Drohnen, die sich lohnen
Die türkische Rüstungsindustrie wächst rasant. Vor allem Selçuk Bayraktar und seine weltweit erfolgreichen TB2-Drohnen stehen für eine technologiegetriebene, eigenständige Nation. Wird er der nächste Präsident des Landes?
In der Türkei gibt es einen ungewöhnlichen Wettbewerb, der jedes Jahr öffentlich ausgetragen wird: Welche Privatperson hat die meisten Steuern gezahlt? Im Jahr 2023 gewann Selçuk Bayraktar diesen Wettbewerb, Vorstandsvorsitzender des Rüstungsunternehmens Baykar – er zahlte genau 1 952 680 474 Lira und 13 Kurus an Einkommensteuern. In dem Zeitraum waren das umgerechnet mehr als 55 Millionen Euro. Auf dem zweiten Platz folgte sein Bruder Haluk Bayraktar, der als Geschäftsführer bei Baykar arbeitet und umgerechnet rund 45 Millionen Euro seines Einkommens an den Staat zahlte. Die beiden Brüder halten diesen Rekord seit inzwischen drei Jahren.
Die zu Jahresbeginn veröffentlichte Liste wird in der türkischen Öffentlichkeit keineswegs mit Neid und Missgunst gegenüber den Spitzen- verdienern betrachtet – sie gilt vielmehr als Ausdruck von praktizierter Staatstreue. Das Unternehmen Baykar veröffentlichte zu dem Anlass eine Pressemitteilung und bezeichnete den Vorstandschef als „Rekordhalter“.
Die andere Botschaft dahinter: Die Baykar-Brüder sind nicht nur ausgewiesene Patrioten. Ihre Geschäftsidee ist auch noch so erfolgreich, dass sie damit Milliardenumsätze erwirtschaften. Das Hauptprodukt des Familienunternehmens: hoch effiziente Kampfdrohnen, die inzwischen in fast allen Teilen der Welt gekauft und genutzt werden. In der Pressemitteilung meldet das Unternehmen stolz: „90 Prozent des letztjährigen Umsatzes von Baykar, dem führenden Exporteur der Verteidigungs-, Luft- und Raumfahrtindustrie, wurden aus Exporterlösen erzielt.“ Seit ihrem ersten „Rekord“ in der Steuerliste im Jahr 2021 haben sich die Abgaben der beiden Brüder an den Staat verzwölffacht.
Profiteur der militärischen Revolution
In einem gesellschaftlich gespaltenen Land wie der Türkei ist der Nationalismus die größte Kraft, die die Menschen zusammenhält – und Selçuk Bayraktar ist das Gesicht des neuen türkischen Nationalismus. Er arbeitet an der Verteidigung des Landes, er begeistert Millionen junge Menschen für Technologie, er ist mit einer Tochter des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan verheiratet und zahlt brav seine Steuern. Immer mehr Menschen im Land trauen ihm sogar zu, der nächste Präsident des Landes zu werden.
Dass Selçuk Bayraktar mit seinem Rüstungsunternehmen so erfolgreich werden konnte, hängt auch mit der geografischen Umgebung der Türkei zusammen, die gemeinhin als Pulverfass bezeichnet wird: Im Norden tobt der Ukraine-Krieg, im Süden der syrische Bürgerkrieg, im Osten bekriegten sich zuletzt Aserbaidschan und Armenien, und mit dem NATO-Partner Griechenland liefert sich die Türkei ein Wettrüsten um die Hoheit über Seegrenzen, Erdgasvorkommen und Einflusssphären im östlichen Mittelmeer. Nach einem Putschversuch im Jahr 2016 erklärte Erdoğan: „Wir werden nun nicht mehr warten, bis wir selbst bis zum Hals im Morast stecken. Sondern wir werden die Probleme an unseren Grenzen bekämpfen, bevor sie in unser Land kommen.“
In der Türkei ist der Nationalismus die größte Kraft, die die Menschen zusammenhält – und Selçuk Bayraktar ist das Gesicht dieses neuen Nationalismus
Dies war die Geburtsstunde für eine militärische Revolution im Land – und eine große Gelegenheit für alle türkischen Firmen, die Waffen produzieren. Die Rüstungsbranche in der Türkei verzeichnete in den vergangenen Jahren Rekordumsätze und eine steigende internationale Nachfrage. Der Wert der türkischen Waffenexporte lag 2023 bei rund 4,4 Milliarden US-Dollar – eine Verdreifachung gegenüber dem Niveau von vor zehn Jahren. Allein 2022 konnte die Türkei Rüstungsgüter in mehr als 30 Staaten exportieren, darunter Länder wie Katar, die Ukraine und Aserbaidschan. Im Vergleich zu den USA – die 2022 allein 39 Prozent des weltweiten Waffenexports abdeckten – ist die Türkei mit ihrem Marktanteil von etwa 1 Prozent noch klein, zeigt jedoch das Potenzial für weiteres Wachstum.
