Die neue europäische Unordnung
Die EU wird Russland nicht ändern. Aber sie sollte sich hüten, es zu isolieren
Die Krim-Krise markiert das Ende der europäischen Ordnung. Was nun? Russland nach europäischem Vorbild umzugestalten ist nicht möglich, eine Rückkehr zum Konzept der Einflusssphären ebenso wenig. Europa müsste sein eigenes Integrationsprojekt stärken und Kooperationsmöglichkeiten mit Russlands Eurasischer Union suchen.
Im März 2014 sind die Europäer in der Welt Wladimir Putins aufgewacht, einem Ort, an dem Grenzen gewaltsam verschoben werden können, internationale Institutionen machtlos sind, wirtschaftliche Verflechtung Unsicherheit verursachen kann und an dem Berechenbarkeit kein Vorzug, sondern ein Makel ist. Nicht nur hat sich die Idee einer postmodernen europäischen Ordnung erledigt, die sich auf den ganzen Kontinent und eines Tages vielleicht sogar auf die gesamte Welt ausweitet. Eher schon wird sie sich auf sich zurückziehen müssen. Die Krim-Krise markiert das Ende der europäischen Ordnung nach dem Kalten Krieg. Dass sich die Europäer für ein weltweites Vorbild halten, ist kaum überraschend, stand der Kontinent doch in den vergangenen 300 Jahren im Mittelpunkt des globalen Geschehens. 1914 war die europäische zugleich auch die Weltordnung. Der Erste Weltkrieg wurde auch der Europäische Krieg genannt. Selbst während des Kalten Krieges ging es im Kern darum, wer Europa kontrolliert, und es ging um den Wettbewerb zwischen zwei europäischen Ideologien: demokratischem Kapitalismus und sowjetischem Kommunismus. Erst 1989/91 entstand ein europäisches Modell für internationales Handeln, das auf Überzeugungen und Praktiken beruhte, die sich radikal von der vorherrschenden Weltordnung unterschieden.
Kernelemente dieser neuen europäischen Ordnung waren ein hoch entwickeltes System der gegenseitigen Einmischung in innere Angelegenheiten und eine Sicherheit, die auf Offenheit und Transparenz gründete. Diese Ordnung und ihre Sicherheitsarchitektur hing nicht vom Gleichgewicht der Mächte ab, und ihr Schwerpunkt lag nicht auf dem Schutz nationaler Souveränität oder einer Trennung von Innen- und Außenpolitik. Sie verzichtete auf Gewalt als Instrument der Konfliktlösung und förderte eine immer tiefere wechselseitige Abhängigkeit der europäischen Staaten. Diese Ordnung hatte nicht zum Ziel, Europas Grenzen selbst zu verändern oder neue Staaten zu schaffen. Europas Ambition lag vielmehr darin, das Wesen von Grenzen zu ändern und sie durchlässig zu machen für Menschen, Güter, Kapital und Ideen.
Diese neue europäische Ordnung war anders als alle bisherigen Nachkriegsordnungen. Der Kalte Krieg endete ohne Friedensvertrag und ohne Siegesparade. Die neue Ordnung wurde zu einem gemeinsamen Sieg des Westens und des russischen Volkes erklärt und sie sollte auch eine transformierende Kraft entfalten – in Form einer Erweiterung der westlichen Institutionen, von denen die meisten ja für eine bipolare Welt geschaffen worden waren. Die Wiedervereinigung Deutschlands wurde zum Vorbild für die Einigung Europas. Und während sich die Europäer durchaus bewusst waren, dass diese Ordnung einzigartig ist, so waren sie auch überzeugt von deren
universellem Charakter. Von der Welthandelsorganisation bis zum Kyoto-Protokoll, vom Internationalen Strafgerichtshof bis zur Schutzverantwortung – europäische Normen schienen sich durchzusetzen. Und die Europäer glaubten fest, dass in der Welt von morgen wirtschaftliche Verflechtung und konvergierende Lebensstile zur wichtigsten Quelle von Sicherheit würden.
Berauscht von der eigenen Fortschrittlichkeit verlor die EU immer stärker den Sinn für andere Mächte. Anstatt den Versuch zu unternehmen, deren durchaus abweichende Wahrnehmungen zu verstehen, konzentrierte sie sich nur darauf, wo diese hinter den europäischen Standards zurückblieben. Das galt für die Nachbarn der EU, für Großmächte wie China und sogar für Verbündetewie die USA. So wurde es der EU unmöglich, auch alternative Integrationsprojekte auf dem eigenen Kontinent zu akzeptieren.
