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01. März 2013

Die Transparenz-Verschwörung

Regierungsoffenheit ist kein Königsweg, um Vertrauen wieder herzustellen

Das Ansehen von Politik und Demokratie, von Volksvertretern und Regierungen ist rund um die Welt dramatisch gesunken. Wer allerdings denkt, größere Transparenz sei dagegen das Allheilmittel, der irrt. Ein Mehr an Daten hat noch nirgendwo für rationalere Debatten gesorgt, eher im Gegenteil. Die Wahrheit allein führt nicht zu Veränderungen.

Eine der beunruhigendsten Folgen der Finanzkrise ist ein Zusammenbruch des Vertrauens in demokratische Institutionen und Politiker. Tatsächlich verzeichnete die „Trust Barometer“-Umfrage des PR-Unternehmens Edelman’s 2012 bei der Frage: „Vertrauen Sie Ihrer Regierung?“ den größten je gemessenen Einbruch. Kann größere „Transparenz“ – das neue politische Mantra bürgerlicher Aktivisten und einer immer größeren Zahl demokratischer Regierungen – diesen Trend umkehren?

Wäre alles anders?

Die Hoffnung ist, dass eine Kombination aus neuen Technologien, öffentlich zugänglichen Daten und neuerlichem staatsbürgerlichen Engagement den Menschen helfen kann, die von ihnen gewählten Vertreter wirksamer zu kontrollieren. Doch die Vorstellung, dass Transparenz das öffentliche Vertrauen in die Demokratie wieder herstellen wird, beruht auf mehreren problematischen Annahmen, insbesondere jener, dass alles anders wäre, „wenn die Leute nur Bescheid wüssten“.

Leider liegen die Dinge nicht ganz so einfach. Das Ende staatlicher Geheimhaltung bedeutet weder die Geburt des informierten Bürgers, noch legt mehr Kontrolle notwendigerweise mehr Vertrauen in die öffentlichen Institutionen nahe. Ein Beispiel: Nachdem die amerikanischen Wähler erfuhren, dass Präsident George W. Bush die USA ohne einen Beweis für die Existenz von Massenvernichtungswaffen in den Krieg gegen den Irak geführt hatte, wählten sie ihn trotzdem wieder. Genauso haben die Italiener Silvio Berlusconi mehr als ein Jahrzehnt lang an der Macht gehalten, trotz des stetigen Stroms an Enthüllungen über seine Verfehlungen.

In der Politik bedeutet „alles wissen“ noch immer, verschiedene Dinge zu wissen, was heißt, dass die Menschen, wenn man die Regierungen zwingt, Informationen offenzulegen, nicht zwangsläufig mehr erfahren oder besser verstehen. Im Gegenteil: Sobald staatliche Informationen darauf ausgelegt sind, sofort allen zugänglich zu sein, verringert sich ihr Informationswert, und ihr Wert als Manipulationsinstrument steigt. Man denke daran, wie die Gangster in den Krimis reden, wenn sie wissen, dass die Polizei ihnen zuhört. Sie sprechen in aller Deutlichkeit über Banalitäten und tauschen zugleich unter dem Tisch Notizen aus. Genauso kann man sich im Zeitalter der Transparenz das Verhalten von Regierungen vorstellen.

Zur Wahrheit gehört mehr

In seiner Untersuchung zur Aufrichtigkeit im antiken Griechenland hat der Philosoph Michel Foucault darauf verwiesen, dass man den Akt des Die-Wahrheit-Sagens nicht darauf reduzieren kann, dass die Bürger etwas erfahren, was sie vorher noch nicht wussten. Paradoxerweise ist die Wahrheit in der Politik etwas, das alle kennen, aber das kaum einer auszusprechen wagt. Die Menschen brauchen eigentlich keine zusätzlichen Daten, um etwa eine Zunahme von Ungleichheit oder die schlechte Behandlung von Einwanderern zu erkennen. Die WikiLeaks-Depeschen haben uns nichts qualitativ Neues über die Politik der USA gelehrt.

Man kann die Wahrheit im Leben nicht auf den uneingeschränkten Zugriff auf Informationen reduzieren. Es ist die Bereitschaft der Menschen, persönliche Risiken einzugehen und sich den Mächtigen entgegenzustellen, indem sie es wagen, die Wahrheit auszusprechen, und nicht die Wahrheit selbst, die letztlich zu Veränderungen führt.

