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01. Mai 2012

Die Schwäche des Westens

... und wie man sie beheben könnte

Amerika und Europa teilen ein Problem: die Diffusion und Erosion staatlicher Macht, verbunden mit dem Gefühl schwindender Legitimität – man könnte sogar von einer Krise des Sendungsbewusstseins sprechen. Wie kann ein machtpolitisches Paradigma für den Westen in einer Ära der Unsicherheit aussehen? Einige Orientierungsprinzipien.

An einem trüben Februartag im Jahre 2002 stand ich gedankenverloren auf einem verfallenen christlichen Friedhof in Kabul, als Beobachterin eines Gedenkgottesdiensts zu Ehren der britischen Soldaten, die in den zwei Afghanistan-Kriegen des 19. Jahrhunderts gefallen waren. Die westlichen Koalitionsstreitkräfte hatten kurz zuvor in der afghanischen Hauptstadt Quartier aufgeschlagen, nachdem sie die Taliban als Vergeltung für die ­Terroranschläge des 11. September aus dem Land vertrieben hatten.

Ihr britischer Kommandeur, General John McColl, hatte die Zeremonie selbst angeordnet. Die alte ummauerte Einfriedung war frisch getüncht und mit leuchtendroten Mohnkränzen geschmückt – die Klatschmohnblüte ist seit Ende des Ersten Weltkriegs Symbol für die Gefallenen des Commonwealth. Angesichts der Tatsache, dass das Empire jene Kriege am Hindukusch verloren hatte, und das unter schrecklichen Verlusten, schien die Zeremonie nicht so recht in die Zeit zu passen; in der Rückschau erscheint sie geradezu prophetisch.

Meine Tagträumerei, ausgelöst durch die klirrende Kälte und die Rezitationen der Heldentaten verschiedener längst verflossener Highland-Regimenter, wurde unterbrochen durch die Predigt des anglikanischen Priesters. Sein Loblied auf die Soldaten, die sich unbeirrbar der undankbaren Aufgabe gewidmet hätten, ihr Land zu schützen, schlug einen irgendwie bekannten, wenn nicht ganz biblischen Ton an. Aber Reverend David Steele, ein freundlicher Neuseeländer, der sein Chorhemd über Tarnanzug und Kampfstiefeln trug, offenbarte nach dem Gottesdienst bereitwillig seine Quelle: Es handele sich, sagte er, um eine Szene aus einem seiner Lieblingsbücher,1 in der ein großer Krieger erzählt, wie er und die Seinen die feisten, kleinwüchsigen und sorglosen Bewohner eines winzigen Landstrichs ohne deren Wissen gegen die bösen Mächte eines Königreichs namens Mordor beschützt hätten.

Land der sorglosen Hobbits

Diese Szene kam mir in den Sinn, als ich Robert Kagans berühmte Kritik der transatlantischen Beziehungen wieder las, in der er Amerika mit Mars und die Europäer mit Venus verglich: Europa, das Land der sorgenfreien Hobbits, beschäftigt mit Gartenpartys und Feuerwerken, leichtfertig darauf vertrauend, dass die stets wachsamen amerikanischen Dúnedain sie vor dem Bösen beschützen würden.

Kagans Vergleich war eine Karikatur, wie er selbst sofort anmerkte –doch sie schlug ein, wie jede gute Karikatur. Ihre bedeutendste und auf lange Sicht einflussreichste Erkenntnis war die These, dass Europas Aversion gegen Krieg und seine Vorliebe für Diplomatie und Multilateralismus möglicherweise eher auf Realitätsverweigerung denn auf Überzeugung beruhe – eine psychologische Bewältigungsstrategie, mit deren Hilfe Europas Abhängigkeit und Verwundbarkeit verdrängt werde. Autsch.

