen, damit niemand jemals am tatsächlichen Geschehensablauf zweifeln kann“.

Die wichtigste Aufgabe des humanitären Völkerrechts aber ist die Prävention, auch und vor allem, wenn es um das „Verbrechen der Verbrechen“, den Genozid, geht. Und so ist für William A. Schabas „die größte ungelöste Frage in der Konvention ... der Sinn des rätselhaften Wortes ‚verhüten‘“. Die in Artikel I niedergelegte Verpflichtung zur Verhütung des Völkermords sei „ein leeres Blatt, das darauf wartet, durch Rechtsprechung und Staatenpraxis beschrieben zu werden“. Dürfen oder müssen also die Staaten, über die in Artikel VIII vorgesehene Befassung der UN-Organe hinaus, bei drohendem Völkermord gewaltsam intervenieren, notfalls auch ohne Mandat des Sicherheitsrats?

Schabas lehnt die Option einer solchen präventiven humanitären Intervention bei der gegenwärtigen Rechtslage ab. Individuelle Initiativen ohne Genehmigung des Sicherheitsrats zu tolerieren, sei eine abschüssige Bahn, die ins Chaos führe. Auch eine Art Frühwarnsystem hält er als Element der Völkermordprävention nur dann für hilfreich, wenn es bei Beobachtung eines ganzen Spektrums von Faktoren schon allererste Symptome feststelle und ernst nehme, vor allem schriller werdende Hasspropaganda.

Angesichts der möglichen Weiterentwicklung des Genozidrechts hebt Schabas treffend hervor, dass die Erweiterung der von den Vertragsstaaten der Völkermordkonvention übernommenen Verpflichtungen bis hin zu einer Verpflichtung zu militärischer Intervention eines voraussetze: eine „präzise, restriktive und unveränderliche Definition“, die den Staaten Sicherheit gebe. So wünschenswert die Einbeziehung weiterer Opfergruppen und alternativer Taten sein mag: Eine erweiterte Völkermorddefinition mit unklaren Abgrenzungen öffnet auch wieder jene Hintertür einen Spalt weiter, durch die sich die Vertragsstaaten der Konven-tion jahrzehntelang elegant aus der Affäre zogen.

Um die Tat außenpolitischer Räson wegen nicht beim Namen nennen zu müssen, verwies man immer wieder auf die Unschärfen und Mehrdeutigkeiten des juristischen Völkermordbegriffs. Dessen Bedeutungszuwachs im vergangenen Jahrzehnt verlangt darum nun nach dem Feinschliff durch eine trennscharfe und stabile Definition. Denn nur ein präziser Begriff kann zum Engagement verpflichten.

William A. Schabas: Genozid im Völkerrecht. Aus dem Englischen von Holger Fliessbach. Hamburger Edition, Hamburg 2003. 792 Seiten, 40 €

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2005, S. 124 - 127.

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