Mit Russlands Annexion der Krim wurde schlagartig klar, dass das politische Modell der EU zwar bewundernswert, aber nicht universell übertragbar ist. Eher schon könnte Europas Ordnung so weit entwickelt und so sehr auf das eigene, spezielle Umfeld zugeschnitten sein, dass eine Adaption für andere unmöglich ist. Europas postmoderne Ordnung ist in einem schützenden Ökosystem
entstanden, abgeschirmt von der viel muskulöseren „modernen“ Welt, in der die meisten Menschen leben. Nun, da aus dem europäischen Universalismus eine Art Exzeptionalismus geworden ist, muss man darüber nachdenken, was eine neue Ordnung ausmachen könnte. Gilt es jetzt nicht, das fragile politische Ökosystem Europas vor schädlichen Einflüssen von außen zu schützen, anstatt es unbedingt auf andere übertragen zu wollen?
Festung Russland
„Der Sieger empfindet keine Neugier“, hat Carl Schmitt festgestellt. Das dürfte besonders für Sieger gelten, die überzeugt sind, dass niemand besiegt wurde, denn sie fürchten ja keine revisionistische Gegenbewegung. Nach 1989 verloren die Europäer ihre Neugierde, wie Russland die Welt und seinen Platz darin sieht. Sie verstanden nicht, wie tief die Verbitterung über die vom Westen eingeführte europäische Ordnung in Russland war. Die russisch-europäischen Beziehungen verstanden sie lieber als Win-win-Situation. Verliebt in den eigenen Erfolg, verkannte die EU auch, dass ihre „freundliche Macht“ von anderen als bedrohlich empfunden werden könnte. Europas Politiker hatten sich eingeredet, dass Russlands eigentliche Sorge doch China und dem radikalen Islam galt. Die ständigen Klagen über NATO-Erweiterung oder US-Raketenabwehrsystem hielt man schlicht für eine Art Volksbelustigung, die dem heimischen Publikum galt. Das war ein Irrtum.
Russlands Schwäche, eine neue westliche Ordnung zu verhindern, missverstand man als Zustimmung und Gesinnungswandel. Dabei war es nach 1989 die Sowjetunion und nicht Russland, die das europäische Modell annahm. Für die Sowjetführung war ja die Ausbreitung der europäischen Ordnung mit ihrer sanften Souveränität und wirtschaftlichen Verflechtung der einzige Weg, das sowjetische Imperium vor dem Unabhängigkeitsdrang verschiedener Sowjetrepubliken zu schützen. Die Sowjetunion – und wiederum nicht Russland – war es auch, die der NATO stillschweigend erlaubte, die DDR einzugliedern. Doch im Gegensatz zur Sowjetunion misstraut das postsowjetische Russland jeglicher postnationalen Konstellation, denn es bevorzugt eine dem 19. Jahrhundert entstammende, klassische Auffassung von Souveränität. Was Russland von der EU und von Gorbatschows Sowjetunion unterscheidet, ist die Überzeugung, dass Souveränität kein juristisches Konstrukt ist, sondern Handlungsfähigkeit bedeutet. Putins Chefideologe Wladislaw Surkow hat das auf den Punkt gebracht: „Souveränität ist das politische Synonym für Wettbewerbsfähigkeit.“ Dieses Konzept umfasst wirtschaftliche Unabhängigkeit, militärische Macht und kulturelle Identität.
1993 veröffentlichte der politische Philosoph Vadim Tsymbursky einen viel beachteten Artikel unter der Überschrift „Insel Russland“. Es sei Russlands geopolitische Bestimmung, eine Insel zu sein, und Russland könne am besten überleben, wenn es sich von Europa trenne, argumentierte er. Russland müsse mit dem Erbe von „drei europäischen Jahrhunderten“ brechen und begreifen, dass der Versuch, Europa zu kopieren oder dazuzugehören, unausweichlich in einer Tragödie ende. Und in einer Zeit, in der die Globalisierung die Welt destabilisiert, sei Russlands einzige wirkliche Option, sich auf seinen Fernen Osten und die innenpolitische Entwicklung zu konzentrieren. Es sei zu schwach und fragmentiert, um in einer globalisierten Welt zu bestehen. Vielmehr solle das Land versuchen, einen „zivilisatorischen Staat“ aufzubauen oder eine „Festungsidentität“, die von der globalen Wirtschaft zwar profitiert, aber vor äußeren Einflüssen abgeschirmt wird. Diese Art von fest abgeschottetem Staat zu schaffen, war Putins wichtigstes Ziel. Sich dem Westen anzuschließen, lag nie in seinem Interesse.