Ein Jahrzehnt später bereitet eine gedemütigte und angeschlagene NATO den Abzug aus Afghanistan vor, einem Land mit immer noch höchst fragilen staatlichen Strukturen. Aus dem Irak haben sich die US-geführten Streitkräfte bereits zurückgezogen, nach einem Krieg, der die transatlantischen Beziehungen auf einen Tiefpunkt in der Nachkriegszeit geführt hat. Nichtsdestotrotz erholte sich das Verhältnis wieder, in der Form einer nüchtern-pragmatischen Kooperation. Dann, 2008, schlug die Wirtschaftskrise zu. Heute, da noch immer kein Ende der finanziellen Turbulenzen in Sicht ist, sollten wir aufhören, so zu tun (um Kagan zu zitieren), als sei alles noch wie zuvor. Die globale strategische Landschaft hat tiefgreifende Umwälzungen erfahren. Sie betreffen die Natur staatlicher Macht ebenso wie die Fähigkeit von Regierungen, sie auszuüben; und sie betreffen die Definition von Sicherheit selbst.

 Vor einem Jahrzehnt verlief die ideologische Kampflinie in den transatlantischen Beziehungen zwischen Gewehren und Butter, Hard Power und Soft Power, Amerika und Europa. Aber es stand zu keiner Zeit ernsthaft in Zweifel, dass jede Seite angesichts produktiver Ökonomien und effizient funktionierender Regierungsapparate über praktisch unbegrenzte Vorräte der Waffen ihrer Wahl verfügte.

Und ungeachtet aller Dispute darüber, welche Art von Macht über die andere triumphieren würde, wurde niemals in Frage gestellt, dass beide Seiten des Atlantiks eine Gemeinschaft der Werte und der Interessen bildeten. Heute dagegen befällt Amerika und Europa ein und dasselbe Problem: die Diffusion und Erosion staatlicher Macht, verbunden mit dem Gefühl schwindender Legitimität – man könnte es sogar eine Krise des Sendungsbewusstseins nennen. Die Herausforderung des 21. Jahrhunderts ist nicht die Schwäche der Anderen, sondern die Schwäche des Westens.

Eine neue strategische Landschaft

Natürlich hat sich nicht alles geändert. Die traditionellen Sicherheitsbedrohungen bleiben höchst präsent; einige von ihnen verfügen über eine regierungsamtliche Postadresse (Iran, Nordkorea, Pakistan), einige operieren im Schatten (Al-Kaida und seine Ableger, Piraten, Cyberkriminelle). Einige unserer wichtigsten und verwundbarsten Aktivposten sind physischer Natur und unbeweglich – die so genannte „kritische Infrastruktur“. Seewege, Transportrouten, Pipelines und Kabel garantieren die fortdauernde Bedeutung der Geopolitik. Abschreckung, Eindämmung, Interventionen, Hard Power: All das bleibt notwendig. Und, jawohl, Amerika besitzt weiterhin absolut und relativ gesehen mehr von Letzterem als jedes andere Land der Welt.

So weit, so bekannt – und so verlässlich. Und doch hat sich zeitgleich der große sicherheits- und machtpolitische Rahmen durch die kombinierte Wirkung von drei neuen Entwicklungen verändert: wirtschaftliche Integration, die Globalisierung der Kommunikationsstrukturen und die Erosion staatlicher Macht.

Noch im Jahre 2002 hätte man kaum glauben können, wie tiefgreifend integriert die nationalen Ökonomien der Welt innerhalb eines Jahrzehnts sein würden. Globalisierung hieß Verbindung; Integration war der Schritt in die Verflechtung. Nicht nur, dass wir alle angeschlossen sind ans Netz der globalen Bewegungen von Menschen, Gütern, Daten und Ideen: Es ist unmöglich geworden, sich abzukoppeln – und es würde uns schlecht bekommen, wenn wir es versuchten. Nirgendwo ist diese qualitative Veränderung so deutlich sichtbar geworden wie in der Finanzkrise. Die Ökonomien und Finanzmärkte Amerikas und Europas sind so tief integriert, dass ein Börsencrash auf der einen Seite des Atlantiks eine gewaltige Ansteckungswirkung auf der anderen Seite haben kann. Zumindest was Wirtschaft und Finanzen angeht, kommt der transatlantische Raum einem „strategischen Ökosystem“ schon sehr sehr nahe.2

