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01. Juli 2011

Ehrgeiziger Energiebauplan

Wie die EU-Kommission ein integriertes europäisches Netz schaffen will

Modernisierung der Energieinfrastruktur, Schaffung eines Energiebinnenmarkts, Erhöhung der Versorgungssicherheit, Importdiversifizierung, Dekarbonisierung: Die Ziele, die die EU in ihrem „Konzept für ein integriertes europäisches Energienetz“ anstrebt, sind ambitioniert. Aber sind sie auch realistisch? Eine Analyse.

Drei Ereignisse der jüngeren Vergangenheit haben die Vielgestaltigkeit und Verwundbarkeit der europäischen Energieinfrastruktur schlaglichtartig deutlich gemacht. Am Abend des 4. November 2006 wurde eine Höchstspannungsleitung im Emsland abgeschaltet, um die Überführung eines Kreuzfahrtschiffes zu ermöglichen. Darauf brachen wegen der Überlastung einer Verbindungsleitung „kaskadenartig“ weitere Stromleitungen von Nord nach Süd quer durch Europa zusammen. Über 15 Millionen Europäer in Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien und Spanien waren bis zu anderthalb Stunden ohne Strom.

Im Januar 2009 waren die russischen Erdgaslieferungen nach Europa für knapp zwei Wochen unterbrochen, da sich Russland und die Ukraine nicht über Konditionen für ukrainische Erdgasimporte und Transitgebühren für die russischen Erdgasexporte nach Europa einigen konnten. Waren die Folgen des russisch-ukrainischen Gaskonflikts in West- und Mitteleuropa kaum spürbar, kam es in einigen osteuropäischen Staaten zu gravierenden Lieferengpässen.

Und schließlich war es am Wochenende des 3. und 4. Oktober 2009 in Deutschland so stürmisch, dass Windkraftanlagen große Strommengen erzeugten und vorrangig ins Stromnetz einspeisten. Da zugleich die Stromnachfrage gering war, konnte dieses Überangebot mangels Speicherkapazitäten und Leitungen zu Verbrauchszentren nicht innerhalb des Stromnetzes ausgeglichen werden. Die Folge: An der Leipziger Strombörse EEX bildeten sich zeitweise „negative Strompreise“ – Stromanbieter mussten für die Abnahme von Strom zahlen.

Moderner, sicherer, sauberer

Die heutige Energieinfrastruktur in Europa, die überwiegend in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde, ist veraltet und muss in den kommenden Jahren modernisiert werden. Neben dieser notwendigen Modernisierung möchte Brüssel einen europäischen  „Energiebinnenmarkt“ schaffen, in dem Energie über Staatsgrenzen hinweg gehandelt werden kann. Zu diesem Zweck will man monopol- und oligopolartige Strukturen auf Seiten der Energieanbieter durch eine schrittweise Liberalisierung der Energiemärkte auflösen, um über intensivierten Wettbewerb zu einer Senkung der Energiepreise zu gelangen. Die europaweite Handelbarkeit von Energie setzt eine entsprechende Vernetzung der Energieinfrastruktur voraus. Allerdings reicht derzeit die Zahl der hierfür vorhandenen Verbindungsleitungen weder im Strom- noch im Gassektor aus.

Weitere Ziele der EU betreffen die Versorgungssicherheit und die Importdiversifizierung. Die Abhängigkeit der Union vom Import fossiler Brennstoffe (2009: 54 Prozent) ist bei Kohle (2009: 62 Prozent) und Erdöl (2009: 83,5 Prozent) groß und wird bei Erdgas voraussichtlich weiter stark wachsen (2009: 64 Prozent; 2020: ca. 73–79 Prozent; 2030: ca. 81–89 Prozent).1  Dabei ist zu berücksichtigen, dass Erdgas verstärkt als Reservebrennstoff zum Ausgleich von Schwankungen innerhalb des Stromnetzes insbesondere aufgrund der Nutzung erneuerbarer Energien eingesetzt werden wird. Um die Energieversorgungssicherheit zu erhöhen, will die EU zumindest ihre Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten durch eine stärkere Diversifizierung sowohl der Lieferquellen als auch der Lieferwege verringern. Zu diesem Zweck ist der Bau zusätzlicher Erdgaspipelines vorgesehen. So soll das „Nabucco“-Projekt die Erdgasquellen im Kaspischen Raum – unter Umgehung des Imports aus Russland und der Ukraine als Transitland – erschließen.