Die Europäer haben zweitens angenommen, dass Russlands Integration in die Weltwirtschaft zu einer konservativen Außenpolitik führen würde. Offensichtlich war man auf die zuweilen etwas grobe mediale Darstellung einer korrupten und zynischen russischen Elite hereingefallen, die sich einer potenziellen Gefährdung ihrer Geschäftsinteressen schon widersetzen würde. Diese Vorstellung von einer Russland-AG ist falsch. Denn aller Korruption und Gier zum Trotz träumt ein Teil der Elite von Russlands triumphaler Rückkehr auf die Weltbühne. Putins Revisionismus wog schwerer, als den Europäern bewusst war. Für Putin war das Ende der Sowjetunion keine historische Notwendigkeit, sondern eine Folge des Scheiterns der sowjetischen Führung.
Drittens haben die Europäer die psychologische Wirkung der „Farbrevolutionen“ und der globalen Finanzkrise auf Russland verkannt. Die Orangene Revolution in der Ukraine war Putins „9/11“. Seitdem hält der russische Präsident ferngesteuerte Straßenproteste für die Hauptbedrohung seines Regimes – wie überhaupt der Kreml überzeugt ist, dass alle Farbrevolutionen im postsowjetischen Raum, einschließlich der innerrussischen Proteste, von Washington angezettelt, finanziert und gelenkt wurden. Die Finanzkrise von 2009 wiederum ließ Putin glauben, dass die Globalisierung auf dem Rückzug sei und jede Großmacht nach der Krise einen eigenen Wirtschaftsraum haben müsse. Putins Vorgehen in der Ukraine mag der imperialen Politik Russlands im 19. Jahrhundert ähneln. Aber als Teil einer weltweiten Abwehrreaktion gegen die Globalisierung ist es ein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Denn in Putins Wahrnehmung ist Russlands politische Identität in größerer Gefahr als Russlands territoriale Integrität. Die Versuche des Westens, Russlands „kulturellen Code“ zu ändern, empfindet man als genauso alarmierend wie die Vorstellung, die NATO könnte Russlands Marinestützpunkt in Sewastopol übernehmen.
Viertens hat Europa die Bedeutung von Stärke falsch eingeschätzt. Westliche Analysen belegen gerne den Vorsprung des Westens in Wirtschaft, technologischer Entwicklung und bei den Militärausgaben. Nur hat man ignoriert, was David Brooks „Aufstand der Schwachen“ genannt hat. Einer bemerkenswerten Harvard-Studie zufolge hat in asymmetrischen Kriegen zwischen 1800 und 1849 die schwächere Partei nur in 12 Prozent der Fälle ihre strategischen Ziele erreicht, in Kriegen, die zwischen 1950 und 1998 stattfanden, konnte sich die schwächere Seite in erstaunlichen 55 Prozent der Fälle durchsetzen. Man erklärt dies häufig mit der Tatsache, dass die schwächere Seite den Feind weder besiegen noch zerstören muss. Sie muss nur durchhalten, die Kriegsmaschinerie des Feindes stören und darauf warten, dass ihr zahlenmäßig überlegener Gegner den politischen Rückhalt verliert.
Und schließlich: Die Europäer haben nicht verstanden, wie verwundbar sich Putin im Inland gefühlt hat. Sein Gesellschaftsvertrag beruhte auf einem Versprechen: Er sorgt für wachsenden materiellen Wohlstand des russischen Durchschnittsbürgers, dafür hält der sich aus der Politik heraus. Im Moskauer Winter der Unzufriedenheit von 2012 zerbrach das Arrangement. Die Proteste überzeugten Putin, dass der Westen einen Regimewechsel wollte. Und in diesem Winter, als einige Vertreter der Elite rieten, doch mit den Demonstranten zu verhandeln, wurde Putin klar, dass die kulturelle und finanzielle Abhängigkeit der russischen Eliten vom Westen sein Regime verwundbar machten. Seitdem hat die „Nationalisierung“ der Eliten des Landes für ihn höchste Priorität. Putin hatte die Krim zu erobern – und auf die Ukraine zuzugreifen –, um sie bei der Stange zu halten. Es ist viel eher Russlands Innenpolitik als Russlands Sicherheitsbedürfnis, eher die Furcht vor einem westlich gesteuerten Regimewechsel als vor einer Expansion der NATO, die hinter Moskaus außenpolitischem Revisionismus steckten. Der Westen hat sich auf Putins Angst vor einem liberalen und demokratischen Russland konzentriert. Doch der hatte viel mehr Angst vor einer Abwendung der russischen Nationalisten, die ihm den Verlust der Ukraine nicht verziehen hätten.