Derweil kann sich ein Land wie China noch so hartnäckig der Erkenntnis widersetzen, dass seine wachsende Macht es zu einem entscheidenden Stakeholder in einer friedlichen Weltordnung macht: Es wäre jedenfalls sinnlos für Amerikas wichtigsten Gläubiger zu bestreiten, dass er ein vitales Interesse an einer gesunden US-Wirtschaft hat; umgekehrt wird Amerika kaum umhinkommen anzuerkennen, dass es ein erhebliches Eigeninteresse an einem verantwortungsbewusst handelnden Peking hat.

Verflechtung mit Folgen

Für das transatlantische Bündnis wirft die wirtschaftliche Integration allerdings eine ganze Reihe von Fragen auf; nicht zuletzt, weil es paradox erscheint, dass die Vereinigten Staaten und Europa in einer Zeit, in der sie politisch auseinanderzudriften scheinen, wirtschaftlich zusammenrücken. Kann – oder muss? – das Risiko einer Ansteckung durch regulatorische oder finanzpolitische Kooperation oder sogar durch gemeinsame Institutionen wie ein transatlantisches Bankenkomitee eingedämmt werden? Und was genau sind die politischen Folgen dieser wirtschaftlichen Integration für die transatlantische Sicherheit und die NATO? Könnte sich die wirtschaftliche Zusammenarbeit in einer Ära immer stärker auseinanderklaffender Sicherheitsinteressen und Bedrohungseinschätzungen als das Bindemittel erweisen, nach dem das Bündnis bislang vergeblich gesucht hat? Aber schafft sie nicht auch neue Verwundbarkeiten, mit sicherheitspolitischen Folgen? Was bedeutet das für die Zusammenarbeit zwischen Regierungen und der Wirtschaft in der Sicherheitspolitik?

Die wirtschaftliche Verflechtung mit China stellt Amerika vor ganz anders geartete Probleme. Zwar sind funktionierende Geschäftsbeziehungen über staatliche, politische und ideologische Gräben hinweg kein unbekanntes Phänomen – siehe Iran. Aber während die Vereinigten Staaten sich dem Pazifik zuwenden und versuchen, Chinas wachsenden Durchsetzungswillen in der Region auszubalancieren und einzudämmen, ist für sie wirtschaftliche Abhängigkeit von einem – besser: dem – aufsteigenden strategischen Rivalen eine ganz neue Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit. Kann das ohne Folgen für das Kalkül der Eindämmung bleiben?

Andererseits kann auch Abhängigkeit Chancen mit sich bringen. Nehmen wir nur einmal Europas erhebliche Abhängigkeit von russischen Öl- und Gaslieferungen: Aus einer ganzen Reihe von Gründen resultiert aus ihr kein entsprechender politischer Einfluss Moskaus auf Europa. Vielmehr funktioniert die Abhängigkeit auch andersherum, denn Russland kann sich nicht einfach andere Käufer suchen. Die USA und China dagegen sind zwar nicht physisch durch Pipelines verbunden – aber das Risiko der gegenseitigen Ansteckung kommt Gregory Treverton3 zufolge dem nahe, was man im Kalten Krieg „garantierte gegenseitige Zerstörung“ nannte. Wie wir wissen, kann diese Art der Abhängigkeit zu kooperativem oder zumindest berechenbarem Handeln führen.

Eine zweite strategische Überraschung des vergangenen Jahrzehnts ist die Ermächtigung des Individuums durch die Globalisierung der Kommunikation, und zwar sogar in den Autokratien – siehe die chinesische Blogosphäre, siehe die Arabellion, siehe Russland. Klassische Machtpolitik wird nicht verschwinden: Die chinesischen Führungseliten managen den Stabwechsel zwischen den Generationen geschickt, die ägyptischen Generäle machen Deals mit der Muslimbruderschaft, und Russlands Sicherheitskräfte können immer einen oder zwei Oligarchen ins Feld schicken, die Opposition spielen. (Selbst die saudischen Prinzen erlauben mittlerweile ihren immer besser gebildeten Frauen zu arbeiten – etwa in Dessousgeschäften.)