Und schließlich ist da noch das Thema Klimawandel. Sowohl zur Verringerung der Importabhängigkeit von fossilen Energieträgern als auch zum Schutz des Klimas strebt die Europäische Union langfristig den Übergang zu einer CO2-armen Energieversorgung an. Zu diesem Zweck beschloss der Europäische Rat im März 2007, dass die EU bis 2020 ihre Treibhausgasemissionen um mindestens 20 Prozent gegenüber 1990 reduzieren wird. Zudem sollen die Mitgliedstaaten die Energieeffizienz steigern, um bis 2020 das rechtlich unverbindliche Ziel zu erreichen, 20 Prozent des Energieverbrauchs gemessen an den Prognosen für 2020 einzusparen. Schließlich muss bis 2020 der Anteil erneuerbarer Energien verbindlich mindestens 20 Prozent am EU-Gesamtenergieverbrauch betragen.

Um diese ambitionierten Ziele erreichen zu können, hat die EU-Kommission im November 2010 ein „Konzept für ein integriertes europäisches Energienetz“ vorgelegt, in dem sie die Prioritäten für die Modernisierung der europäischen Energieinfrastruktur bis 2020 und darüber hinaus benennt und eine neue Methode für die Planung solcher Infrastrukturprojekte vorschlägt, die „von europäischem Interesse“ sind.2

Stromautobahnen und Gaskorridore

Um den Verbund und die Kompatibilität der einzelstaatlichen Energienetze sowie den Netzzugang zu fördern, arbeitet die Europäische Union bereits seit den neunziger Jahren am Auf- und Ausbau „transeuropäischer Netze“ in Sachen Energieinfrastruktur (TEN-E). Dabei sollen insbesondere eingeschlossene, am Rande gelegene und Insel-Regionen mit den zentralen Gebieten der EU verbunden werden. Zunächst beschränkte sich diese Politik auf grenzüberschreitende Projekte zum Ausbau der Strom- und Gasnetze mit dem langfristigen Ziel eines europäischen Energiebinnenmarkts. Über diesen ursprünglich rein binnenmarktbezogenen Ansatz hinaus steht der EU seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Dezember 2009 auch die Kompetenz zu, die Verbindung der Energienetze zu fördern.

Doch ist die bisherige TEN-E-Politik mit ihren rund 550 förderfähigen Vorhaben effektiv genug, eine Energieinfrastruktur aufzubauen, wie sie zur Verwirklichung der energie- und klimapolitischen Ziele der EU erforderlich wäre? Die EU-Kommission ist skeptisch und will daher das bisherige Verfahren zur Entwicklung transeuropäischer Energienetze mit seinen „unflexiblen Projektlisten“ durch eine „neue Methode der strategischen Planung“ ersetzen. Hierfür schlägt die Kommission eine mehrstufige Vorgehensweise vor: Zunächst soll eine „Energieinfrastrukturkarte“ für ein „europäisches intelligentes Supernetz“ erarbeitet werden. Maßnahmen auf europäischer Ebene zum Infrastrukturausbau sollen sich auf eine begrenzte Zahl „europäischer Infrastrukturprioritäten“ konzentrieren und müssen bis 2020 umgesetzt werden.