Zudem sind Informationen nie ohne eine Auslegung zu haben. Republikaner und Demokraten in den USA oder Säkularisten und Muslimbrüder in Ägypten werden dieselben Rohdaten unterschiedlich drehen, weil sich politische Entscheidungsprozesse nicht von den Interessen und Werten der Entscheidungsträger trennen lassen. Die Anthropologen Jean und John Comaroff haben es so formuliert: Wir leben in „einem Zeitalter, in dem die Menschen beinahe überall zugleich vom Glauben an die Transparenz und an die Verschwörung erfüllt sind“.

Um die Ambivalenz einer „Vertrauenspolitik“ zu erkennen, muss man sich nur die jüngsten Ereignisse in Russland ins Gedächtnis rufen. Im Dezember 2011 löste die Parlamentswahl dort eine Explosion staatsbürgerlicher Anteilnahme aus. Hunderttausende strömten auf die Straßen von Moskau und anderen Großstädten, um eine faire Abstimmung und echte Wahl bei der folgenden Präsidentschaftswahl zu verlangen. Die eskalierende Legitimitätskrise zwang die Regierung, sich fantasievolle Methoden zur Rechtfertigung ihrer Macht auszudenken.

Ihr zentraler Vorschlag war genial: Der Kreml schlug vor, die Fairness der Wahl durch Aufstellung von Webcams in allen Wahllokalen zu garantieren; jeder Bürger könne den Wahlprozess so persönlich überwachen. Die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua kommentierte dies begeistert so: „Von Kamtschatka bis Kaliningrad und von Tschetschenien bis Tschukotka haben sich mehr als 2,5 Millionen Websurfer angemeldet, um Live-Bilder von mindestens 188 000 Webcams in mehr als 94 000 Wahllokalen auf russischem Gebiet anzusehen.“ In den Worten eines finnischen Beobachters war es „ein Meilenstein in der Geschichte der Demokratie und demokratischer Wahlen“.

Doch unter einem Regime wie dem von Wladimir Putin, in dem die Regierung bestimmt, wer kandidieren darf, wären die Webcams eine Farce, wenn sie nicht so beängstigend wären. Aus westlicher Sicht wurden sie als ein Instrument wahrgenommen, um die Regierung unter Kontrolle zu halten, indem man die Menschen in die Lage versetzte zuzusehen, was diese tat. Doch aus dem Blickwinkel eines auf dem Lande lebenden postsowjetischen Wählers ging von der Webcam eine andere Botschaft aus: Die Regierung weiß, wie du wählst.

Letztlich hatte Putin damit doppelten Erfolg: Er nahm sich in den Augen des Westens als transparent und in denen der meisten seiner eigenen Bürger als bedrohlich aus. Die Montage der Webcams war zugleich ein Akt der Transparenz und der Verschwörung.

Gläserne Regierung – und Bürger?

Das umfassendere Problem ist das Beharren der Transparenzbefürworter, dass sich eine offene Regierung mit dem Schutz der Privatsphäre der Bürger vereinbaren lässt. Legen aber nicht gläserne Regierungen auch gläsernen Bürger nahe? In der Regel überwachen Regierungen die Bürger. Wenn das transparent wird, werden es auch die Bürger, die mit der Regierung gesprochen haben oder von ihr überwacht wurden.

Anders als von den Transparenzbefürwortern erwartet, macht eine größere Offenlegung staatlicher Informationen öffentliche Debatten nicht rationaler oder weniger paranoid. Wenn überhaupt heizt sie Verschwörungstheorien an (es gibt nichts Verdächtigeres als die Behauptung uneingeschränkter Transparenz). Wer kann ehrlich sagen, dass die Diskussionen in den Bereichen vernünftiger geworden wären, wo unsere Regierungen heute transparenter sind?

Statt das Vertrauen in demokratische Institutionen wieder herzustellen, könnte die Transparenzbewegung den Wandel von einer demokratischen Politik hin zu einer Verwaltung des Misstrauens beschleunigen. In diesem Fall könnte man sich die Ablösung der repräsentativen Demokratie durch politische Regime vorstellen, die die Kontrolle der Exekutive durch die Bürger beschränken.

Es ist unbestritten, dass staatliche Transparenz ein ehrenwertes Ziel ist. Doch wir sollten uns nicht selbst in die Tasche lügen und glauben, dass sich durch sie das Vertrauen der Bürger in ihre politischen Institutionen wieder herstellen ließe.

Ivan Krastev ist Vorsitzender des Center for Liberal Strategies in Sofia. Im Januar 2013 erschien sein Buch „In Mistrust We Trust“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2013, S. 112-114

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