Russland hat mehr als zehn Jahre nach einer europäischen Ordnung gesucht, die das Überleben des Regimes auch nach Putin sichern kann. Doch er will etwas, das der Westen weder versprechen will noch kann. 1943 hat Joseph Stalin die Kommunistische Internationale aufgelöst, um die Alliierten zu überzeugen, dass der Sieg über Nazi-Deutschland und nicht der Triumph der kommunistischen Revolution seine oberste Priorität ist. Fast parallel dazu hoffte Putin, dass der Westen seine Politik der Demokratieförderung beendet. Er möchte eine Zusicherung, dass der Kreml keine Proteste in Moskau und Minsk zu fürchten hat und dass westliche Regierungen und Medien solche Proteste verurteilen und nicht unterstützen. Pech für Putin: Es gibt keine „Demokratische Internationale“, die Demokratieförderung betreiben würde, wie die Komintern die internationale Revolution. Was nicht existiert, kann auch nicht aufgelöst werden. Dass der Kreml die territoriale Integrität der Ukraine verletzt hat, markiert also nicht den Beginn der Krise der europäischen Ordnung nach dem Kalten Krieg, sondern das Endstadium einer Krise, die schon lange anhält. Die Frage ist: Wie sollte Europa auf den Angriff auf seine Prinzipien und sein Modell reagieren?
Die Sanktionsfalle
Die EU hat richtig gehandelt, als sie harte Sanktionen gegen Russland verhängt hat. Nach der russischen Annexion der Krim und aufgrund der Destabilisierung der östlichen Ukraine durch Russland blieb dem Westen keine andere Wahl, als mit aller Härte zu reagieren. Eine zurückhaltendere Antwort hätte Moskau zu noch mehr Aggression eingeladen und zu einer noch tieferen Spaltung der EU geführt. Doch je effektiver die Sanktionen Russlands Wirtschaft schwächen, desto eher könnten sie die übergeordneten Ziele der EU untergraben.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs würden sich schwer irren, wenn sie glaubten, dass sie mit Russland so verfahren könnten wie mit Serbien in den neunziger Jahren. Eine Mehrheit der russischen Bevölkerung wird sich auch künftig nicht als Teil des europäischen Projekts sehen. Sanktionen kommen Putins Absicht entgegen, Russland möglichst vom Westen abzuschotten. Die Sowjetunion konnte den Osten noch mit Hilfe einer Mauer vom Westen trennen. Putin kann Russland nicht einfach von der Welt entkoppeln. Er hat auch keine Ideologie anzubieten, die die Russen davon überzeugen könnte, dass in der Isolation eine glorreiche Zukunft läge.
Dafür wendet er eine Taktik aus seinem geliebten Judo an und versucht, den Westen mit dessen eigenen Waffen zu schlagen. Beamte, die sich anfangs der Anordnung des Präsidenten widersetzten, ihr Geld von westlichen Banken nach Russland zu transferieren, tun wegen der Sanktionen nun genau das. Auf die Sanktionen kann Putin die eigenen ökonomischen Versäumnisse schieben und sie liefern ihm einen Vorwand, Russland mit einer Politik, die das Internet verstaatlichen, ausländischen Anteilsbesitz an den Medien verbieten und die Reisefreiheit beschränken will, von der Globalisierung abzuschotten. Die Sanktionen, die Putins engsten Kreis treffen sollten, haben auch die prowestlichen Vertreter der russischen Eliten marginalisiert und sie helfen ihm, Russlands Handelsbeziehungen weg vom Westen neu auszurichten. Der Zufluss ausländischer Direktinvestitionen aus Europa nach Russland ist in den drei Quartalen bis März 2014 um 63 Prozent zurückgegangen, die ausländischen Direktinvestitionen aus Asien, vor allem China, sind im ersten Quartal 2014 um 560 Prozent gestiegen.