Zur Umsetzung dieser Prioritäten wird 2012 eine Liste mit „Projekten von europäischem Interesse“ erstellt, die alle zwei Jahre aktualisiert werden soll. Dabei will man künftig flexibler vorgehen und auf regionale Zusammenarbeit setzen, um wechselnde Marktbedingungen und die Technologieentwicklung besser berücksichtigen zu können. Und schließlich soll die Umsetzung der Projekte durch gestraffte Genehmigungsverfahren, eine bessere Informationspolitik gegenüber Entscheidungsträgern und Bürgern sowie vereinfachte Finanzierungsmöglichkeiten erleichtert werden.

Im Strombereich herrschen derzeit in der EU national fragmentierte Teilmärkte vor. Um den aus erneuerbaren Energien erzeugten Strom besser in das gesamteuropäische Stromnetz integrieren zu können, sollen sich Maßnahmen der EU für den Netzausbau bis 2020 auf bestimmte „vorrangige Korridore für das Stromnetz“ konzentrieren. Dabei sollen auch die baltischen Staaten, deren Stromnetze aufgrund ihrer früheren Einbindung in die Sowjetunion von den übrigen Staaten der EU isoliert sind, durch den Bau von Verbindungsleitungen nach Finnland, Schweden und Polen im Rahmen des „Verbundplans für den Energiemarkt im Ostseeraum“ in den Strommarkt der Europäischen Union integriert werden.

Langfristig strebt die Europäische Kommission den Bau „europäischer Stromautobahnen“ an, die im Vergleich zu den vorhandenen Hochspannungsleitungen über eine größere Kapazität hinsichtlich der übertragenen Strommenge und der Übertragungsdistanz verfügen. Und schließlich sollen die Stromnetze, insbesondere durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie, „intelligenter“ werden. Die Kommission will Anreize für zügige Investitionen in „intelligente Netze“ schaffen, um die Entstehung eines wettbewerbsfähigen Stromeinzelhandelsmarkts, eines Energiedienstleistungsmarkts mit Wahlmöglichkeiten für Energieeinsparungen und -effizienz, die Integration erneuerbarer Energien und dezentraler Energieerzeugung in das Stromnetz sowie „neue Arten“ der Stromnachfrage (z. B. Elektroautos) zu ermöglichen.

Um die Versorgungssicherheit mit Gas zu erhöhen, schlägt die Europäische Kommission den Aufbau eines möglichst lückenlosen und flexiblen EU-Erdgasverbundnetzes vor, das diversifizierte Gaslieferungen unterschiedlicher Lieferanten aufnehmen und innerhalb der Europäischen Union verteilen kann. Hierzu sind in beide Richtungen nutzbare Fernleitungen, größere Speicherkapazitäten und eine Diversifizierung der Lieferquellen – einschließlich Flüssigerdgas und komprimiertem Erdgas – notwendig. Ziel ist der Aufbau einer Infrastruktur für einen europäischen Gasbinnenmarkt, in dem Erdgas unabhängig von seiner Herkunft und von nationalen Grenzen überall gehandelt werden kann.

Der Aufbau einer solchen Infrastruktur soll sich bis 2020 auf wenige „vorrangige Korridore für das Gasnetz“ konzentrieren. Hierzu zählen der „Südliche Korridor“ zum Gasimport aus dem Kaspischen Raum, Zentralasien und dem Mittleren Osten sowie die Verbindung von Ostsee, Schwarzem Meer, Adria und Ägäis durch die Umsetzung des „Verbundplans für den Energiemarkt im Ostseeraum“ und den „Nord-Süd-Korridor“ in Mittelosteuropa und Südosteuropa. Der „Nord-Süd-Korridor“ in Westeuropa soll interne Engpässe für den Gastransport beseitigen und externe Lieferungen u. a. aus Afrika ermöglichen.

Fristen und Kosten

Ein wesentliches Hindernis für den Ausbau der europäischen Energieinfrastruktur stellen überlange Genehmigungsverfahren mit unsicherem Ausgang dar. Oft liegen zwischen Planungsbeginn und endgültiger Inbetriebnahme einer Anlage über zehn Jahre. Ist meist schon die Verwirklichung eines rein nationalen Vorhabens schwierig, rufen grenzübergreifende Projekte bei der betroffenen Bevölkerung zusätzlichen Widerstand hervor, da sie häufig als bloße Transitleitungen ohne lokalen Nutzen angesehen werden.

