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01. Jan. 2016

Diplomatie mit neuen Mitteln

Chinas „Neue Seidenstraße“ sollte strategische Priorität der EU sein

Das Megaprojekt „One Belt, One Road“ dient nicht nur der Absicherung Chinas wirtschaftlicher Zukunft, sondern ist Pekings ernstzunehmender Versuch einer neuen Diplomatie. Die EU sollte ihre Zuschauerrolle aufgeben und beginnen, das Projekt aktiv mitzugestalten. Es wäre in ihrem strategischen Interesse.

1 Während eines Staatsbesuchs in As­tana im September 2013 warb der chinesische Präsident Xi Jinping erstmals für seine ambitionierte „One Belt, One Road“-Initiative. Das Konzept der „Neuen Seidenstraße“, das die Vernetzung zwischen China, dem übrigen Asien und Europa verbessern soll, ist international auf großes Interesse gestoßen. Allerdings lässt die Europäische Union bis heute eine offizielle Reaktion vermissen.

Die „Neue Seidenstraße“ soll sowohl als Landweg von China über Zentralasien und die Türkei nach Europa als auch als Seeweg via Indischem Ozean und Afrika entstehen, mit dem Ziel, die Transportinfrastruktur zu verbessern, wirtschaftliche Entwicklung zu fördern und das Handelsvolumen sowie die Mobilität von Privatpersonen zu erhöhen. Das gigantische Projekt werde „den Geist des Friedens, von Offenheit, Inklusivität, wechselseitige Lernprozesse und Win-win-Kooperation“ fördern, erklärte kürzlich Chinas Staatsrat für außenpolitische Fragen, Yang Jiechi. Die Wiederbelebung der mittelalterlichen Seidenstraße würde „einen enormen Fortschritt für die sich wechselseitig begünstigende Zusammenarbeit zwischen Asien, Europa und Afrika“2 bedeuten.

Die Initiative hat eine lebendige und teils kontroverse Debatte ausgelöst. Einige Beobachter wie Patrick Ho, Generalsekretär des in Hongkong ansässigen China Energy Fund Committee, begrüßen sie als neues diplomatisches Projekt, das „weder nach neuen Einflusssphären noch nach einer generellen Hegemonie strebt“.2 Vor allem innerhalb europäischer Think Tanks wird die Initiative da­gegen als Fortsetzung von Chinas Streben nach Einfluss in Asien auf Kosten der USA gewertet. Hans Kundnani legt nahe, dass Chinas „aggressives Auftreten in den vergangenen Jahren Ängste unter seinen Nachbarn geschürt hat, die daraufhin verstärkt im Bereich der Sicherheit kooperiert haben – sowohl untereinander als auch mit den USA.“ In Reaktion darauf habe sich Peking von militärischen Maßnahmen verabschiedet und sei zum Gebrauch ökonomischer Instrumente übergegangen, um seine Ziele in der Region zu erreichen.3

Die Einrichtung der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB), die als finanzielle Grundlage der Seidenstraßen-Initiative dient, war der erste Testlauf. Trotz des offenen Widerstands der USA und des bescheidenen Starts im Oktober 2014 mit nur 22 Nationen erhöhte sich die Zahl der Mitglieder bis Juni 2015 auf 57 Gründungsmitglieder und schließt heute sowohl die Hälfte der EU-Staaten als auch Südkorea ein. Dieser überraschende Erfolg der AIIB dürfte ein Weckruf für diejenigen gewesen sein, die die Initiative zuvor weitgehend ­ignoriert haben.

Ankurbeln kränkelnder Ökonomien

„One Belt, One Road“ ist für China weit mehr als eine Romantisierung seines historischen Erbes. Es geht um bedeutende strategische, ökonomische und geopolitische Kalküle. Die Phase des zweistelligen Wirtschaftswachstums in China ist vorbei. Die starke Konjunktur des Landes war Grundlage für seinen beispiellosen Aufstieg von einem armutsgeplagten Land zur zweitgrößten Wirtschaft der Welt in nur einer Generation. Aufgrund interner und externer Faktoren gilt es als unwahrscheinlich, dass die chinesische Wirtschaft 2015 um die von der chinesischen Regierung veranschlagten 7 Prozent des BIP gewachsen ist. Ein weiterer Rückgang scheint unvermeidbar. Angesichts der Überproduktion der chinesischen Industrie, der unwirtschaftlichen Staatsunternehmen, eines leistungsschwachen Finanzsystems, der Immobilienblase, hoher Grundstückspreise und des immer größer werdenden umweltpolitischen Drucks muss China dringend neue Motoren für seine Wirtschaft finden.