Der Mann, mit dessen Namen der Aufschwung der türkischen Rüstungsindustrie so eng verbunden ist, wurde 1979 in Istanbul als Spross einer Unternehmerfamilie geboren. Selçuks Vater Özdemir Bayraktar gründete die Firma Baykar, die sich zunächst auf die Automobilindustrie konzentrierte. Nach einem Studium der Elektrotechnik an der Istanbuler Boğaziçi-Universität verschlug es Bayraktar in die USA, wo er seinen Master am renommierten Massachusetts Institute of Technology und später an der University of Pennsylvania absolvierte.
Bereits in dieser Zeit war er von Drohnentechnologie fasziniert – der Titel seiner Abschlussarbeit lautete: „Aggressive Landemanöver von Drohnen“. Die damaligen Drohnenprogramme, vor allem in den USA und Israel, inspirierten ihn dazu, ein eigenes Konzept für die Türkei zu entwickeln. Mit dem theoretischen Wissen und der Begeisterung für innovative Technologien kehrte er schließlich zurück und begann, das Familienunternehmen Baykar neu auszurichten.
Selçuk Bayraktars Durchbruch kam mit der Bayraktar TB2. Unter seiner Leitung wurde Baykar zu einem Vorreiter in der Drohnentechnologie: Die TB2 gilt heute als eines der Flaggschiffe der türkischen Verteidigung. Seit 2016 hat das Unternehmen seine Produktion von Drohnen wie der TB2 erheblich ausgeweitet. Die TB2 wird inzwischen in über 30 Ländern eingesetzt und gilt als eines der weltweit gefragtesten Drohnenmodelle für militärische Operationen. Die Türkei reiht sich damit in die Riege der weltweit führenden Drohnenexporteure ein, zu denen auch die USA, China und Israel gehören.
Die TB2-Drohnen von Baykar zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie hohe Effektivität zu vergleichsweise niedrigen Kosten bieten. Laut Schätzungen liegen die Produktionskosten einer TB2 bei etwa einer Million US-Dollar pro Stück – im Vergleich dazu kostet eine amerikanische MQ-9 Reaper-Drohne rund 16 Millionen Dollar. Damit bietet die Türkei ein relativ kostengünstiges, dennoch hocheffektives Produkt an, das insbesondere für Länder mit begrenztem Verteidigungsbudget attraktiv ist. Selbst die NATO-Partner Polen und das Vereinigte Königreich interessieren sich für die Drohnen.
Der Erfolg des TB2-Programms hat auch eine politische Dimension: Die Türkei ist inzwischen einer der wenigen Staaten, die autarke Drohnenprogramme entwickelt haben, was Bayraktar zu einem Gesicht der türkischen Unabhängigkeit in Rüstungsfragen machte.
Weltweite Anerkennung
Einen enormen Aufschwung erfuhr Bayraktars Bekanntheit im Zuge der Konflikte in Syrien, Libyen und Aserbaidschan. Die TB2-Drohnen spielten in allen drei Auseinandersetzungen eine entscheidende Rolle, was ihre Effektivität in asymmetrischen Konflikten unterstrich– und Selçuk Bayraktar als Schlüsselfigur ins Rampenlicht rückte.
