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01. Sep 2011

Ein Augenblick der Formbarkeit

Im Nahen Osten besteht die Chance auf einen kreativen Lösungsansatz

Die USA und Europa verkennen die großen Gefahren, die die Umbrüche in der arabischen Welt bergen. Schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse muss sich der Westen viel stärker und einfallsreicher in Nahost engagieren – in einer Sicherheitskoalition mit seinen Verbündeten, die zugleich den Iran und radikale Kräfte stoppt.

Alle bislang gehegten Gewissheiten sind nach den Aufständen in einigen arabischen Ländern hinfällig geworden. So sehr, dass eine neue Nahost-Politik, so US-Außenministerin Hillary Clinton, dem Versuch gleicht, eine mehrdimensionale Schachpartie auf einem Spielfeld unbekannter Größe zu absolvieren.

Ist beim Schach aber weitsichtige Planung und kühle Überlegung gefordert, so lassen die westlichen Reaktionen auf die Umbrüche in der arabischen Welt genau dies vermissen. Die Rede, die US-Präsident Barack Obama Mitte Mai zu den Ereignissen in der arabischen Welt hielt, zeugt ebenso von nostalgischer Romantik wie die „neue und ehrgeizige“ Nachbarschaftspolitik, die die EU angekündigt hat. Beide, die USA wie Europa, beziehen sich auf westliche Massenproteste für Freiheit und Selbstbestimmung – seien es die „Boston Tea Party“, die Obama bemühte, oder die sanften Revolutionen, die das Ende des Kommunismus in Osteuropa herbeiführten. Und so glaubt man, dass sich Fortschritt und Demokratie auch in den arabischen Ländern schon durchsetzen würden, wenn man den Dingen nur ihren Lauf lässt und auf Einmischungen verzichtet. Dabei müssen die arabischen Länder nicht nur mit lediglich einem Bruchteil der politischen und finanziellen Hilfe auskommen, die der Westen für die Transformation der postkommunistischen Staaten zur Verfügung gestellt hat. Man vergisst auch, dass der Nahe Osten des Jahres 2011 weit weniger „anschlussfähig“ ist als die Länder Mittel- und Osteuropas des Jahres 1989.

Die westliche Strategie beruht also auf dem Prinzip „sich selbst überlassen und auf das Beste hoffen“. Nur blendet man mit einer solchen „Strategie“ die fundamentalen wirtschaftlichen und sozialen Probleme und die Gefahr eines wachsenden Radikalismus fast vollständig aus. Als ob es nicht genau die Probleme wären, die eine Etablierung „tief verwurzelter und dauerhafter Demokratien“, wie sie sich die EU wünscht, die Schaffung größerer Sicherheit in der Region, eine Lösung des arabisch-israelischen Konflikts und damit das Wahrnehmen wichtiger westlicher Interessen zunichte machen könnten.

Dass der Westen sein Engagement im Nahen und Mittleren Osten auf ein Minimum reduziert hat und dass finanzielle und politische Ressourcen zunächst auf die Wiederherstellung der eigenen Stärke verwandt werden, ist ebenso der enttäuschenden Nahost-Politik während des vergangenen Jahrzehnts wie den derzeitigen politischen und ökonomischen Krisen geschuldet. Dennoch muss der Westen eine angemessenere Balance zwischen der Konzentration auf dringliche innenpolitische Probleme und seinen internationalen Verpflichtungen finden.

Unverzichtbarer Westen

Der Einfluss und die Glaubwürdigkeit des Westens in der Region mögen erodiert sein. Aber dennoch gibt es keinen Ersatz für das Engagement der USA und Europas. Noch immer sind sie es, die die Aufgabe übernommen haben – und weiterhin wahrnehmen müssen – Frieden, Sicherheit und Wohlstand in der Region zu erhalten oder herzustellen. Der Einsatz der NATO in Libyen mag unvollkommen und halbherzig sein. Aber er ist trotzdem entscheidend. Im Irak mag man sich lange nach einem Abzug der amerikanischen Truppen gesehnt haben. Aber im Augenblick scheint sich in Bagdad über Parteigrenzen hinweg ein Konsens zum Verbleib der US-Truppen zu bilden. Die gesamte Position des Westens in dieser Region ist davon abhängig, welche Macht und welchen Einfluss Europa und die USA auszuüben gewillt sind.