Der Fokus der „One Belt, One ­Road“-Initiative auf Infrastrukturmaßnahmen knüpft an die Überkapazitäten chinesischer Staatsunternehmen an. Interessant ist hierbei, dass der Plan, die neuen Märkte entlang der „Neuen Seidenstraße“ zu nutzen, um die chinesische Überproduktion abzubauen, in scharfem Gegensatz zur Spar- und Haushaltskonsolidierungspolitik im Westen steht. Da die Nachfrage für infrastrukturelle Entwicklung in Zentralasien viel zu hoch ist, um von einem einzelnen Land – selbst von einem ökonomischen Schwergewicht wie China – allein gedeckt zu werden, hat sich die chinesische Führung entschieden, eine internationale Kooperation von historischem Ausmaß aufzubauen.

Es zeichnen sich bereits verschiedene Investitionsmöglichkeiten ab: Die Öffnung des Iran sowie die ­Entstehung neuer ökonomischer Knotenpunkte wie Äthiopien oder Mosambik wird voraussichtlich die Infrastruktur im Energiebereich vor­anbringen. Wachsendes Outsourcing nach Afrika zum Beispiel in der Textil- oder Leichtindustrie wird den Bedarf an Containerzentren und Tiefseehäfen an der Küste des Indischen Ozeans erhöhen. Außerdem werden neu eingerichtete Freihandelszonen entlang des verlängerten Suez-Kanals die Baustoffindustrie in Ägypten vor allem für die schnell wachsenden Städte fördern. Und das dicht bevölkerte und energiehungrige Pakistan, in dem China Atomkraftwerke baut, wird massive Investitionen in der Stromversorgung, der energieintensiven ­Zement- und Glasindustrie und der Verkehrsinfrastruktur erleben.

Die Gründung der AIIB ist der erste Schritt dieses hochkarätigen Projekts. Sie soll die Asiatische Entwicklungsbank ergänzen und ist ein strategischer Schritt Pekings hin zu einem neuen System der kollektiven Regionalfinanzierung. Die Bank baut auf die bewährten Praktiken der Bretton-Woods-Institutionen auf, führt allerdings ein neues Konzept ein: eine „schlanke, saubere und grüne Organisation“, wie der designierte Vorsitzende der AIIB, Jin Liqun, erklärt. Hohe Kosteneffizienz und Null Toleranz für Korruption werden als wesentliche Prinzipien der Organisation bezeichnet, ebenso wie nachhaltige Entwicklung in der Konzeptionalisierung und der Umsetzung seiner Investitionsmaßnahmen. Außerdem soll das Management sozialer und umweltbezogener Risiken zentrales Element der Infrastruktur­projekte sein.4

Den Ressourcenhunger stillen

Chinas innenpolitische Stabilität wird vor allem davon abhängen, ob die Regierung den Bürgern glaubhaft vermitteln kann, dass sie eine realistische Chance haben, vom wachsenden Wohlstand des Landes zu profitieren. Heute genießen bereits 400 Millionen Chinesen einen moderaten Vermögensstand, der auf die Entwicklung der vergangenen 30 Jahre zurückzuführen ist – ein enormer Erfolg. Allerdings liegen die Einkommen weiterer 400 Millionen Menschen nur geringfügig über der Armutsgrenze und die übrige Bevölkerung irgendwo dazwischen. Obwohl sich Chinas Wachstumsmodell langsam von seinem quantitativen Ansatz verabschiedet und qualitative Verbesserungen in den Vordergrund rücken, wird der hohe Bedarf der Wirtschaft an Energie und Ressourcen mindestens bis 2030 oder gar länger anhalten.

