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01. Apr. 2008

»Die Sirenen schrillen«

Der Chefökonom der Internationalen Energieagentur (IEA) im Gespräch

Energiehunger trifft Energieknappheit: Während die Nachfrage nach Öl wächst, sinkt die Förderung – es drohen Lieferklemmen, eskalierende Preise, Inflation. Im Gespräch mit der Energiepolitikerin Astrid Schneider fordert der Chefökonom der IEA, Fatih Birol, die Mitgliedsstaaten zu einem Politikwechsel auf. Sein Motto: Wir sollten das Öl verlassen, bevor es uns verlässt.

Astrid Schneider: Herr Birol, in Ihrem im November 2007 veröffentlichten „World Energy Outlook“ (WEO) warnt die Internationale Energieagentur erstmals davor, dass es zu einem Einbruch in der Ölförderung und eskalierenden Preisen kommen könnte, in der Zeit von heute bis 2015. Als Grund geben Sie an, dass zu wenig in die Ölförderung investiert wurde.
Fatih Birol: In der Tat. Es gibt drei Gründe, warum das so ist: Der erste ist die sehr stark wachsende Nachfrage, hauptsächlich aus China, Indien und den Mitteloststaaten selbst. Diese Länder sind die Hauptmotoren des wachsenden Ölkonsums. Selbst wenn es in den USA eine Rezession gibt, berührt das diese Länder weniger, da Indien und China ein stärker binnengetriebenes Wirtschaftswachstum haben, während die hohen Ölpreise die Wirtschaft im Mittleren Osten ankurbeln. Die Ölnachfrage wird daher stark bleiben.

Schneider: Der zweite Grund …?
Birol: … ist, dass wir auf Seiten der Ölförderung ein steiles Absinken der Fördermengen aus den existierenden Ölfeldern sehen, speziell in der Nordsee, den USA und etlichen Nicht-OPEC-Ländern. Allein hier müsste viel Geld investiert werden, um dieses Absinken zu verlangsamen. Der dritte Grund, warum wir ein Risiko für die Gesamtförderung erwarten ist, dass wir weltweit alle neuen Ölförderprojekte angesehen haben: insgesamt 230, in Saudi-Arabien, Venezuela, der Nordsee, überall. Selbst wenn alle diese bereits finanzierten Projekte in den nächsten Jahren realisiert werden, ist die Gesamtkapazität, die sie an neuer Ölförderung bringen können, zu gering.

Schneider: Wie viel fehlt?
Birol: Genau 12,5 Millionen Barrel pro Tag fehlen noch immer, rund 15 Prozent des Weltölbedarfs (der heutige Weltölverbrauch beträgt 84 Millionen Barrel, Anm. d. Red.). Diese Lücke bedeutet, dass wir in den nächsten Jahren eine Lieferklemme und sehr hohe Preise erleben könnten.

Schneider: Ist das noch zu verhindern?
Birol: Um den Ausweg zu schaffen, gibt es nur drei Wege: Erstens müssen wir die Energieeffizienz drastisch steigern und insbesondere sparsamere Autos, Lastwagen und Flugzeuge bauen, um den Anstieg des Ölkonsums zu verlangsamen. Zweitens müssen wir mehr alternative Treibstoffe im Verkehrssektor nutzen. Wenn man sich jedoch ansieht, was die Regierungen gesetzgeberisch im Bereich der Effizienzsteigerung machen, bin ich wenig hoffnungsvoll, dass es zu einem solchen Politikwechsel kommt. Und drittens brauchen wir viele zusätzliche Ölförderprojekte, besonders in den Schlüsselländern der OPEC.

Schneider: Sie schreiben, dass 5,4 Billionen Dollar investiert werden müssten, um den wachsenden Weltölbedarf zu decken. In welchen Ländern sollte das Geld genau investiert werden?
Birol: In den ölreichen Staaten des Mittleren Ostens – allerdings bin ich mir nicht sicher, dass diese Staaten und ihre Ölgesellschaften so viel investieren werden, wie nötig wäre, da sie möglicherweise denken, es liegt nicht in ihrem Interesse, die Produktion stark zu erhöhen, damit die Preise hoch bleiben. Ein weiterer Teil der Investitionen müsste in die OECD-Staaten gehen, die USA und die Nordsee, um dort das Absinken der Ölförderung zu vermindern.