Noch wichtiger ist: Es geht beim Engagement des Westens nicht um Barmherzigkeit. Vielmehr stehen hier existenzielle Interessen auf dem Spiel. Strategische Kalamitäten kann sich der Westen nicht leisten. Ihm muss es weiterhin darum gehen, einen Export von Gewalt und Instabilität nach Europa und Nordamerika zu verhindern (sei es durch Terrorismus, Proliferation von Massenvernichtungswaffen oder die Weiterverbreitung radikalen Gedankenguts), seine Energiesicherheit zu gewährleisten und die wesentlichen Schifffahrtsrouten zu schützen.

Man stelle sich nur für einen Augenblick ein Terrorattentat auf eine wichtige Ölproduktionsanlage in Saudi-Arabien vor. Weit hergeholt ist dieses Szenario nicht, schließlich hatten saudische Al-Kaida-Aktivisten schon im Februar 2006 eine der global wichtigsten Erdölraffinerien in Abqaiq angegriffen. Wie die meisten saudi-arabischen Ölfelder und Förderstätten liegt auch diese Anlage in der von der schiitischen Minderheit bewohnten und an den Persischen Golf angrenzenden Ostprovinz des Landes. Dass der Iran sich schon seit längerem immer aggressiver gebärdet und sich ganz ungeniert in dieser Provinz einmischt, beunruhigt die saudische Regierung ohnehin. Dazu kommt, dass sie sich von den USA im Stich gelassen fühlt. Schließlich habe sich die Obama-Regierung, so sieht man es in Riad, unziemlich schnell vom langjährigen ägyptischen Bundesgenossen Hosni Mubarak losgesagt. Eine verunsicherte saudische Regierung könnte sich durch einen Terroranschlag auf eine große Ölförderungsanlage zu einem drastischen Gegenschlag provozieren lassen und damit eine Krise in Gang setzen, die die gesamte Golf-Region an den Abgrund führen würde. Wichtige Schifffahrtsrouten wären bedroht, die Ölpreise würden in die Höhe schnellen und die ohnehin schon schwelende Wirtschaftskrise noch enorm verschärfen.

Fixierung auf das Falsche

Dessen ungeachtet scheint der arabisch-israelische Konflikt vor allem in Europa die größte Aufmerksamkeit zu genießen. Man ist der Überzeugung, dass er nicht nur der langwierigste, sondern auch der wesentliche Konflikt der Region sei und viele Probleme gelöst wären, wenn man ihn nur endlich beenden könnte – und wenn nur Israel dem nicht dauernd im Weg stünde. Nun mag die Lösung dieses Konflikts tatsächlich von existenzieller Notwendigkeit sein – für Israel. Aber er ist ganz sicher nicht die Hauptgefahr für die Sicherheit in der Region oder für die Interessen des Westens.

Dass im Augenblick Stillstand herrscht, liegt nicht allein an Israel, sondern eher an der falschen Politik der USA. Die Regierung Obama hat zu Beginn ihrer Amtszeit auf einen sechsmonatigen Stopp des Siedlungsbaus gedrungen, den Israels Premierminister Benjamin Netanjahu auch durchgesetzt hat. Nur kam danach – nichts, jedenfalls kein konstruktiver Vorschlag der USA für weitere Verhandlungen. So enttäuschte man die Israelis und brachte die palästinensische Autonomiebehörde in eine unmögliche Situation. Sie kann nun nicht mehr hinter der Höchstforderung eines totalen Siedlungsstopps als Vorbedingung für weitere Verhandlungen zurückstecken, ohne an Glaubwürdigkeit in der eigenen Bevölkerung zu verlieren.

Der an Obsession grenzenden Fixierung auf den israelisch-palästinensischen Friedensprozess ist es geschuldet, dass man vor allem in Europa auf unwichtigere Ereignisse wie die Abstimmung über die Anerkennung eines palästinensischen Staates in den Vereinten Nationen starrt, anstatt die gesamte Region in den Blick zu nehmen. So kann man nicht begreifen, in welch hohem Maß drei wesentliche Herausforderungen im Nahen Osten miteinander verknüpft sind: die wachsende politische Macht und der Einfluss des Iran, seiner Verbündeten und anderer radikaler islamistischer Kräfte; die sozioökonomische und politische Unterentwicklung und tatsächlich ganz zuletzt der arabisch-israelische Konflikt.