Eine langfristige, sichere und effiziente Energieversorgung wird daher eine der Voraussetzungen für Chinas wirtschaftliche und gesellschaft­liche Stabilität sein. Infolge dieser Erkenntnis hat sich Chinas Außen- und Sicherheitspolitik von einer defensiven Sicherung nationaler Souveränität zu einem aktiveren Engagement in strategischen Bereichen gewandelt, bei dem der Zugang zu natürlichen Ressourcen und Energie als oberste Priorität angesehen wird. In diesem Sinne kann die „One Belt, One Road“- Initiative vor allem als Strategie zur Wahrung nationaler Interessen gesehen werden.

Wenn man sich die geografische Ausdehnung der „Neuen Seidenstraße“ vor Augen hält, hat die Landroute offensichtlich die Aufgabe, Chinas Weg zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen seiner westlichen Nachbarn zu ebnen – insbesondere Gas, Öl, Wasser und seltene Erden. Neue Gaspipelines und innovative Stromnetze aus Russland und Zentralasien sollen auch die wirtschaftliche Entwicklung der westlichen Regionen Chinas vorantreiben, die – anders als die östlichen Küstenprovinzen – bisher wenig vom ökonomischen Fortschritt des Landes profitiert haben. Gleichzeitig werden bessere Straßen- und Eisenbahnnetze in den Korridorstaaten dort das Entstehen neuer Märkte fördern.

Die maritime Seidenstraße, die China mit Afrika, dem Mittleren Osten, dem Iran und dem Nahen und Mittleren Osten verbindet, wird neue Tiefseehäfen und Knotenpunkte in Südasien, Ostafrika und der Arabischen Halbinsel schaffen. So wird der effiziente Transport von Erdöl und anderen strategischen Ressourcen nach China gewährleistet. Weiterhin wird der Seeweg chinesische Exporte in die Märkte von Südostasien über Indien bis Afrika ankurbeln. Außerdem wird die chinesische Schifffahrt nicht mehr ausschließlich von der Route durch die Straße von Malakka abhängig sein, die unter starkem Einfluss der US-Marine steht und immer wieder durch Terroristen bedroht wird.

Aufbau von Soft Power

Um nicht verdächtigt zu werden, nur seine eigenen nationalen Interessen zu verfolgen, preist China „One Belt, One Road“ als gemeinsames Projekt aller beteiligten Staaten und Organisationen an. Die Zielvorgaben der Zusammenarbeit umfassen die politische Koordinierung und Vernetzung, den ungehinderten Handel, finanzielle Integration sowie den Aufbau direkter Verbindungen zwischen den Völkern. Von den Staaten entlang der „Neuen Seidenstraße“ wird erwartet, ihre Entwicklungsstrategien miteinander abzustimmen, gemeinsame Pläne für die regionale Kooperation auszuarbeiten und zusammen die Implementierung der Großprojekte politisch zu unterstützen.

Gleichwohl wird die praktische Umsetzung der hochtrabenden Pläne eine zentrale Herausforderung. Dafür werden nicht nur Billionen an finanziellen Mitteln notwendig sein, sondern auch eine innovative Unternehmenskultur und eine neue Form kooperativer Diplomatie, die Chinas Nachbarn glaubhaft versichert, dass sie tatsächlich so stark von der Initiative profitieren werden, wie Peking es verspricht. Dies war die Hauptbotschaft von Präsident Xi beim Boao-Forum im März 2015, als er die Offenheit und Inklusivität der Initiative unterstrich. Peking strebe ein Konzert der Nationen an, kein chinesisches Solo. Mit „Belt and Road“ wolle man bereits bestehende Mechanismen und Initiativen regionaler Kooperation nutzen, um die Entwicklungsstrategien der Korridorstaaten zusammenzuführen und zu ergänzen.

Ein klares Signal

Das Projekt der „Neuen Seidenstraße“ ist ein klares Signal Chinas an seine asiatischen Nachbarn und darüber hinaus. Peking bietet eine neue Art der Kooperation, die sich wesentlich vom westlichen Ansatz des globalen Regierens unterscheidet – ein Ansatz, der gerade in Asien häufig als Aufzwingen westlicher Werte und Systeme wie dem freien Markt oder der liberalen Demokratie wahrgenommen wird. Dem steht – nach chinesischer Auffassung – das „One Belt, One ­Road“-Projekt als Kooperationskonzept entgegen, das offen ist für all jene, die beitreten möchten, ungeachtet ihrer derzeitigen politischen oder ökonomischen Systeme. Dem internationalen Völkerrechts­prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates kommt in der chinesischen Außenpolitik eine zentrale Rolle zu und wird häufig als defensive Haltung gedeutet. Nun gibt China diesem Prinzip einen positiven Dreh: Vernetzung und Inklusivität als neue Parameter einer modernen Form der Diplomatie.

