IP

01. Juli 2012

Die Welle der Veränderungen anführen

Türkische Außenpolitik im Nahen und Mittleren Osten

Ob Arabischer Frühling oder die Beziehungen mit den Nachbarländern: Die Türkei beteiligt sich aktiv an der Gestaltung der Region, sind doch die eigene Stabilität und Sicherheit betroffen. Ihre Erfahrungen mit der Demokratie und Reformprozessen können dabei in turbulenten Zeiten ein Vorbild für andere Länder der Region sein.

Die Aufstände in Syrien hielten bereits über ein Jahr lang an, und unter den türkischen Oppositionsparteien wuchs die Kritik an der Syrien-Politik der Regierung. Das einstige Vorzeigekind einer Politik der „Null Probleme mit den Nachbarn“ war dabei, Tausende Aufständische niederzumetzeln. Von einem Scheitern seiner Politik aber, die sich in den Aufständen in der arabischen Welt offenbare, wollte Außenminister Achmed Davutog˘lu nichts wissen. In einer Rede vor dem Parlament am 26. April 2012 stellte er klar: Jetzt, da sich ein neuer Naher Osten entwickle, werde die Türkei „die Welle der Veränderungen anführen und die Rolle eines Treuhänders, Pioniers und Dieners dieses neuen Nahen Ostens einnehmen“.

Spätestens mit Davutog˘lus Amtsantritt als Außenminister im Jahr 2009 hatte sich die Türkei um eine Verbesserung ihrer Beziehungen zu den Nachbarländern bemüht: Sie hatte geradezu revolutionäre Initiativen in Gang gesetzt, hochrangige strategische Beratungsgremien etabliert, ihre Visapolitik liberalisiert und Pläne für Freihandelszonen entwickelt. Eine Politik der Kooperation und Integration – mit der Türkei als treibender Kraft – sollte dabei helfen, die Region zu stabilisieren und zu befrieden. Ankara, das sich seine Soft Power geschickt zunutze machen konnte, schien auf dem sicheren Weg zu einem „friedlichen Aufstieg“.

Entsprechend rau war das Erwachen. Der Arabische Frühling brachte gänzlich unvorhergesehene Turbulenzen – anstatt langfristiger Nachbarschaftspflege hatte Ankara akutes Krisenmanagement zu betreiben. Die Stationierung eines Frühwarnsystems im Rahmen des NATO-Raketenschilds auf türkischem Boden führte zu Verstimmungen mit dem Iran; Iraks Premier Nuri al-Maliki bezichtigte die türkische Regierung, sich in die inneren Angelegenheiten seines Landes einzumischen. Und dass Ankara das brutale Vorgehen des syrischen Diktators Baschar al-Assad gegen die Aufständischen heftig kritisierte und sich frühzeitig auf die Seite der politischen und militärischen Opposition stellte, führte zum Kollaps der türkisch-syrischen Beziehungen.

Auch die Beziehungen zu Israel verschlechterten sich dramatisch, und in der Zypern-Frage zeigte die Türkei ebenfalls wenig Entgegenkommen. Selbst Beobachtern, die der Regierung Recep Tayyib Erdog˘ans Sympathien entgegenbrachten, war nicht mehr klar: Wollte Ankara tatsächlich nur ausgewogener Moderator sein oder mischte es sich allzu robust in die Angelegenheiten anderer Länder ein? Ohne Zweifel war die Türkei eine regionale Vormacht. Nur schien von der Politik der „Null Probleme“ nichts mehr übrig geblieben zu sein.

Eine aktive Zentralmacht

Selbst auf dem Höhepunkt ihrer Popularität war diese Politik der „Null Probleme“ keine Strategie oder gar Doktrin, sondern nur eines von vielen Prinzipien der türkischen Außenpolitik. Der Rahmen, in den diese Prinzipien eingefügt sind, ist die Doktrin der „Zentralmacht“, die Davutog˘lu bereits als Professor für Internationale Beziehungen entwickelt hatte. Die einzigartige geografische Lage der Türkei als Brücke zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Osten, als Nachbar Russlands, der kaukasischen Staaten und des Iran verleihe ihr eine besondere Rolle. Als geografische und kulturelle Zentralmacht könne sie sich nicht als defensiver, rein reaktiver Akteur definieren, sondern habe eine aktive Rolle bei der Gestaltung der Region zu spielen – schließlich hänge ihre eigene Stabilität und Sicherheit in hohem Maße von einer friedlichen Ordnung in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ab.