Schneider: Im WEO 2007 steht, dass der steile Rückgang der Ölförderung zwischen 3,7 und 4,2 Prozent pro Jahr betragen wird. Ist das richtig?
Birol: Exakt.

Schneider: Dieses Absinken ist ja sogar steiler, als ihn die Energy Watch Group vorausgesagt hat!
Birol: Ich kann Ihnen bereits hier bekannt geben: In unserem „Weltenergie Ausblick 2008“, den wir Anfang November veröffentlichen, werden wir uns intensiv mit den Aussichten der Öl- und Gasförderung beschäftigen. Wir werden die 350 wichtigsten Öl- und Gasfelder ansehen und untersuchen, wie stark die Fördermengen absinken und was das bedeutet.

Schneider: Was meinen Sie?
Birol: Meines Wissens wird es die erste umfassende öffentliche Studie sein, in der wir unser Denken darüber überprüfen und revidieren, wie viel Öl und Gas auf den Markt kommt. Dabei werden etliche Leute neue Schlussfolgerungen ziehen.

Schneider: Eine der Aussagen des „World Energy Outlook 2007“ ist, dass die gesamte erforderliche zusätzliche Ölförderung aus den OPEC-Staaten und speziell dem Mittleren Osten kommen muss. Salem el-Badri, der Generalsekretär der OPEC, hat im Februar auf einer Konferenz zur Energiesicherheit in London angekündigt, dass die OPEC bis 2012 200 Milliarden Dollar investieren will, um fünf Millionen Barrel (mb) pro Tag neue Förderkapazität zu schaffen. Diese Menge steht aber im scharfen Kontrast zum „WEO 2007“, dort heißt es, dass bis zum Jahr 2020 rund 24 mb pro Tag an neuer Kapazität notwendig sind, um den wachsenden Öl-Verbrauch zu decken. De facto kündigt Salem el- Badri also an, dass die OPEC die Erwartungen nicht erfüllen wird. Bedeutet das nicht, dass wir ein ernstes Problem bekommen?
Birol: In der Tat, das ist auch der Grund, warum wir dieses Jahr zum ersten Mal die Situation eines „Supply Crunch“, einer Versorgungskrise, darstellen. Zwischen der Höhe des Weltmarktbedarfs an Öl und dem, was wirklich aus dieser Region auf den Markt gebracht werden wird / gebracht werden kann, besteht eine Kluft. Wir sind der Ansicht, dass die Ölproduzenten ihre Fördermenge bedeutend erhöhen müssten, wir sind uns aber nicht sicher, dass sie es tun werden oder können.

Schneider: Weil sie es nicht wollen?
Birol: Schauen wir auf die Zahlen bis 2015, wird es eine Lücke geben zwischen unseren Erwartungen und dem, wie stark die Ölproduzenten Willens oder in der Lage sind, ihre Kapazität zu erhöhen. Diese Lücke zeigt das ernste, reale Bild des Ölmarkts. Es könnte einen „Supply Crunch“ und eskalierende Preise bedeuten.

Schneider: Was ich also im WEO sehe, ist eher – wenn ich das so sagen darf – eine Wunschliste?
Birol: Das kann man wohl so sagen. Ich denke, dass wir uns in einer neuen Weltölordnung bewegen. Die neuen Akteure, die entscheiden werden, wie viel Öl auf den Markt kommt, sind hauptsächlich staatliche Ölgesellschaften. Aus vielerlei Gründen wird es nicht mehr so einfach werden wie zuvor.