Vor diesem Hintergrund sollen die nationalen Genehmigungsverfahren für Projekte von europäischem Interesse gestrafft und besser koordiniert werden. Nach den vorläufigen Vorstellungen der Europäischen Kommission soll in den Mitgliedstaaten eine Behörde als „One-Stop-Shop“ das Genehmigungsverfahren zwischen Projektentwicklern und nationalen, regionalen und lokalen Behörden koordinieren, wobei die Mitgliedstaaten für die Zuweisung der Entscheidungsbefugnisse zuständig bleiben. Für grenzüberschreitende Projekte erwägt die Kommission koordinierte oder gemeinsame Verfahren. Genehmigungsverfahren sollen in einer Frist von maximal fünf Jahren abgeschlossen werden.

Eine derartige Straffung von Genehmigungsverfahren für Infrastrukturprojekte von europäischem Interesse könnte mit den Beteiligungsrechten von Betroffenen kollidieren, wie sie auch europarechtlich – basierend insbesondere auf dem internationalen Århus-Übereinkommen3 – verankert sind. Deshalb will Brüssel die betroffene Bevölkerung frühzeitig und effektiv in die Entscheidungsprozesse einbeziehen sowie das Widerspruchsrecht gegen Behördenentscheidungen stärken. Zudem erwägt man finanzielle Anreize für Regionen oder Mitgliedstaaten, die die zügige Genehmigung von Projekten von europäischem Interesse erleichtern. Momentan untersucht und vergleicht die Europäische Kommission detailliert die verschiedenen Genehmigungsverfahren der Mitgliedstaaten, um im Verlauf des Jahres 2011 einen Legislativvorschlag zu den Genehmigungsverfahren vorzulegen.

Die Europäische Kommission schätzt den Investitionsbedarf für das gesamte EU-Energiesystem (inkl. Netzausbau, Förderung erneuerbarer Energien und Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz) bis 2020 auf rund eine Billion Euro.4 Hiervon entfallen allein 500 Milliarden auf die Netze selbst (Energietransportnetze, Strom- und Gasspeicherung, „intelligente Netze“), wovon wiederum 200 Milliarden nur für den Bau neuer Energietransportnetze erforderlich sind. Nur die Hälfte dieser 200 Milliarden könnten nach Auffassung der Kommission vom Markt aufgebracht werden, während die restlichen 100 Milliarden als Finanzierungslücke verblieben. Selbst wenn die vorgeschlagenen Planungsmethoden und neuen Umsetzungsinstrumente zur Anwendung kommen sollten, bliebe nach Schätzungen der Kommission 2020 immer noch eine „Investitionslücke“ von 60 Milliarden Euro, so dass private Gelder mobilisiert werden müssten.

Die EU-Mitgliedstaaten haben auf dem Energiegipfel des Europäischen Rates am 4. Februar 2011 deutlich gemacht, dass ein Großteil der nötigen Finanzmittel durch private Investoren bereitgestellt werden soll. Allenfalls für „einige Projekte, die aus Gründen der Versorgungssicherheit bzw. der Solidarität gerechtfertigt sind, aber keine ausreichende Finanzierung über den Markt erhalten“, könne „in beschränktem Ausmaß eine Finanzierung aus öffentlichen Mitteln erforderlich sein“.5 Dies könnte bei der Anbindung der baltischen Staaten an das europäische Stromnetz der Fall sein. In diesem Zusammenhang betont die Kommission, dass die Strom- und Gasinfrastrukturen auch zukünftig „überwiegend“ über regulierte Tarife von den Verbrauchern finanziert werden sollen. Allerdings berücksichtige die Tarifsetzung der nationalen Regulierungsbehörden laut Kommission zu wenig EU-weite Prioritäten. Daher will sie noch in diesem Jahr Leitlinien oder einen Legislativvorschlag für die Kostenzuweisung bei großen oder grenzüberschreitenden Projekten vorlegen. So soll die Refinanzierung von Infrastrukturprojekten durch regulierte Tarife verbessert werden.