Neben dem Prinzip der „Null Probleme“ entwickelte Davutog˘lu noch als außenpolitischer Chefberater von Premier Erdog˘an im Rahmen dieser Doktrin vier weitere Prinzipien, die fortan die neue Außenpolitik leiten sollten: eine Balance zwischen Sicherheit und Demokratie, eine vorausschauende und vorbeugende Friedensdiplomatie, eine multidimensionale Außenpolitik sowie „rhythmische Diplomatie“, d.h. eine aktivere Rolle in den internationalen Beziehungen. Als Davutog˘lu das Amt des Außenministers antrat, war die Doktrin der „Zentralmacht“ bereits formuliert. Ihr lag weniger ein imperialer Charakter zugrunde – der Türkei sollte nicht die Rolle zufallen, die Region nach ihren Vorstellungen zu verändern. Vielmehr verstand Davutog˘lu sie als geopolitische Notwendigkeit, denn schon die geografische Lage erlaube es der Türkei nicht, Instabilitäten einfach nur hinzunehmen. Da die Länder des Balkans noch immer unter dem Trauma des Bürgerkriegs leiden, der Nahe Osten von konfessionsgebundenen oder ethnischen Konflikten erschüttert wird und zahlreiche Konflikte des Kaukasus schlicht „eingefroren“, aber nicht gelöst bleiben, hatte die Türkei eine führende Rolle bei der Herstellung einer regionalen Ordnung einzunehmen.

Das Prinzip der „Null Probleme“ erfuhr nur deshalb so viel Aufmerksamkeit, weil es eine Abkehr von der alten Perzeption begründete, die Türkei sei nur von feindlichen Staaten umzingelt. Damit aber ließ sich keine proaktive Außenpolitik formulieren. Wollte die Türkei ihren Einfluss in der Region vertiefen und weitere Hindernisse für eine Anbindung an den Westen beseitigen, dann musste sie eine regionale Verflechtung in Angriff nehmen – und damit auch die Lösung bilateraler Konflikte mit Armenien, Griechenland, dem griechischen Teil Zyperns und Syrien.

Eine neue Nachbarschaftspolitik zu Ländern, zu denen die Türkei bislang kaum Kontakte gepflegt hatte, erforderte Verlässlichkeit und Berechenbarkeit, also eine Balance zwischen dem Erhalt des Status quo und dem Versuch einer Lösung bilateraler Probleme. Deshalb arbeitete Ankara mit den Regierungen der Region zusammen, ohne sich weiter um deren demokratischen Charakter zu kümmern. Im Vordergrund stand wirtschaftlicher Liberalismus. (Tatsächlich konnte sie in den Bereichen Handel, Investitionen und wirtschaftliche Integration einiges voranbringen.) In den Hintergrund trat ein türkischer politischer Liberalismus.

Die Politik der „Null Probleme“ war wohl alles andere als problemfrei. Aber sie half, die Handelsbeziehungen in der Region zu intensivieren und den kulturellen Einfluss der Türkei auszuweiten. Die Türkei entwickelte sich zu einem ernst zu nehmenden Akteur auf der internationalen Bühne – und die ganz eigene und erfolgreiche Mischung verschiedener politischer und kultureller Traditionen, die sie verkörpert, schien ihr die Möglichkeit zu verschaffen, Einfluss zu gewinnen.

Eine richtige Balance zwischen Sicherheit und Demokratie

Ist diese Politik mit den Aufständen völlig gescheitert? Tatsächlich muss sich die türkische Außenpolitik radikal neuen Umständen anpassen. Aber da ihre Leitlinie die Doktrin der Zentralität bleibt, weist sie eine erstaunliche Kontinuität auf. Genau wie vor den Aufständen ist es immer noch das Ziel Ankaras, eine „Zone des Friedens und der Stabilität“ rund um die Türkei zu schaffen. Allerdings liegt die Betonung jetzt nicht mehr auf dem Prinzip der „Null Probleme“, sondern auf der richtigen Balance zwischen Stabilität und Freiheit, was angesichts des veränderten Charakters der Bedrohungen für die regionale Ordnung nur natürlich ist. Der entscheidende Test für die Türkei in den kommenden Jahren wird also ihre Fähigkeit sein, bei der Entwicklung funktionierender staatlicher Strukturen in den Transformationsstaaten zu helfen, die sowohl den wirtschaftlichen wie politischen Bedürfnissen der jeweiligen Gesellschaften entsprechen und gleichzeitig für eine stabile Ordnung sorgen. Es geht nicht mehr darum, in einer relativ ruhigen Umgebung Nachbarschaftspflege mit den jeweiligen Regierungen zu betreiben. Es geht darum, die Sicherheitsrisiken zu bewältigen, die durch die Aufstände für alle Anrainer der Region, inklusive der Türkei, entstanden sind und dem fundamental veränderten Verhältnis zwischen Regierten und Regierenden Rechnung zu tragen.