Schneider: Die Energy Watch Group hat in ihren Studien herausgearbeitet, dass die Ölreserven im Mittleren Osten wahrscheinlich um rund 50 Prozent zu hoch eingeschätzt werden. Wenn Sie heute die Staaten des Mittleren Ostens bitten, mehr Produktionskapazität auf den Markt zu bringen, wie gut ist dann Ihr Wissen über deren Ölreserven und darüber, wie viel sie produzieren könnten, wenn sie wollten?
Birol: Wir reden hier über ein wichtiges Thema, und eine Hauptaussage, die ich vom WEO 2008 erwarte, ist mehr Transparenz in Bezug auf die Ölreserven, sowohl der staatlichen Ölgesellschaften als auch der internationalen Ölgesellschaften.

Schneider: Auf wen spielen Sie an?
Birol: Erinnern wir uns nur daran, dass auch eine äußerst bekannte internationale Ölgesellschaft kürzlich ein großes Problem bekam, weil sie nicht genügend Transparenz hatte. Die IEA würde daher gerne mehr Offenheit in Bezug auf die Ölreservedaten sehen – es mag zwar das eigene nationale Gut der Staaten sein, aber der Rest der Welt, die anderen Ökonomien, das Gemeinwesen aller hängt davon ab. Im Moment fliegen wir fast blind und brauchen dringend mehr Klarsicht!

Schneider: Hilft Transparenz allein?
Birol: Selbst wenn die Ölreserven Saudi-Arabiens um 50 Prozent falsch eingeschätzt sein sollten, könnten sie ihre laufende Produktion von 12 mb pro Tag auf 18 mb erhöhen. Aber ich glaube nicht, dass sie mit ihrer Förderung in den nächsten 25 Jahren so stark anziehen. Das Hauptproblem ist also dreifacher Natur: Geologie, Investitionen, Produktionspolitik der Hauptförderländer. Diese drei Aspekte zusammen führen dazu, dass die Zukunft des Öls äußerst schwierig sein wird.

Schneider: Wenn ich mir alle diese Länder ansehe, gibt es große Probleme: Russland, mit seiner restriktiven Politik gegen ausländische Ölkonzerne und gegen marktorientierte Ölkonzerne wie Yukos, der Iran und Irak sind internationale Krisenherde, Saudi-Arabien fährt eine gewisse Politik der Zurückhaltung und scheint für westliche Firmen nicht sehr zugänglich zu sein …
Birol: … in der Tat, aber das ist auch legitim.

Schneider: … und nicht zuletzt Venezuela, das gerade die Ölexporte an den US-Energiekonzern Exxon Mobil gestoppt hat. Diese Länder besitzen zusammen 60 Prozent der Weltölreserven. Aber wir haben de facto keinen Zugang zu ihnen, weder politisch noch wirtschaftlich.
Birol: Das bedeutet großen Stress für alle und für unsere Wirtschaftssysteme. Wenn ich mir die Zukunft ansehe, sehe ich im Energiesektor drei strategische Herausforderungen: Die erste ist die Öl- und Gassicherheit. Gerade erst hat Russland seine Gaszufuhr in die Ukraine um 25 Prozent abgesenkt. Die zweite ist der Klimawandel. Und die dritte, und man muss eingestehen, wir sprechen nicht viel darüber, ist die Verbindung zwischen Energie und Armut, zum Beispiel in Afrika. Heute leben 40 Prozent der Weltbevölkerung, das sind 1,6 Milliarden Menschen, ohne Zugang zu Strom.

Schneider: Werden wir alle drei Herausforderungen lösen können?
Birol: Wenn man sich die Dimension ansieht, glaube ich nicht, dass die Märkte allein die Probleme lösen können. Wir können ihnen nicht alles überlassen! Sowohl die nationalen Regierungen als auch die internationalen Institutionen müssen die Regeln mit bestimmen und ihnen auch folgen. Dazu ist das Thema zu wichtig.