Risiken und Nebenwirkungen

Bleibt das Problem des Investitionsrisikos. Bei Infrastrukturprojekten stehen hohen Investitionskosten typischerweise unsichere laufende Einnahmen gegenüber, die über einen langen Zeitraum, mehrere Jahrzehnte, verteilt sind. Dieses Risiko kann grundsätzlich durch Anleiheversicherer abgefedert werden. Allerdings ist deren Geschäftsmodell nach Auffassung der Kommission mit Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise zum Erliegen gekommen.

Um privaten Investoren dennoch die Möglichkeit zu bieten, einen Teil des Risikos zu übertragen, regt die Kommission Garantien durch die Europäische Investitionsbank (EIB) an. Im Rahmen einer öffentlichen Konsultation hat die Kommission dargelegt, wie sie durch „projektbezogene Anleihen“ das Investitionsrisiko für private Investoren mindern möchte.6 Eine Projektgesellschaft, die ein Infrastrukturprojekt finanziert und umsetzt, begibt nach diesem Modell eine projektbezogene Anleihe zur Finanzierung eines bestimmten Infrastrukturvorhabens am Kapitalmarkt. Die EIB gewährt für die gesamte Laufzeit der Anleihe gegen Zahlung einer Risikoprämie eine Garantie in Höhe von maximal 20 Prozent der Investitionssumme. Diese Garantie soll so ausgestaltet sein, dass die Anleihe mit „investment grade“ eingestuft wird, „im Idealfall A oder höher“. Anstelle einer solchen Garantie kann die EIB der Projektgesellschaft auch einen Kredit in Höhe von maximal 20 Prozent der Investitionssumme gewähren.

Der Ansatz, den Infrastrukturausbau vorrangig aus Privatmitteln zu bestreiten und über Nutzungsgebühren zu refinanzieren, vermindert Anreize für zu teure, falsch ausgelegte oder nicht benötigte Projekte und vergrößert die Chance, dass sie eher nach wirtschaftlichen als nach politischen Kriterien geplant und umgesetzt werden. Die Kosten für den Ausbau sollten allein von den Nutzern getragen werden, die durch höhere Versorgungssicherheit oder geringere Energiepreise profitieren. Hierfür sind die Entwicklung eines adäquaten Schlüssels sowie gemeinsamer Grundsätze der Mitgliedstaaten für die Kostenzuweisung, insbesondere für grenzüberschreitende Infrastrukturprojekte, eine entscheidende Voraussetzung.

Und wie steht es mit öffentlichen Garantien oder Krediten für die Finanzierung von Infrastrukturprojekten? Infolge der Verschuldungskrise vieler Mitgliedstaaten ist zum einen die (relative) Attraktivität der Projektgesellschaften für Investoren gestiegen, da auch bei etlichen Staatsanleihen ein Zahlungsausfall nicht mehr auszuschließen ist. Zum anderen verteilen Investoren in der Regel schon aus Eigeninteresse ihr Risiko auf verschiedene Infrastrukturprojekte und versichern sich somit selbst gegen mögliche Zahlungsausfälle. Beides spricht tendenziell gegen die Notwendigkeit von Garantien durch die EIB. Allerdings können Mindestbedingungen von Versicherungen und Pensionsfonds an das Rating eines einzelnen Investitionsprojekts, die ihnen teilweise sogar gesetzlich vorgeschrieben sind, verhindern, dass sie projektbezogene Anleihen mit einem schlechteren Rating als „A“ zeichnen. Öffentliche Garantien (oder Kredite) können in diesen Fällen über eine Verbesserung des Ratings auf „Investmentgrade-Status“ dazu führen, dass diese Investoren projektbezogene Anleihen zeichnen, und fördern somit eine Beteiligung privater Investoren. Dies ist einer öffentlichen Finanzierung grundsätzlich vorzuziehen.