Schon früher war die Türkei im Irak und im Libanon mit einem ähnlichen Problem konfrontiert. Um eine durch die Auseinandersetzungen zwischen religiösen und ethnischen Gruppen entstehende regionale Destabilisierung zu vermeiden, hat sich Ankara intensiv für nationale Versöhnung eingesetzt. Mit Beginn des Arabischen Frühlings hat sie auch aufgehört, um der Stabilität willen die bestehenden Regime zu unterstützen, sondern sich im Gegenteil recht frühzeitig auf die Seite der prodemokratischen Bewegungen gestellt – in der Hoffnung, damit den Übergang zu einer neuen Stabilität fördern zu können. Jetzt geht es nicht mehr nur um wirtschaftlichen, sondern auch um politischen Liberalismus. Türkische Politiker machen sich immer deutlicher für den Aufbau funktionierender Demokratien in der Region stark, denn schließlich könne dieses politische System am ehesten und effizientesten für Wirtschaftswachstum und eine verlässliche Regierungsordnung sorgen. Der Regierung ist durchaus klar, dass eine „Zone des Friedens und der Stabilität“ rund um die Zentralmacht Türkei nur dann möglich sein wird, wenn sie die richtige Balance in der Herstellung von Sicherheit und Demokratie findet.

Ankara befürwortet einen schrittweisen, friedlichen Wandel und bemüht sich darum, Konflikte oder ein militärisches Eingreifen ausländischer Mächte möglichst zu verhindern. In Tunesien und Ägypten hat die Türkei schnell gute Kontakte zu den neuen Regierungen hergestellt. In den Ländern, in denen die Aufstände zu militärischen Auseinandersetzungen führten, hat sie sich nach anfänglichem Zögern mit den regionalen und internationalen Akteuren abgestimmt und jenen angeschlossen, die den Sturz der alten Regierungen fordern. Im Fall Syriens war die Regierung Erdog˘an eine der ersten, die den Rücktritt Baschar al-Assads forderten. Nach dem Sturz Gaddafis in Libyen begann die Türkei, Aufbauhilfe für die neue Regierung zu leisten. Es ist auf die proaktive Politik der Türkei zurückzuführen, dass eine Debatte über die Zukunft der Region ohne ihre Beteiligung undenkbar geworden ist.

Die wirkliche Herausforderung besteht jetzt darin, die Welle des Wandels zu reiten. Nur mag der Wunsch der Türkei nach einer möglichst demokratischen Transformation größer sein als die politischen und wirtschaftlichen Mittel, die ihr zur Verfügung stehen. Weil sie allzu lange keine Kontakte zu den Nachbarn pflegte, sind Kenntnisse der Komplexitäten dieser Region in Politik und Wissenschaft eher rar. Auf wesentliche Faktoren, von denen die Zukunft der Transformationsländer abhängt – wie Islamismus, ethnische und religiöse Spannungen oder eine tief verwurzelte Klankultur – kann Ankara nur bedingt, wenn überhaupt, Einfluss nehmen. Trotz eines beeindruckenden Wirtschaftswachstums stehen der Türkei weder Milliardensummen als Aufbauhilfe zur Verfügung, noch kann sie nennenswerte Mittel für Nationbuilding und Demokratisierung aufbringen. Und nicht zuletzt sind der Nahe und Mittlere Osten viel zu komplex, um von einem Akteur wie der Türkei allein gestaltet zu werden.
Doch auch wenn die Türkei – der sehr ambitionierten Rhetorik zum Trotz, die derzeit aus Ankara zu hören ist – nicht die führende Kraft bei der Transformation und der notwendigen Stabilisierung der Region sein wird, so kann sie dennoch politisch, wirtschaftlich und kulturell eine konstruktive Rolle spielen. Von der Frage einer Demokratisierung ganz abgesehen, ist zunächst die Etablierung funktionierender und verlässlicher politischer und wirtschaftlicher Systeme dringend notwendig. Die Erfahrungen der Türkei mit der Demokratie und die Reformen, die sie vor allem während des vergangenen Jahrzehnts durchgeführt hat, können durchaus als Vorbild dienen. In den Bereichen Sicherheit, Justizwesen, Medien, Sport, Gesundheit und Ausbildung hat sie schon jetzt ein immer dichteres Netz an Austauschprogrammen mit den Transformationsländern aufgebaut, das sowohl den staatlichen Sektor als auch zivilgesellschaftliche Organisationen umfasst. Derlei Programme können zwar nur in bescheidenem, aber doch nicht unwichtigem Maß zu einer Entwicklung in Richtung Good Governance und Nationbuilding beitragen.

Ganz im Gegensatz zu manch anderen Staaten in der Region bemüht sich die Türkei um einen Ausgleich zwischen verschiedenen Gruppierungen (wie zwischen Sunniten und Schiiten im Libanon oder im Irak), anstatt solche Konflikte noch weiter anzuheizen. Positiv fällt zudem die Bereitschaft der Türkei ins Gewicht, ihre Arbeit mit anderen regionalen und außerregionalen Kräften zu koordinieren, die ebenfalls Interessen im Nahen und Mittleren Osten hegen. Derlei Qualität dürfte in den nächsten Jahren ausschlaggebend sein, wenn eine gewisse Ruhe hergestellt werden soll. Und eine gewisse Beruhigung der Turbulenzen wäre Voraussetzung für die Entwicklung funktionierender politischer und wirtschaftlicher Systeme.

Dr. SABAN KARDAS ist Associate Professor im Department of International Relations der TOBB University of Economics and Technology in Ankara.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/ August 2012, S. 35-39

Teilen