Schneider: Mit Ihrer Warnung vor Engpässen auf dem Ölmarkt stehen Sie nicht allein – auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos räumte auch der Vorstandsvorsitzende von Shell, Jeroen van der Veer, erstmals ein, dass konventionelles Öl und Gas ab 2015 nicht mehr ausreichen werden, um den steigenden Weltbedarf zu decken. Ergibt sich daraus nicht ein weiteres Absinken der Produktion?
Birol: Mehrere Leute glauben jetzt, dass die weltweite Öl- und Gasproduktion schon bald in schwieriges Fahrwasser geraten könnte, aber dies liegt nicht nur an der Erschöpfung der Ressourcen. Mangelnde Investitionen sind ein anderes Problem, ein weiteres ist, dass manche Ölländer die Produktion nicht erhöhen wollen.

Schneider: Was man ihnen nicht vorwerfen kann, oder?
Birol: Nein. Bevor ich zur IEA kam, war ich mehrere Jahre bei der OPEC in Wien. Und jeder Ölmann hatte dieselbe Überlegung: Ich nutze nicht alles Öl, welches ich heute habe, sondern lasse etwas für meine Kinder und Großkinder übrig, so dass sie auch noch Geld machen können. Und ich habe Verständnis dafür. In vielen Förderländern ist Öl die einzige oder zumindest Haupteinnahmequelle.

Schneider: Wie lautet Ihre Schlussfolgerung?
Birol: Ich wäre sehr überrascht, wenn die Ölförderung in den nächsten 20 bis 25 Jahren leicht, sagen wir auf 120 Millionen Barrel pro Tag, problemlos ansteigen würde. Selbst wenn das Potenzial da sein sollte, werden wir dieses Öl nicht auf den Markt bekommen. Die Schlussfolgerung lautet, dass wir darauf gefasst sein sollten, in den nächsten Jahren äußerst enge, turbulente und hochpreisige Ölmärkte zu sehen – für die Wirtschaft wird es nicht gut sein.

Schneider: Angenommen, die Ölpreise eskalieren – wen trifft es zuerst?
Birol: Es wird darum gehen, wer sich X-Dollar pro Barrel leisten kann und wer nicht. Die einen werden diejenigen sein, die das können, die anderen eben nicht. Die OECD-Staaten werden zu den Glücklichen gehören, aber die Entwicklungsländer werden die …

Schneider: …Verlierer sein …
Birol: … Genau!

Schneider: Wenn ich Sie eben richtig verstanden habe, sagen Sie, dass die Ölnachfrage global um rund drei Prozent pro Jahr wachsen könnte, während wir von heute bis 2015 mit einem Absinken der Förderung um jährlich vier Prozent konfrontiert sein könnten. Das würde sich in einem Jahr zu sieben Prozent summieren, die fehlen!
Birol: Die Nachfrage wird vielleicht ein wenig langsamer steigen. Aber es könnte eine große Lücke bestehen zwischen dem, was da sein sollte und dem, was da sein wird, besonders, wenn wir nicht massive Anstrengungen in Angriff nehmen, um die Effizienz der Autos zu verbessern oder den Wechsel von Autos zu anderen Systemen. Wenn wir keine Maßnahmen auf der Verbrauchsseite ergreifen, wächst der Verbrauch so wie bisher. Und wenn dann nicht genügend Investitionen in die Förderung getätigt werden, geraten wir ins Schleudern.

Schneider: Wenn man allerdings an den Lebenszyklus von Gütern denkt, an die langen Investitionszyklen von Motoren, Kraftwerken oder Klimaanlagen: Glauben Sie, dass die Anpassung der Verbrauchsseite an einen niedrigeren Versorgungspfad so schnell erfolgen kann?
Birol: Nein, aber ich denke nicht, dass die Preise gleich sofort X-fach ansteigen. Wir könnten einen graduellen Anstieg sehen und das wird den Menschen etwas Zeit geben, sich anzupassen. Schauen wir langfristig, wird jedoch klar: Ob das Öl im Jahr 2030 zu Ende ist oder im Jahr 2040 oder 2050, ändert daran nichts.

Schneider: Das sagen Sie?
Birol: Ja, eines Tages wird es definitiv zu Ende sein! Und ich denke, wir sollten das Öl verlassen, bevor das Öl uns verlässt. Das sollte unser Motto sein. Also sollten wir uns auf diesen Tag vorbereiten – durch Forschung und Entwicklung, wie wir Öl ersetzen können, welche Lebensstandards wir halten, welche Alternativen wir entwickeln können.