Die Initiative muss daher auch als Bemühung Chinas gesehen werden, sich ein dringend notwendiges ­Soft-Power-Image aufzubauen – keine leichte Aufgabe, denn China muss in der Praxis beweisen, ob es bereit ist, mit kleineren Staaten entlang der Seidenstraße auf Augenhöhe zu verhandeln und zusammenzuarbeiten, während sich in Peking das Verständnis von Verantwortung wandelt und von „hierarchischer Harmonie“ die Rede ist. Ohne Vertrauen werden die hochgesteckten Ziele nicht zu erreichen sein. Deshalb setzt China auf ein ganzes Spektrum an Mobilitätsprogrammen, die zwischenmenschliche Kontakte fördern sollen – von kulturellen und akademischen Programmen über den Austausch in der beruflichen Ausbildung und Medienpartnerschaften bis hin zu Jugendaustausch und Freiwilligendiensten. Neben kulturellen Veranstaltungen wie Filmfestivals oder Buchmessen wird die chinesische Regierung 10 000 Stipendien pro Jahr für die Länder entlang der Seidenstraße bereitstellen.

China ist sich offenbar bewusst, welche Gefahren Wissensdefizite und fehlendes Vertrauen in den beteiligten Ländern bergen. Ein chinesischer Wissenschaftler der Tsinghua-Universität erklärte: „Wie schnell die ‚One Belt, One Road‘-Initiative verwirklicht werden kann, hängt vom politischen Willen der Regierungen in den Zielländern ab. Und wie groß sie werden wird, hängt von den Technologie- und Kapitalströmen ab. Aber wie erfolgreich sie langfristig sein wird, wird von den Menschen abhängen.“5 China hat sicherlich aus vergangenen Erfahrungen gelernt, dass engere ökonomische Bindungen nicht automatisch eine vertrauensvolle Partnerschaft nach sich ziehen. Daher wird Peking mehr Geduld, Beharrlichkeit und Kreativität brauchen, um die Initiative zum Erfolg zu führen.

Strategie und Geopolitik

Das Herzstück der „One Belt, One ­Road“-Initiative mögen sehr wohl strategische Überlegungen Chinas sein, seine fragilen westlichen Nachbarstaaten zu stabilisieren – von Zen­tralasien über das zersplitterte Pakistan und das vom Krieg zerrüttete Afghanistan bis hin zum Nahen Osten. Da die Provinz Xinjiang weiterhin als Einfallstor für Drogenschmuggel, illegale Migration und Waffenhandel sowie für in Afghanistan, Pakistan und dem Ferghanatal ausgebildete Terroristen gilt, hat die Stabilität dieser weitläufigen Region im Westen des Landes höchste Priorität für Peking. Die Einrichtung einer Pufferzone aus stabilen Nachbarstaaten ist daher ein legitimes Interesse Chinas.

Die Führung des Landes glaubt fest daran, dass der einzige Weg einer mittel- und langfristigen Friedenssicherung in der Region über ökonomischen Wohlstand führt. Zwar hat die Regierung die Initiative nicht als eigenen Marshall-Plan bezeichnet. Doch viele Mitglieder des chinesischen Führungszirkels sehen in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der Korridorstaaten und ihrer Vernetzung durch Infrastrukturprojekte den besten Weg, das Konfliktpotenzial der Region kleinzuhalten – und damit letztlich auch den tragfähigsten Ansatz, das chinesische Entwicklungsmodell zu exportieren: das Recht, sich ungeachtet seiner politischen Ideologie wirtschaftlich entwickeln zu können.

Allerdings geht die Bedeutung der Seidenstraßen-Initiative über das Ziel der regionalen Stabilität hinaus. Das „One Belt, One Road“-Projekt und die Einrichtung der AIIB zeigen zusammen mit anderen Initiativen wie dem Seidenstraßen-Fonds oder der Neuen Entwicklungsbank der BRICS-Staaten, dass China bereit ist, eine größere Rolle im regionalen und globalen Kontext zu spielen. In den vergangenen Jahrzehnten folgte China Agenden, anstatt selbst welche zu setzen. Ein wesentliches Prinzip chinesischer Außenpolitik war der „friedliche Aufstieg mit wenig Profil“. Dementsprechend akzeptierte China anfangs die bestehende Weltordnung, die vom Westen entworfen und lange Zeit von den USA dominiert wurde.