Es gibt eine weitere Gefahr: nämlich, dass sich Russland angestachelt fühlen könnte, sich nicht nur ökonomisch, sondern auch militärisch mit dem Westen zu messen. Eine der großen Errungenschaften der Europäischen Nachbarschaftspolitik ist, dass sie den geopolitischen Wettbewerb in Osteuropa erfolgreich umdefiniert hat. Die EU hat versucht, ihre Peripherie durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration zu transformieren. Zwar hat die europäische Politik keine transformative Wirkung auf die schwache Politik ihrer Nachbarstaaten gehabt, doch sie hat anfangs erfolgreich die russische Außenpolitik verändert. Nach der Orangenen Revolution hat Russland versucht, in der Ukraine und in anderen postsowjetischen Staaten mit Europa zu konkurrieren, indem es die europäische Idee von Soft Power aufgriff. Doch diese Transformation ist bereits ins Wanken geraten. Russland denkt weniger als andere aufsteigende Mächte in ökonomischen Termini. Dass Russland eine nicht wettbewerbsfähige, eindimensionale Wirtschaft und ein mächtiges Militär hat (bis 2020 will die russische Armee 70 Prozent ihres Waffenbestands modernisieren), macht das Land viel anfälliger für politische Abenteuer als jede andere große aufsteigende Macht.
Nicht zuletzt könnten die Sanktionen des Westens den Untergang genau des internationalen Systems herbeiführen, das sie eigentlich schützen sollen. In den vergangenen Jahrzehnten haben westliche Mächte politischen Einfluss ausgeübt, indem sie mit der „Verbannung“ aus der Weltwirtschaft drohten. Ehemalige Kolonien wie Indien, China und Brasilien fanden es nie besonders akzeptabel, wenn der Westen globale Institutionen zur Durchsetzung seiner eigenen Interessen nutzte. Jetzt sind sie immer stärker bereit und fähig, internationale Institutionen mit alternativen Absprachen zu umgehen. Auf dem BRICS-Gipfel im Sommer 2014 haben sich die aufsteigenden Mächte geeinigt, eine neue Entwicklungsbank und einen Währungsfonds mit Sitz in Schanghai als Gegengewicht zu Weltbank und Internationalem Währungsfonds zu gründen. Innerhalb der G-20 haben die BRICS eine neue Fraktion gegründet, um eine antiwestliche Agenda durchsetzen zu können. Wenn der Westen nun versucht, diese Institutionen gegen Russland einzuspannen, könnten sich die aufsteigenden Mächte zusammenschließen. Um ein umfassendes Verständnis für die Wirkung der Sanktionen zu gewinnen, sollte man nicht nur den Schaden für die russische Wirtschaft berücksichtigen, sondern auch genau eruieren, ob Sanktionen die globale Legitimität der vom Westen geschaffenen Institutionen infrage stellen.
Die europäische Ordnung neu denken
Die Krise der europäischen Ordnung ist in vielerlei Hinsicht eine Krise der politischen Fantasie Europas. Die Europäer finden es schwer vorstellbar, dass eine Nation nicht davon träumt, der EU beizutreten oder in den Genuss ihres Regulierungsregimes zu kommen. Die größte Herausforderung also ist es, eine europäische Politik zu ersinnen, die nicht aus Russland ein Land machen will, das so ist wie wir, sondern die Strukturen für ein Russland schafft, mit dem wir leben können. Ein Blick auf das Verhältnis zwischen den USA und China – das von einer Mischung aus Einbeziehung und Ausgleich geprägt ist – mag dabei helfen. Der amerikanische Politikberater Joshua Cooper Ramo hat für diese Mischung den Begriff der „Co-Evolution“ geprägt. Ein solches Konzept erkennt an, dass die USA und China sowohl voneinander abhängen als auch miteinander konkurrieren. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass diese beiden Mächte ihre Unterschiedlichkeit akzeptieren können. Doch es gibt auch rote Linien für Verhalten, das beide Seiten existenziell bedrohlich finden.
Die EU muss eine europäische Variante einer „Co-Evolution“ finden, die es erlaubt, mit Russland zu koexistieren, aber auch wirksame rote Linien zu ziehen. Das könnte drei Kernelemente beinhalten: Abschreckung und Sicherheitsgarantien für die territoriale Integrität der EU-Mitgliedstaaten sowie klare Verteidigung der territorialen Integrität von Staaten auf dem europäischen Kontinent; einen Schutz des postmodernen EU-Modells durch Stärkung derwertebasierten Institutionen; und Entspannung dank einer Politik der Anerkennung und Zusammenarbeit mit der Eurasischen Wirtschaftsunion, die am 1. Januar 2015 in Kraft getreten ist.