Eine Finanzierung aus Steuergeldern schließlich sollte nach Auffassung von Kommission und Mitgliedstaaten nur in eng begrenzten Ausnahmefällen erwogen werden. Dies betrifft Infrastrukturvorhaben, die sich über Nutzungsentgelte nicht finanzieren lassen, die aber zur Verwirklichung eines vernetzten Energiebinnenmarkts sowie der Energieversorgungssicherheit erforderlich sind. Wenn die Kommission ihre Vorstellungen zur Finanzierung des Infrastrukturausbaus konkretisiert, muss sie sicherstellen, dass dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis bei der Finanzierung von Infrastrukturprojekten gewahrt bleibt.

Ein erheblicher Anteil der Investitionen in die Energieinfrastruktur ist infolge des Ausbaus der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien notwendig. Um den Kostenvergleich zwischen verschiedenen Erzeugungstechnologien nicht zu verzerren, müssen die hierdurch entstehenden Kosten letztlich den jeweiligen Technologien angelastet werden. Nur so lassen sich auch ökonomisch ehrlich die verschiedenen Optionen des Ausbaus erneuerbarer Energien miteinander vergleichen. Beispielsweise erfordert ein forcierter Ausbau der erneuerbaren Energien dort, wo die Energieausbeute am höchsten ist – Windenergie an den nordeuropäischen Küsten oder Solarenergie in Südeuropa und Nordafrika – andere Infrastrukturprojekte mit anderen Kosten als ein dezentralerer Ausbau mit geringeren Energieerträgen, aber auch eventuell geringeren Infrastrukturkosten. Ohne einen ehrlichen Kostenvergleich ist eine vernünftige europäische Energiestrategie nicht möglich.

Die Energieinfrastruktur in der Europäischen Union soll der Schaffung eines Energiebinnenmarkts dienen, zur Energieversorgungssicherheit durch Diversifizierung von Importquellen und Lieferrouten beitragen und den Übergang zu einem CO2-armen, dekarbonisierten Energiesystem ermöglichen. Zu Recht wählt die Europäische Kommission mit ihren jüngsten Vorschlägen für eine mehrstufige Planungsmethode für Infrastrukturprojekte einen mutigen europäischen Ansatz mit klarer Prioritätensetzung. Dennoch bleiben Zweifel. Allzu ambitioniert erscheint insbesondere der Zeitplan, der eine Verwirklichung der Infrastrukturprojekte von europäischem Interesse bereits innerhalb des kommenden Jahrzehnts bis 2020 anstrebt. Die weiterhin offenen Fragen in Bezug auf die Neugestaltung der Genehmigungsverfahren und die Finanzierung von Infrastrukturvorhaben verdeutlichen die Dimension der Herausforderung.

Dr. GÖTZ REICHERT und Dr. JAN S. VOSSWINKEL sind wissenschaftliche Referenten am Centrum für Europäische Politik (CEP) in Freiburg.

  • 1Eurostat: Haupttabelle „Energie“, Daten zur Energieabhängigkeit (Code: tsdcc310; aktualisiert am 20.5.2011).
  • 2Europäische Kommission: Energieinfrastrukturprioritäten bis 2020 und danach – ein Konzept für ein integriertes europäisches Energienetz, Mitteilung KOM (2010) 677 vom 17.11.2010.
  • 3UN/ECE-Übereinkommen vom 25.6.1998 über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten („Århus-Übereinkommen“), Text in: International Legal Materials 38 (1999), S. 517 ff.
  • 4Europäische Kommission: Energieinfrastrukturprioritäten bis 2020 und danach (Anm. 2).
  • 5Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, 4.2.2011, EUCO 2/1/11, REV 1, Rn. 6.
  • 6Europäische Kommission: The Europe 2020 Project Bond Initiative, Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen vom 28.2.2011.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2011, S. 10-17

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