Fortschritte sind nicht zu erzielen, wenn man versucht, diese drei Bereiche getrennt voneinander zu behandeln. Hält man die radikalen Kräfte nicht in Schach, können sie sich weiterhin als Störer eines Friedensprozesses oder einer Verhandlungslösung betätigen. Reformen, die zu besserer Regierungsführung und der Einhaltung der Menschenrechte führen, sind nur möglich, wenn die radikalen Kräfte nicht übermäßig an Einfluss gewinnen. Was die wirtschaftlichen Probleme betrifft, so gilt ebenfalls: Wenn der Lebensstandard steigen und die politische Entwicklung hin zu stabilen Demokratien gelingen soll, dann sind private Investitionen aus aller Welt ebenso wichtig wie eine „Transformationshilfe“ vor allem westlicher Regierungen. Diese werden aber ausbleiben, wenn destabilisierende islamistische Kräfte die „neuen“ Regime in der Region beherrschen. Die radikalen Kräfte aber wird man auch dann besser eindämmen können – und hier schließt sich wieder der Kreis – wenn der Friedensprozess vorangeht. Nur ein umfassender und realistischer Ansatz, der diese Zusammenhänge berücksichtigt, kann zum Erfolg führen.

Anders als die westlichen Regierungen haben die lokalen Akteure schon begonnen, sich mit der Verlagerung der politischen Gewichte zu arrangieren. Der Machtzuwachs der Muslimbruderschaft in Ägypten führt dazu, dass die Übergangsregierung Beziehungen zu radikalen Kräften wie dem Iran und der Hamas sucht. Besorgt über die Entwicklungen in Ägypten, über einen äußerst selbstbewusst auftretenden Iran und zudem verunsichert vom Gefühl, von den USA im Stich gelassen zu werden, versuchen die Saudis und deren Partner im Golf-Kooperationsrat (GCC), dieses Forum zu erweitern und Jordanien aufzunehmen. Das darf durchaus als klare Botschaft an den Iran und ein radikaler werdendes Ägypten verstanden werden. Für die Herstellung größerer Sicherheit oder gar für eine Entwicklung hin zu Demokratie und Frieden verheißt das jedoch nichts Gutes.

Unkonventionelle Konzepte

Es ist keine leichte und schon gar nicht eine in kurzer Zeit zu bewältigende Aufgabe, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken und die Region vor einem rapiden Zerfall zu bewahren. Nicht zuletzt deshalb sollte der Westen auch nicht versuchen, sie im Alleingang anzugehen, sondern lieber die Unterstützung langjähriger Verbündeter suchen. Neu erstarkte Kräfte wie die Muslimbruderschaft gehören dabei nicht zu den Kandidaten, deren Kooperation der Westen suchen sollte.

Ein neuer umfassender Lösungsansatz benötigt ein kreatives, unkonventionelles Konzept, wie es der Marshall-Plan für das Europa der Nachkriegszeit oder die Integration eines vereinten Deutschland in die Europäische Union durch den Vertrag von Maastricht gewesen ist. Regionalismus ist nicht zwangsläufig die Lösung aller Probleme im Nahen Osten. Aber ein ähnlicher Erfindungsreichtum, der die strategische Landschaft in ihrer Breite mit einschließt, ist heute für dessen Zukunft von entscheidender Bedeutung.

Den möglichen Rahmen eines neuen, umfassenden Lösungsansatzes würde eine vom Westen geführte, regionale Friedens- und Sicherheitskoalition bilden. Dafür müssten die USA und Europa jüngst entstandene Unstimmigkeiten ausräumen und den Sorgen langjähriger westlicher Verbündeter wie Saudi-Arabien Rechnung tragen. Diese würden im Gegenzug eine aktive und positive Rolle bei der Lösung der miteinander verknüpften Probleme in der Region spielen.

Bietet der Westen seinen Verbündeten eine glaubwürdige Sicherheitsstrategie an, so könnte dies den Ambitionen radikaler Kräfte, insbesondere des Iran und der von ihm geförderten radikalen Gruppierungen Grenzen setzen. Solche Sicherheitszusagen wären nicht zwangsläufig mit hohen politischen Kosten verbunden. Bestimmte politische Signale wie Staatsbesuche oder klare Stellungnahmen, die Wiederbelebung der regionalen Sicherheitsarchitektur durch das US-Zentralkommando CENTCOM oder Zusicherungen der NATO für neue Partnerschaften in der Region würden genügen. Dies alles liegt allein schon im Interesse des Westens – die Mitglieder des Golf-Kooperationsrats könnten überdies ein umfassendes Reformprogramm in Angriff nehmen und sich dazu verpflichten, dem Export und der Finanzierung des sunnitischen Extremismus nach Südasien und Europa Einhalt zu gebieten.