Diese Phase ist nun vorbei. ­Chinas wirtschaftliche Macht und sein politisches Gewicht sind starke Argumente für Peking, seine Entwicklung nicht weiter von den Regeln der alten Industriestaaten abhängig zu machen. Stattdessen hat Peking den Anspruch, sich an der Gestaltung der Global-­Governance-Strukturen stärker zu beteiligen.

So hat China damit begonnen, explizitere Richtlinien für regionales und globales Regieren auszuarbeiten, die sich ebenso an seinen marxistischen wie konfuzianischen Traditionen orientieren. Ein Beispiel ist das von Xi Jinpings Vorgänger Hu Jintao formulierte Konzept der „harmonischen Gesellschaft“, bei der Prinzipien der konfuzianischen Philosophie auf die internationalen Beziehungen übertragen werden. Ein weiteres Beispiel ist die Forderung Xis nach „Machtverhältnissen neuen Typs“ zwischen China und den Vereinigten Staaten, die auf gegenseitigem Respekt und dem Grundsatz der Kooperation beruhen sollen.

Beide Konzepte wurden vom Westen weitgehend ignoriert – zu Unrecht. Denn schon heute lassen sich Veränderungen in der chinesischen Außenpolitik feststellen: Die Shanghai Cooperation Organization (SCO), die BRICS-Staaten und ihre Neue Entwicklungsbank, die G13-Initiative oder wirtschaftliche Foren wie die „Sommer-Davos“ von Tianjin und Dalian.

Diese strategische Neuausrichtung könnte eine Wende im System der Global Governance bedeuten. Chinas Fokus auf Inklusivität, das Recht auf wirtschaftliche Entwicklung und die Unverletzbarkeit der Souveränität anderer Staaten werden die aktuellen westlichen Prinzipien des globalen Regierens zwangsläufig herausfordern.

Der überraschende Erfolg der AIIB könnte nur ein erstes, vorsichtiges „Kratzen“ Chinas an den bestehenden Institutionen sein. Dennoch sollte er ernst genommen werden. Peking ist bereit, westliche Versuche einer Neugestaltung internationaler Strukturen ohne die Einbeziehung Chinas und anderer Schwellenländer anzufechten. So nahm die chinesische Führung TTIP und TPP als strategische Maßnahmen der USA wahr, neue Handelsblöcke mit Europa und Ostasien zu bilden und dabei China und die anderen BRICS-Staaten bewusst auszugrenzen. China hat nicht vor, die bestehenden Strukturen globalen Regierens zu revolutionieren, aber es beansprucht eine Rolle in deren weiterer Entwicklung – eine Einbeziehung auf Augenhöhe.

Zentralasien gründlich verändern

Für die zentralasiatischen Korridorstaaten steht beim „One Belt, One ­Road“-Projekt viel auf dem Spiel. Eine Voraussetzung für deren langfristige Entwicklung sind Investitionen im Bereich der Infrastruktur. Mangelhaftes Transportwesen und eine geringe Vernetzung sind entscheidende Wachstumshemmnisse in großen Teilen Asiens. Dabei sind einerseits der Ausbau von Straßen, Schienen, Flugplätzen, Häfen und der Stromversorgung notwendig, andererseits auch Fortschritte im Bereich der Telekommunikation und der immateriellen Infrastruktur wie beispielsweise die Harmonisierung von Regelungen, um den Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zu fördern.

Der Bedarf an finanziellen Ressourcen für die Verbesserung der Infrastruktur in Asien ist enorm. Im September 2010 schätzte das Institut der Asiatischen Entwicklungsbank, dass Entwicklungsländer in Asien bis 2020 für die nationale und regionale Infrastruktur jährlich bis zu 776 Milliarden Dollar brauchen werden, um die Nachfrage zu decken. Das entspricht einer geschätzten Finanzierungslücke von acht Billionen Dollar in den nächsten zehn Jahren.