Schneider: Wie wird die Weltwirtschaft auf eine neue Ölkrise reagieren?
Birol: Kommt es zu einer großen Lücke zwischen Angebot und Nachfrage, wird das die Volkswirtschaften schwer treffen – allerdings global sehr unterschiedlich. Die deutsche Wirtschaft wird viel weniger davon getroffen werden als ein Land in der Sahel-Zone. Gleichwohl erwarten wir auch für die OECD-Staaten, dass sich das Wirtschaftswachstum abschwächt, die Inflation ankurbelt und die Arbeitslosenzahlen steigen.

Schneider: Und die armen Länder?
Birol: In den armen Ländern, besonders in Schwarzafrika, in Indien und ähnlichen Ländern, wird es deutlich schlimmere Auswirkungen haben. So haben wir zum Beispiel berechnet, dass die Öl importierenden schwarzafrikanischen Länder in den letzten drei Jahren durch den höheren Ölpreis drei Prozent ihres Wirtschaftswachstums verloren haben. Wir sollten nicht vergessen, dass die Hälfte der Menschen in diesen Ländern unterhalb der Armutsgrenze von einem Dollar pro Tag lebt.

Schneider: Sehen Sie die Gefahr von kriegerischen Konflikten zwischen ressourcenreichen und ressourcenarmen Ländern, verursacht durch die Spannungen auf den Weltmärkten?
Birol: In meinem professionellen Mandat spreche ich nicht viel über Krieg und ähnliches. Aber was ich Ihnen sagen kann ist, dass Energiefragen und Geopolitik zu sehr miteinander verwoben werden. Die Energieversorgung wird weniger und weniger ein Geschäft und mehr und mehr zu einem Geschäft plus Geopolitik! Das ist keine gute Nachricht, ich schätze das überhaupt nicht. Was wir brauchen, ist der Dialog zwischen den Produzenten und Konsumente

Schneider: Sie haben davon gesprochen, dass wir am Vorabend einer neuen Weltenergieordnung stehen. Wer sind die neuen Player?
Birol: Auf der Verbraucherseite klar China und Indien. Sie waren einmal sehr kleine Marktteilnehmer und wir haben sie in den Energiekrimis bisher nicht gesehen. Sie haben nur auf der Straße teilgenommen, aber heute wachsen sie mehr und mehr zu den großen Akteuren heran.

Schneider: Und auf der Erzeugerseite?
Birol: Da sind es die Hauptölförderländer: Saudi-Arabien, der Iran, Irak, Kuwait, die Vereinigten Arabischen Emirate und Russland. Alle diese Länder haben eines gemeinsam: die Öl- und Gasproduktion wird durch staatliche Ölgesellschaften bestimmt statt von den Märkten selbst. Das verändert das Spielszenario. Es gibt nicht nur neue Akteure, sondern eine neue Situation. Die reichen OECD-Länder werden dagegen weniger und weniger relevant. Sie sind immer noch wichtig, aber sie spielen eine geringere Rolle, wenn wir in die Zukunft schauen.

Schneider: Die gesamte Weltwirtschaft ist also von einigen wenigen Ölförderländern abhängig – und diese Länder, die Sie gerade aufgezählt haben, sind nicht gerade demokratisch.
Birol: Jedes dieser Länder hat sein eigenes politisches System, welches es auch selbst wählen sollte. Was wir allerdings gerne sehen würden, wäre eine größere Marktöffnung dieser Länder. Der freie Kapitalfluss wird sehr wichtig sein, so dass jeder investieren kann, wie er will. Aber am Ende sind diese Länder frei, sie selbst entscheiden, welches Energie- und politische System sie wollen.

Schneider: Was bedeutet das für uns?
Birol: Zumindest sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass Öl und Gas künftig aus Ländern kommt, in denen die Entscheidungen darüber von staatlichen Ölgesellschaften getroffen werden. Das ist anders als in der Vergangenheit, als mehr marktorientierte Gesellschaften geliefert haben. Das ist eine entscheidende Veränderung.