Der NATO-Gipfel in Wales hat gezeigt, wie das Abschreckungselement in einer umfassenden EU-Strategie aussehen könnte. Die NATO wird für die europäische Welt der wichtigste Garant von Sicherheit bleiben. Die größte Herausforderung wird aber sein, Russland von Übergriffen in Staaten abzuhalten, die nicht zur NATO gehören. Die Schaffung der Europäischen Energieunion und die Verringerung der Abhängigkeit der EU von russischer Energie gehören ebenfalls zur Abschreckungsstrategie des Westens. Doch Russlands Vorgehen in der Ukraine zeigt, dass die traditionelle Politik der Abschreckung nicht ausreicht.
Als zweites Element könnte eine EU-Strategie die Stärkung und den Schutz der postmodernen Ordnung in der Union umfassen. Das bedeutet vor allem, dass unterschieden werden muss zwischen Institutionen, die für die „Kern“- Werte der postmodernen Ordnung stehen (wie die EU und der Europarat), und „Brücken“-Institutionen (wie die OSZE und die UN), die es ermöglichen, uns mit anderen Mächten einzulassen, die unsere Werte nicht teilen. Europas Politiker müssen die Kerninstitutionen festigen, die Brückeninstitutionen müssen hingegen flexibler und entgegenkommender werden.
Die russische Mitgliedschaft im Europarat beispielsweise hat nicht zu einer „Liberalisierung“ Russlands geführt, sondern zu einer Lähmung des Europarats. Es spricht Bände, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarats vor Kurzem abgestimmt hat, dass es in Aserbaidschan keine politischen Gefangenen gäbe. Die EU wird wohl darüber nachdenken müssen, ob sie Länder wie Russland und Aserbaidschan nicht besser ausschließt. Das ist keine leichte Entscheidung, vor allem, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine der wenigen Schutzinstitutionen für Menschenrechte in Russland ist. Doch die EU wird das gegen die Gefahr einer ständigen Aushöhlung der Kernprinzipien des Europarats abwägen müssen. Wir können und sollten an der Idee festhalten, dass die Europäische Menschenrechtskonvention eines Tages die Rechtsgrundlage für alle in Europa bilden wird – einschließlich Russlands und des Südkaukasus. Es ist aber nicht hilfreich, so zu tun, als sei dies heute schon der Fall. Dass die wertebasierten Institutionen gestärkt werden müssen, liegt an der wachsenden Popularität von Putins „souveräner Demokratie“ innerhalb der EU wie bei Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán. Die EU muss Orbán überzeugen, dass Putins Modell außerhalb der EU funktioniert, aber nicht innerhalb, und dass es nun an Ungarn ist, sich zu entscheiden.
Was die langfristigen Beziehungen zu Russland angeht, so hat das Nachdenken gerade erst angefangen. Man spricht jetzt wieder viel über „containment“. Aber wie könnte das aussehen in unserer verflochtenen Welt? Hören wir auf, mit russischen Firmen Geschäfte zu machen, verbannen wir russische Touristen? „Containment“ klingt vielversprechend, bleibt aber rätselhaft. Der Westen kann die Annexion der Krim niemals anerkennen, so wie er auch die Besetzung der baltischen Staaten durch die Sowjetunion nicht anerkannt hat. Und er wird die Sanktionen aufrechterhalten müssen für all jene, die von der Besetzung profitieren. Doch einfach umfassende Sanktionen in Kraft zu lassen, in der Hoffnung, dass Russland seine Politik eines Tages ändert und die Krim an die Ukraine zurückgibt, ist auch keine Option.
Russland ist zu groß, zu wichtig und zu sehr eingebettet in das internationale Institutionengefüge, um darauf zu hoffen, dass wir das Land zu unseren Bedingungen isolieren können. Und viel wichtiger ist: Putin fürchtet Isolation nicht. Er begrüßt sie, denn sie könnte ja bestehende Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten verschärfen, die Wettbewerbsfähigkeit der EU auf dem globalen Markt verringern und die Ukraine zu dauerhafter Instabilität verdammen. Sanktionen waren als Antwort auf Russlands feindlichen Überfall notwendig und sie haben dem Westen Einfluss verschafft. Dieser muss dazu genutzt werden, den Konflikt im Donbass vom Schlachtfeld an den Verhandlungstisch zu verlagern. Doch wenn sich die EU an diesen Tisch setzt, wird sie eine Strategie für die Wiederaufnahme ihrer Beziehungen zu Russland brauchen.