In Syrien konnte die Türkei ihre Drohnentechnologie gezielt einsetzen, um die eigene Grenzsicherheit zu verteidigen. Auch in Libyen sorgten türkische Drohnen dafür, dass die international anerkannte Regierung entscheidende Erfolge erzielen konnte. Besonders groß war die öffentliche Anerkennung aus Aserbaidschan. Baku lobte Bayraktars Drohnen als strategisch entscheidend in der Schlacht um Berg-Karabach; Ali Alizada, der aserbaidschanische Botschafter in der Türkei, fand im Nachgang des Konflikts ausschließlich lobende Worte: „Bayraktar hat den Mut gehabt, eine Technologie zu entwickeln, die uns geholfen hat, unser Territorium zurückzugewinnen. Das werden wir nicht vergessen.“ Nach der Schlacht wurde Bayraktar vom Präsidenten des Landes, Ilham Alijew, persönlich empfangen.
Die Sorge, dass Bayraktars Drohnen in die falschen Hände geraten könnten, hat sich mit den jüngsten TB2-Exporten verstärkt
Im Ukraine-Krieg sah die Türkei eine weitere Chance, ihre strategische Unabhängigkeit zu unterstreichen, indem sie der Ukraine Drohnen lieferte. Die TB2-Drohnen verschafften der ukrainischen Armee erhebliche Vorteile im Kampf gegen russische Einheiten und festigten damit auch den Ruf der Türkei als globaler Drohnenlieferant. Eines der ersten Videos von den Schlachtfeldern in der Ukraine war die Luftaufnahme einer türkischen Drohne der Firma Baykar, die drei russische Soldaten tötete. Der russische Regierungssprecher Dmitri Peskow sah sich daraufhin gezwungen, öffentlich vor dem Einsatz solcher Kampfdrohnen zu warnen. Für die Bayraktar-Brüder muss sich das wie ein Ritterschlag angefühlt haben.
Strategische Ziele in Afrika
Ein weniger beachtetes, aber strategisch wichtiges Interesse der türkischen Außenpolitik gilt dem afrikanischen Kontinent. In den vergangenen Jahren hat die Türkei ihre diplomatischen und sicherheitspolitischen Beziehungen zu afrikanischen Staaten intensiviert. Der Export von Drohnen und anderen Militärtechnologien dient dabei nicht nur kommerziellen, sondern auch geopolitischen Zielen: „Afrika ist für uns nicht nur ein Absatzmarkt, sondern ein sicherheitspolitisches und strategisches Interesse“, betonte ein hochrangiger türkischer Diplomat, der anonym bleiben wollte, gegenüber türkischen Medien.
In Ländern wie Somalia und Libyen, in denen die Türkei bereits militärische Stützpunkte unterhält, hat Ankara seine Bereitschaft deutlich gemacht, langfristig vor Ort präsent zu bleiben. In 15 Ländern des Kontinents werden inzwischen türkische Drohnen eingesetzt. In 19 afrikanische Staaten hat die türkische Regierung Militärattachés entsandt.
Die Sorge, dass Bayraktars Drohnen in die falschen Hände geraten könnten, ist mit den jüngsten Exporten der TB2 gewachsen. Doch Bayraktar bleibt dabei: Seine Technologie sei eine Antwort auf geopolitische Herausforderungen und ein Beitrag zur Verteidigung der Türkei und ihrer Verbündeten. Bayraktars Worte in einem Interview mit einer türkischen Wirtschaftszeitung verdeutlichen seine Haltung: „Wir entwickeln Technologie, um Frieden zu sichern. Unsere Drohnen sollen für Stabilität sorgen, nicht für Chaos.“
Erfolgreich, aber kontrovers
So oder so: Bayraktars Drohnen haben maßgeblich dazu beigetragen, die Türkei auf der militärischen Weltbühne neu zu positionieren. Das steigert die wirtschaftliche Unabhängigkeit Ankaras und reduziert seine Abhängigkeit von westlichen Waffensystemen. Doch genau diese militärische Unabhängigkeit kann das Risiko erhöhen, dass Ankara eigenständige Entscheidungen trifft, die Spannungen innerhalb der NATO verstärken und die Zusammenarbeit im Bündnis erschweren.
In der NATO wird die Rolle Bayraktars daher kontrovers diskutiert. Während einige NATO-Partner, wie Polen, die TB2-Drohnen inzwischen offiziell erworben haben, betrachten andere sie mit Sorge. Ein hoher europäischer Diplomat, der anonym bleiben wollte, äußerte in einem Interview, dass „die Türkei durch Bayraktars Erfolge in eine militärstrategische Position rückt, die das Gleichgewicht in der Region destabilisieren könnte“. Ankara würde sich so in eine unabhängige Lage bringen, was westliche Abhängigkeiten infrage stellen könnte.