Schneider: Die IEA hat einerseits die Aufgabe, den Ölmarkt zu beobachten und andererseits, die OECD-Länder zu warnen, wenn sie Unterbrechungen und Probleme auf dem Weltölmarkt sieht. Wie laut läuten denn inzwischen die Alarmglocken?
Birol: Wir reden hier über zwei verschiedene Funktionen. Eine davon ist, dass wir im Falle eines realen physischen Ölproblems, wenn nicht genügend Öl im Markt ist, Vorräte auf den Markt bringen. Das haben wir zum Beispiel getan, als im Jahr 2005 in den USA der Hurrikan Katrina hereinbrach. Die zweite Aufgabe ist, wie Sie sagten, „die Alarmglocke zu läuten“. Das haben wir letztes Jahr getan.

Schneider: Sie haben schon geläutet? Wann?
Birol: Eben mit dem „World Energy Outlook 2007“. Er war ein deutliches Signal an die Regierungen aller unserer Mitgliedsstaaten. Sie nehmen die Energie- und Ölsicherheit nun sehr viel ernster als zuvor. Und wenn wir dieses Jahr im November den „World Energy Outlook 2008“ vorstellen, halte ich es für denkbar, dass die Sirenen noch lauter schrillen könnten.

Schneider: Aber gibt es denn keinen Mechanismus, mit dem Sie die Staatschefs oder Wirtschaftsminister zusammenrufen können, um mit ihnen die Ölversorgungskrise zu besprechen?
Birol: Doch, kommt es zu einer Versorgungskrise, haben wir alle Mechanismen etabliert. Wir nennen es eine so genannte Notfallsituation, so dass wir uns innerhalb von wenigen Stunden mit den Regierungen aller Mitgliedsstaaten austauschen können. Das haben wir beim Hurrikan Katrina getan.

Schneider: Sehen Sie da nicht einen Unterschied? Auf der einen Seite eine Krise, ausgelöst durch eine Naturkatastrophe, in deren Folge Ölplattformen zerstört werden, und auf der anderen Seite so etwas wie einen „langfristigen Notfall“?
Birol: Doch – und das ist der Grund, warum wir unsere Mitgliedsstaaten gebeten haben, neue Politiken umzusetzen. Gerade vor kurzem erst haben etwa die USA und Japan neue Richtwerte für Autos in Kraft gesetzt, um den Energieverbrauch zu reduzieren. Wir brauchen hierfür dringend neue Regeln und Standards. Europa versucht noch, dieselben Standards umzusetzen, aber ich weiß, dass einige Länder damit ihre Schwierigkeiten haben …

Schneider: … Deutschland etwa.
Birol: Sie scheuen sich noch, das umzusetzen, aber ich denke, sie bekommen von uns die Botschaft, es zu tun. All das sind Beispiele, wie wir gegenwärtig die Alarmglocken läuten, und wir läuten sie sehr laut. Ich kann Ihnen sagen, dass ich sehr erfreut bin zu sehen, dass viele Minister sich nun in die richtige Richtung bewegen – aber es reicht noch nicht. Besonders, wenn man die getroffenen Maßnahmen mit der Dimension des Problems vergleicht, mit dem wir konfrontiert sind.

Schneider: Aber ist es nicht an der Zeit, ein klareres Signal zu geben? Zumal in den OECD-Staaten noch immer viel Geld fehlinvestiert wird – etwa durch den Bau neuer Flughäfen, obwohl es gar nicht genügend Öl mehr gibt, um den Luftverkehr stetig auszuweiten? Und dass Geld besser in den öffentlichen Nahverkehr gesteckt werden sollte, um den Autoverkehr zu reduzieren?
Birol: Wir erzählen das ja nicht nur unseren Mitgliedsstaaten, sondern auch in Peking oder Neu-Delhi. Wir haben unseren indischen und chinesischen Kollegen erklärt, wie Energieeffizienz ihnen helfen, wie öffentlicher Transport ihr Leben verändern kann und wohin die Infrastrukturinvestitionen gehen sollten. Aber am Ende ist es Sache der Regierungen, wie ernst sie unsere Warnungen und Mitteilungen nehmen.