Darüber hinaus könnte der GCC gemeinsam mit internationalen Organisationen und Privatunternehmen eine wichtige Rolle bei der regionalen sozioökonomischen Entwicklung spielen. Mit kleineren Hilfspaketen wäre es dabei allerdings nicht getan: Die Jugendarbeitslosigkeit gerade in den Umbruchstaaten liegt bei über 30 Prozent. Nur um einen weiteren Anstieg der Arbeitslosenquote zu verhindern, werden bis zum Jahr 2020 etwa 51 Millionen neue Jobs benötigt.

Als letzter Baustein eines möglichen neuen Lösungsansatzes müsste der Golf-Kooperationsrat zusammen mit Jordanien und Marokko eine aktive Rolle im arabisch-israelischen Friedensprozess übernehmen. Eine verantwortungsbewusste arabische Friedenskoalition könnte den Einfluss der Hamas und eines sich radikalisierenden Ägypten eindämmen, im Zusammenspiel mit dem Nahost-Quartett zum Mentor des Friedensprozesses werden und die eher zu extremen Positionen neigende Arabische Liga ersetzen. Ein solch erweiterter Verhandlungsrahmen könnte den Palästinensern die für schwierige Entscheidungen dringend benötigte panarabische Unterstützung bieten. Für Israel böten sich ebenfalls strategische und politische Vorteile, die den Abschluss eines Abkommens erleichtern und die dafür notwendige Zustimmung der israelischen Bevölkerung erhöhen würden: die Aussicht auf normale Beziehungen und Akzeptanz innerhalb der Region ist für Israel ein unschätzbares Plus.

Ein umfassendes Endstatus-Abkommen ist für die nahe Zukunft wohl nicht zu erwarten. Doch auch wenn die Palästinenser formelle Übergangslösungen ablehnen, gibt es genügend Spielraum für eine Reihe gemeinschaftlicher Schritte Israels, der Palästinenser und einer „friedensaktiven“ arabischen Koalition. Solche Maßnahmen könnten auf der weiteren Umsetzung der Verpflichtungen aus der „Roadmap“ gründen, auf die sich Israel und die palästinensische Autonomiebehörde bereits geeinigt hatten, und auf der arabischen Friedensinitiative von 2002 und ihrer expliziten Formel „Normalisierung für Frieden“.

Diese gemeinsamen Maßnahmen sollten gleichzeitig sowohl von israelisch-palästinensischer als auch von israelisch-arabischer Seite umgesetzt werden. Sie würden wohl nicht über Nacht zu einem umfassenden Friedensvertrag führen, aber sie könnten die festgefahrene Situation lösen, eine Dynamik für produktive Verhandlungen über eine abschließende Einigung in Sachen Grenzen und Sicherheitsvereinbarungen schaffen und die regionale Sicherheit durch die Stärkung der Pro-Friedens-Koalition erhöhen.

20 Jahre nach der Madrider Friedenskonferenz von 1991 ist es höchste Zeit für einen neuen, umfassenden Verhandlungsansatz im Nahen und Mittleren Osten. Die Revolten in der arabischen Welt haben einen „Augenblick der Formbarkeit“ geschaffen, der in der nächsten Zukunft die Konturen des Nahen Ostens prägen wird.

Es wird nicht reichen, den Dingen ihren Lauf zu lassen und auf das Beste zu hoffen, wie es die USA und Europa bislang getan haben. Dafür sind die Gefahren für Sicherheit und Wohlstand sowohl in der Region selbst als auch global viel zu groß. Unter diesen Umständen ist ein politisch weitaus aktiveres und kreativeres Engagement gefordert – des Westens ebenso wie seiner Verbündeten in der Region.

Generalmajor a.D. DANNY ROTHSCHILD ist Direktor des Institute for Policy and Strategy des Interdisciplinary Center (IDC) Herzlija.

TOMMY STEINER ist Senior Research Fellow des Institute for Policy and Strategy des IDC Herzlija.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2011, S. 74-79

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