Für viele Fachleute im Westen gilt Bayraktar als eine Art „Game Changer“ in der militärischen Droh- nentechnologie
Für viele Fachleute im Westen gilt Bayraktar jedoch auch als eine Art „Game Changer“ in der militärischen Drohnentechnologie. „Bayraktars Drohnen haben das Potenzial, das Gesicht moderner Kriegsführung zu verändern“, bemerkte etwa Michael Kofman, ein Analyst für russische Sicherheitsfragen. Er verwies auf die Effizienz der TB2-Drohne und betonte, dass die Technologie einen Wendepunkt für kleinere und mittlere Streitkräfte darstelle, die sonst nicht über die Mittel für teure westliche oder israelische Drohnen verfügen. Die „kostengünstige, aber hochpräzise Technologie“ mache es Ländern möglich, „mit geringerem Budget und mehr Unabhängigkeit zu operieren“.
Heute Innovator, morgen Staatsmann?
Neben seiner technischen Expertise ist Bayraktar auch durch seine Ehe mit Sümeyye Erdoğan, der jüngsten Tochter von Präsident Erdoğan, medial präsent. Diese Verbindung hat in der Öffentlichkeit zu Diskussionen über seinen Einfluss und seine politische Nähe zur Regierung geführt. Kritiker sehen Bayraktar als jemanden, der sich durch familiäre Verbindungen in eine privilegierte Position gebracht hat, während seine Anhänger ihn als Beispiel für technologisches Talent und Innovationsgeist feiern.
Doch Bayraktar selbst bleibt oft erstaunlich zurückhaltend, wenn es um sein Familienleben und die öffentliche Diskussion um seine Person geht. Für ihn steht die „technologische Unabhängigkeit“ der Türkei im Zentrum seines Schaffens; immer wieder betont er die Bedeutung nationaler Innovation.
Bayraktar hat jedoch nicht nur als Drohnenentwickler für Aufsehen gesorgt, sondern auch als Initiator des TEKNOFEST, dem größten Luft-, Raumfahrt- und Technologie-Festival der Türkei. Das jährliche Event, das von der Turkish Technology Team Foundation organisiert wird, zieht Millionen von jungen Menschen aus dem ganzen Land an. „Wir brauchen eine technologische Revolution in unserem Land“, erklärte Bayraktar beim jüngsten Festival. „Wir wollen nicht nur Technologie nutzen, sondern sie entwickeln.“
Das TEKNOFEST hat sich in den vergangenen Jahren zu einem nationalen Symbol entwickelt. Es bietet Jugendlichen die Möglichkeit, sich in Disziplinen wie Robotik, Künstliche Intelligenz und Raumfahrt auszuprobieren und in Technologiewettbewerben anzutreten. Im Jahr 2023 besuchten über 2,5 Millionen Menschen das Festival, das in Istanbul und anderen türkischen Städten stattfindet.
Besonders für die junge Bevölkerung der Türkei, die eine hohe Arbeitslosigkeit und beschränkte Möglichkeiten erlebt, bietet das TEKNOFEST Inspiration und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Bayraktar sieht darin eine Möglichkeit, den Nationalstolz zu stärken und die Talente des Landes zu fördern, die für die künftige Unabhängigkeit in der Technologiebranche entscheidend sind.
Die Spekulationen, dass Bayraktar eines Tages seinem Schwiegervater Erdoğan nachfolgen könnte, werden immer wieder in den Medien diskutiert. Bayraktar selbst gibt sich zu diesen Gerüchten zurückhaltend und erklärt, dass sein Fokus auf der Entwicklung neuer Technologien liege. Dennoch ist er eine bedeutende Figur in der neuen, technologieorientierten Türkei, die ihre Unabhängigkeit betont und mit Stolz auf ihre technologischen Errungenschaften verweist.
Angesichts seiner Popularität in der türkischen Bevölkerung, die durch das TEKNOFEST und die internationalen Erfolge der TB2-Drohnen noch verstärkt wird, wäre es also nicht verwunderlich, wenn sich Selçuk Bayraktar künftig auch in der Politik engagieren würde.
Internationale Politik Special 1, Januar/Februar 2025, S. 42-47
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