Schneider: Wäre es angesichts der drohenden Versorgungskrise nicht an der Zeit, dass die IEA eine Regierungskonferenz zur Energiekrise einberuft?
Birol: Wir diskutieren und überprüfen die Lage regelmäßig. Der nächste wichtige Schritt wird der WEO 2008 sein, im Jahr 2009 laden wir zu einem Ministertreffen, und ich erwarte, dass die Energiesicherheit zusammen mit der Klimafrage ganz oben auf der Tagesordnung steht. Aber noch einmal: Es hängt von den Regierungen ab, Maßnahmen zu ergreifen. Wir haben sie gewarnt.

Schneider: Wir haben bisher nur über Öl gesprochen, da es den größten Anteil im Weltenergiemix hat. Allerdings sagt die Energy Watch Group, dass wir auch andere Ressourcen wie Uran oder Kohle nicht einfach in doppelter Menge verfeuern können, sobald sich das Öl verringert. Von Klimafragen abgesehen, sind auch diese Energieträger nicht mehr in ausreichenden Mengen vorhanden. Was sagt die IEA zu diesem Dilemma?
Birol: Kohle und Uran sind unterschiedlich. Kohle haben wir weltweit, wir haben riesige Vorkommen. Aber das Problem ist – sofern wir den Klimawandel einmal beiseite lassen – dass es immer schwieriger wird, Kohle von den Minen zu den Zentren des Konsums zu transportieren. Nachdem wir bereits über die Ölpreise gesprochen haben, kann ich sagen, dass sich die Kohlepreise zwischen Anfang 2006 und heute mehr als verdoppelt haben. Sie steigen ebenfalls stark an, weil China nun ein wichtiger Importeur wird, während wir andererseits keine wesentliche Ausweitung der Förderung sehen.

Schneider: Wie schätzen Sie die Situation beim Uran ein? Heute kommen nur 60 Prozent des laufenden Verbrauchs aus Minen, der Rest aus Lagerbeständen, die bald verbraucht sein werden.
Birol: Bei den Uranreserven sehen wir keine Probleme für die Zeit nach 2015 bis 2020, sofern Explorationsarbeiten in einigen Schlüsselregionen wie der kaspischen Region, etwa Kasachstan, Australien, Südafrika und anderswo erfolgen. Ich denke nicht, dass die Uranversorgung das Hauptproblem für die Atomwirtschaft ist, es ist mehr die öffentliche Akzeptanz.

Schneider: Vor dem Hintergrund der Knappheiten und Probleme von Öl, Kohle und Gas haben wir in den letzten Jahren von der OECD, der IEA oder auch den Vereinten Nationen gehört, wir sollten mehr Atomkraftwerke bauen, um den Klimawandel zu bekämpfen. Allerdings müsste sich die Anzahl der Atomkraftwerke verdreifachen oder vervierfachen, um überhaupt einen Beitrag zu liefern. Wie lautet Ihre Lösung?
Birol: Um die Erwärmung auf zumindest zwei Grad zu begrenzen, müssen wir unser Energieerzeugungssystem ändern – und wir haben vier Möglichkeiten, das klimaneutral zu tun: Energieeffizienz, erneuerbare Energien, CO2-Abscheidung und Atomkraft. Wenn man die notwendige CO2-Reduktion auf diese Techniken aufteilt, müssten wir jedes Jahr weltweit 30 neue Atomkraftwerke bauen. Das ist aber fast unmöglich, heute bauen wir weltweit etwa 1,5 neue Atomkraftwerke pro Jahr.