Diese Krise begann wegen eines Streites über die Frage, ob die Ukraine zur Östlichen Partnerschaft der EU oder zu Russlands Eurasischer Union (EEU) beitreten würde. Das Paradoxe an der heutigen Situation ist: Nun, da Russland die Krim eingenommen, aber die Ukraine verloren hat, könnte eine Hoffnung für eine neue Russland-Strategie in den (potenziellen) Beziehungen der EU zur EEU liegen. Die Möglichkeiten, die sich aus Putins EEU-Projekt ergeben, nicht erkannt zu haben – das ist der Kern der heutigen Krise. Die Gründung der EEU ist ein starker Beweis für die Soft Power der EU, denn sie ist auch ein Versuch Moskaus, Status und Anerkennung zu erlangen, indem es die Strukturen der EU imitiert. Die EEU sollte attraktiv sein für die EU, weil sie das einzige Projekt ist, das Russland von seiner Politik des militärischen Drucks und von seiner nationalistischen Rhetorik wegführen kann.
Wenn die EU in Aussicht stellen würde, Beziehungen zur EEU aufzunehmen, wäre das ein klares Signal an Moskau, dass die Europäer Russlands Recht auf einen eigenen Integrationsprozess anerkennen. Es würde zeigen, dass die neue europäische Ordnung nicht auf einer ewigen Weiterführung der Erweiterung von EU und NATO fußt. Stattdessen würde die neue Ordnung als Kooperation und Wettbewerb zwischen zwei Integrationsprojekten formuliert, die zwar auf verschiedenen Philosophien basieren, aber offen sind für Doppelmitgliedschaften, Überschneidungen und Kooperationen. Die neue Ordnung würde ihre Unparteilichkeit unter Beweis
stellen und zeigen, dass die EU das Recht der postsowjetischen Staaten anerkennt, sich für das Integrationsprojekt ihrer Wahl zu entscheiden. Wenn die EU bereit wäre, Armeniens „eurasische Entscheidung“ zu akzeptieren, dürfte Brüssel im Gegenzug Moskau dazu drängen, die „europäische Entscheidung“ Moldaus und der Ukraine hinzunehmen.
Natürlich ist die EEU in den Augen der meisten Europäer ein mit Mängeln behaftetes Projekt. Dabei könnte sie die größte Chance der EU sein, den Wettbewerb zwischen Russland und dem Westen vom militärischen Feld zurück auf das ökonomische zu bringen. Zudem ist die EEU ein interessanter Einstiegspunkt, denn sie würde zumindest eine gewisse Beschränkung der russischen Politik und der Macht des Kremls mit sich bringen.
Russland hat Europas Traum zerschlagen: von einer Zukunft, in der die postmoderne Insel EU den ganzen Kontinent umfasst. Doch auch Europa ist nicht in den Kalten Krieg zurückgefallen. In der damaligen Konfrontation zwischen Moskau und dem Westen ging es darum, wer eine „bessere“ Welt bieten kann. Der heutige Konflikt zwischen Russland und der EU handelt davon, wer in der „echten“ Welt lebt. Seit 25 Jahren halten die Europäer einem bockigen Russland Vorträge und werfen ihm vor, es leide an Realitätsverlust. Nun muss die EU mit harten Wahrheiten fertig werden. Europa sollte seine transformative Kraft darauf konzentrieren, den eigenen politischen Raum zu festigen, der jetzt auch die Ukraine und Moldau umfasst, und die „echte“ Welt jenseits der eigenen Grenzen zu akzeptieren. Die EU kann zurzeit nicht darauf setzen, Russland zu ändern. Aber sie sollte sich davor hüten, das Land zu isolieren. Das ist die Unordnung in der neuen europäischen Ordnung.
Mark Leonard ist Mitbegründer und Direktor des European Council on Foreign Relations.
Ivan Krastev ist Vorsitzender des Center for Liberal Strategies in Sofia. Sein jüngstes Buch: „Democracy Disrupted. The Global Politics on Protest“ (2014)
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2015, S. 42-51