Die „One Belt, One Road“-Initiative soll die beiden Endpunkte Eu­rasiens stärker miteinander verbinden, also den dynamischen Wirtschaftsraum in Ostasien mit der ökonomisch einflussreichen – wenn auch zurzeit schwächelnden – Europäischen Union. Unter Einbeziehung Russlands soll die Entstehung eines integrierten eurasischen Marktes beschleunigt werden, um neue wirtschaftliche Möglichkeiten für chinesische und andere internationale Unternehmen in der Region zu eröffnen, den Export von Waren und Dienstleistungen in diesen riesigen regionalen Absatzmarkt zu fördern und dadurch zur Öffnung und Reform der chinesischen Wirtschaft beizutragen.

Vom Aufbau der Infrastruktur in den benachbarten Korridorstaaten Zentralasiens verspricht man sich auch positive Auswirkungen für die Volkswirtschaften dieser Länder: mehr Arbeitsplätze, mehr Einkommen, mehr Wohlstand und mehr Stabilität. Während Xis Besuch in Moskau sprach der russische Präsident Wladimir Putin über die Schaffung eines „gemeinsamen eurasischen Wirtschaftsraums“, der Chinas „One Belt, One Road“-Initiative mit der von Russland verfolgten Idee der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) verbinden würde, der zurzeit Russland, Weißrussland, Kasachstan, Armenien und Kirgistan angehören.

„One Belt, One Road“ stößt bei allen zentralasiatischen Staaten – zumindest oberflächlich – auf Zustimmung. Denn die finanziellen Mittel aus China und von anderen Wirtschaftspartnern für den Ausbau der Infrastruktur sind verlockend, ebenso die Handels- und Investitions­impulse, die für andere Wirtschaftssektoren zu erwarten sind. Andererseits besteht Besorgnis über die möglicherweise übermächtige Rolle, die der zentrale Akteur in diesem Szenario spielen würde, nämlich China.

Aus zentralasiatischer Perspektive wäre eine starke Position Europas als Gegengewicht auf der anderen Seite des Korridors von großer Bedeutung. Alleine das Vertrauen in die Fähigkeit der Europäischen Union, den chinesischen Einfluss in der Region auszugleichen, ist Grund genug für Europa, sich dort einzubringen. Doch es gibt weitere gute Gründe, die für eine stärkere Rolle der EU sprechen.

In Europas zentralem Interesse

Das strategische Interesse Europas an der „Neuen Seidenstraße“ hat bereits die Tatsache signalisiert, dass 14 europäische Staaten zu den Gründungsmitgliedern der AIIB zählen. Nimmt man die EU als Ganzes, war dieses Sig­nal aber allenfalls halbherzig. Brüssel muss nun entscheiden, ob und wie sich die EU an diesem neuen Prozess beteiligt, der geopolitisch von höchster Bedeutung sein könnte.

Auch wenn Europa immer noch mit seinen internen Krisen beschäftigt ist – von Griechenland bis hin zu den Flüchtlingen –, sollte die „Neue Seidenstraße“ zur strategischen Priorität werden. Die EU sollte ihre Zuschauerrolle aufgeben und beginnen, das „One Belt, One Road“-Konzept aktiv mitzugestalten.

Einige europäische Interessen stimmen mit denen Chinas und der Korridorstaaten überein:

  • Regionale Stabilität in den öst­lichen und südlichen Nachbarstaaten Europas, in Zentralasien, in der MENA-Region und in Afrika. Dies ist insbesondere angesichts der aktuellen Flüchtlingsströme in die EU von großer Bedeutung, die eine neue Art der Koopera­tion zwischen der EU und den benachbarten Regionen notwendig machen.
  • Erschließung neuer Märkte für europäische Waren, Dienstleistungen und die Finanzwirtschaft. Vor allem in Anbetracht der Unbeständigkeit des Weltmarkts ist die Entwicklung neuer Marktchancen für exportorientierte Wirtschaftsmächte strategisch wichtig.
  • Weitere Diversifizierung der europäischen Energieversorgung, um auch die Regionen anzubinden, die bisher nicht für europäische Unternehmen erreichbar sind. Der eurasische Markt mit Kasachstan im Zentrum und mit Verbindungen zu Indien, Pakistan und dem Iran könnte neue Möglichkeiten schaffen, mit chinesischen und lokalen Firmen gewinnbringend zusammenzuarbeiten.
  • Nutzung der „Neuen Seidenstraße“ als Türöffner zum immer schwieriger werdenden, aber wichtigen chinesischen Markt. Denn China wird Verbündete brauchen, um in Europa und darüber hinaus Fuß zu fassen.
  • Kooperation im Rahmen von „One Belt, One Road“ könnte neue Impulse für die Organisation für ­Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter der deutschen Präsidentschaft im Jahr 2016 geben.