Schneider: Also scheidet auch die -Renaissance der Kernenergie aus?
Birol: Der Anteil der Atomkraft sollte zumindest bei den heutigen 15 Prozent des Strommix bleiben. Wenn mich die Leute in meinem eigenen Land fragen, ob sie ein Atomkraftwerk bauen sollen, nenne ich ihnen die Vor- und Nachteile. Aber ich sage ihnen auch, dass ein Atomkraftwerk nicht gegen den Willen der Menschen, die in der Umgebung leben, gebaut werden sollte. Es mag gut für die Makroökonomie sein, gut für die Energiesicherheit und gut für den Klimaschutz, aber wenn es für die Leute vor Ort ein Problem ist, sollten wir das bei der Planung unbedingt mit berücksichtigen.

Krisenerprobt

Die Internationale Energieagentur (IEA)

Die IEA wurde 1973 als Reaktion auf die Ölkrise gegründet; erst später etablierte sie sich institutionell im Rahmen der OECD. Ihre 27 Mitgliedsstaaten setzen sich fast ausschließlich aus den ölverbrauchenden westlichen Industriestaaten zusammen, neben etlichen EU-Ländern die Türkei, Norwegen, Kanada, USA, Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea. Nicht-OECD-Mitglieder haben laut Statut keinen Zugang. Staaten mit hohem Energieverbrauch wie China und Indien oder Produzentenländer wie die OPEC-Staaten und Russland gehören der IEA daher nicht an, sie sollen jedoch künftig stärker in ihre Arbeit einbezogen werden.

Hauptaufgaben der IEA sind die Beobachtung des Ölmarkts und die Entwicklung von Kriseninterventionsmechanismen. Um auf kurzfristige Lieferunterbrechungen, etwa durch Naturkatastrophen, reagieren zu können, bevorraten ihre Mitgliedsstaaten Ölreserven für drei Monate. Bisher wurde die Voraussage der weltweiten Öl- und Ressourcenproduktion von der IEA vor allem als Funktion der Nachfrage definiert. Im vergangenen Jahr warnte sie jedoch erstmals öffentlich vor Engpässen und Preissteigerungen bei der Ölförderung.

Auswege gesucht

Die Energy Watch Group (EWG)

Die Energy Watch Group wurde 2006 auf Initiative des grünen Bundestagsabgeordneten Hans-Josef Fell gegründet. Träger ist die Ludwig Bölkow Stiftung, die seit den achtziger Jahren großtechnische Lösungen für eine umweltfreundlichere Energieerzeugung erforscht.

Unabhängig von Regierungs- und Unternehmensinteressen soll die EWG wissenschaftliche Studien über die Verknappung fossiler und nuklearer Energieressourcen erstellen, Ausbauszenarien für regenerative Energien entwerfen und daraus Strategien für eine langfristig sichere -Energieversorgung ableiten. Im Jahr 2007 publizierte die EWG Ressourcenstudien zu den Vorräten und Förderaussichten von Kohle, Uran und Öl, die von der Ludwig-Bölkow-Systemtechnik Gmbh ausgeführt wurden. Dabei erlangte die Ölstudie, die das Maximum der weltweiten Ölförderung, den so genannten Peak Oil, erstmals auf das Jahr 2006 datierte, weltweite Aufmerksamkeit. Weniger bekannt wurden die Ergebnisse der Kohle- und Uranstudie, die auch für diese fossilen Energieträger baldige Begrenzungen der Fördermengen voraussagen und davor warnen, dass sie das versiegende Öl nicht ersetzen können.

Dr. FATIH BIROL, geb. 1958 in der Türkei, ist Chefökonom und Leiter der Abteilung Wirtschaftliche Analyse der Internationalen Energieagentur (IEA) in Paris. Er ist verantwortlich für den World Energy Outlook, die wichtigste Publikation der IEA zu Energiemärkten und -ressourcen.

ASTRID SCHNEIDER, geb. 1965, ist Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Energie von Bündnis 90 / Die Grünen und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Energy Watch Group, sowie Mitglied im Post Fossil Institut. Zu ihren Initiativen zählte u.a. das „solare Regierungsviertel“ in Berlin Sie ist selbstständige Fachautorin und Architektin in Berlin. www.astrid-schneider-gruen.de

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2008, S. 34 - 45

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