Sich aktiv bei der Entwicklung des „One Belt, One Road“-Konzepts einzubringen und sich neue Chancen in Bezug auf die noch schlummernde, aber potenziell vielversprechende Eurasische Wirtschaftsunion zu erschließen, wäre auch ein intelligenter Zug, um Russland zurück in eine interregionale Kooperation zu holen, ungeachtet des aktuellen Konflikts um die Ukraine. Verhandlungen zwischen der EU, der EAWU und China über ein Freihandelsabkommen könnten hier ein mittelfristiges Ziel sein.

Global gesehen sollte die EU die „Neue Seidenstraße“ dazu nutzen, deutlich zu machen, dass die europäischen Regierungen die ihm zugrundeliegenden Prinzipien der Vernetzung und der Inklusivität im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit unterstützen. Europa braucht – dringender als die USA – offene Märkte und keine neuen regionalen und interregionalen Festungen, sei es im Bereich des Handels, der Investitionen oder der Sicherheit.

Dialog mit aufstrebenden Mächten

Europa muss daran interessiert sein, mit den aufstrebenden „global players“ in Afrika, Asien und Lateinamerika in Dialog zu treten. Auch wenn die Entstehung einer multipolaren Weltordnung länger dauert als gedacht – sie wird kommen. China ist der erste Staat, der Anspruch auf globale Einflussnahme erhebt, auch wenn der Weg zur Weltmacht noch weit ist. Indien, Brasilien und weitere werden folgen. Die EU sollte mit diesen Staaten Beziehungen aufbauen, die es ermöglichen, gemeinsam und unter fairen und gleichen Bedingungen eine neue Weltordnung für das 21. Jahrhundert zu gestalten. Dazu bedarf es einerseits eines radikalen Umdenkens auf Seiten der westlichen Regierungen, die es gewohnt sind, die Zielvorgaben für den Rest der internationalen Gemeinschaft zunächst unter sich vorzuverhandeln. Andererseits müssen die aufsteigenden Mächte bereit sein, sich gegenüber den alten Entscheidungsmächten beim Aufbau neuer, nachhaltiger Strukturen in Geduld zu üben.

Chinas „Neue Seidenstraße“ dürfte der glaubwürdige Versuch sein, als zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt eine solche neue Art der Diplomatie zu etablieren, die auf Inklusivität, Chancengleichheit und dem Respekt für kulturelle Vielfalt und unterschiedliche politische Systeme basiert. Die EU sollte dieses Angebot ernst nehmen und prüfen, ob das Reich der Mitte halten kann, was es verspricht. Und zwar schnell.

Dr. MICHAEL SCHAEFER ist Vorsitzender des Vorstands der BMW-Stiftung Herbert Quandt. Von 2007 bis 2013 war er Botschafter in China.

Prof. Dr. WEI SHEN ist Direktor des Con­fucius-Instituts der Lancaster University und Jean Monnet Chair in EU-China Relations.

ANDRÉ LOESEKRUG-PIETRI ist zweiter Vorsitzender der Paulina Foundation und des europäischen Private Equity Fonds A CAPITAL

  • 1Dieser Beitrag entstand auf dem 4th BMW Foundation Global Table in Polen.
  • 2 a b Yang Jiechi: A New Type of International Relations, Horizons, Center for International ­Relations and Sustainable Development (CIRSD), Belgrad, Sommer 2015, S. 17.
  • 3Hans Kundnani: Economic and Military Power in Asia, European Council on Foreign Relations (ECFR), 20.4.2015.
  • 4Jin Liqun: Financing for the Future, Horizons, Nr. 4/2015 (Anm. 1), S. 59.
  • 5Zhao Kejin: People Factor Key to ‚Belt and Road‘“, China Daily, 23.5.2015.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2016, S. 78-87

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