Ein echter sozialer oder gar politischer Wandel ist wohl noch weit entfernt; vorerst scheint er mit der Geschwindigkeit tektonischer Plattenverschiebungen voranzukriechen, derweil autokratische Eliten die Macht eisern in der Hand behalten. Dennoch, die Arabellionen von 2011 haben gezeigt, dass wir auf eigenes Risiko handeln, wenn wir die Möglichkeit von radikalen Aus- und Umbrüchen kategorisch ausschließen.

Zudem hat die sintflutartige Ausbreitung von Kommunikationstechnologien und sozialen Netzwerken zur Folge, dass Herrscher ihre Bürger nicht mehr daran hindern können, Zugang zu Informationen zu bekommen und miteinander in Kontakt zu treten. Diese Gesellschaften mögen noch weit davon entfernt sein, liberal verfasst zu sein; und sie werden sicherlich noch für lange Zeit anfällig für Manipulation und Vereinnahmung durch besser organisierte Interessengruppen sein. Aber sie sind jetzt offen und können nie wieder ganz abgeriegelt werden. Das bedeutet auch, dass die Autokraten, selbst jene, die über unerschöpfliche Quellen von Waffen und Devisen verfügen, ihren eigenen Bevölkerungen gegenüber grundsätzlich in der Defensive sind.

Schwieriger Balanceakt

Und diese Menschen haben eine ziemlich genaue Vorstellung von dem, was sie wollen. Womöglich wollen sie keine Demokratie nach dem Westminster-Modell; und ganz sicher wollen sie nicht nur Demokratie im rein formalen Sinne, also Wahlen. Die Forderungen der Demonstranten sind radikal und umfassend zugleich: Freiheit von Unterdrückung, Korruption und Furcht, das Recht, ihre Meinung zu äußern, ihre Kinder zu erziehen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, am öffentlichen Leben teilzuhaben und in Würde zu leben.

Klingt das bekannt? Natürlich. Genau das waren die Forderungen der liberalen Konstitutionalisten im Europa des 19. Jahrhunderts. Bekanntlich gingen die Dinge bei uns seitdem nicht immer ununterbrochen bergauf. Andererseits war das der Beginn der menschlichsten und besten Regierungsform, die wir kennen.
Für politische Entscheidungsträger in Amerika und Europa bringt diese neue Entwicklung einen immens schwierigen Balanceakt mit sich. Häufig werden sie aus legitimen realpolitischen Motiven weiterhin mit Autokraten zusammenarbeiten müssen. Gleichzeitig müssen sie nun Sorge tragen, dass sie in gleichem Maße mit den Bürgern des Landes sprechen und dadurch klarmachen, dass sie ihre Bestrebungen unterstützen oder zumindest nichts tun werden, was diese untergraben könnte. Allzu offene westliche Unterstützung kann allerdings auch kontraproduktiv, gar schädlich sein, wenn sie autoritären Herrschern in die Hände spielt und ihnen hilft, ihre Opposition als korrupt und vom Ausland gesteuert zu diskreditieren (wieder: Iran).

Jedoch werden westliche Regierungen mehr und mehr gezwungen sein, sich auf die Seite der Unterdrückten zu schlagen – wie mit der Libyen-Intervention geschehen, oder wie es Barack Obama tat, als er in einer Rede zum Arabischen Frühling im Mai 2011 den tunesischen Obsthändler Mohammed Bouazizi mit der amerikanischen Bürgerrechtsikone Rosa Parks verglich. So wird auch Deutschland sich fragen müssen, inwiefern es mit gutem Gewissen Kampfpanzer an Saudi-Arabien verkaufen kann – eine Waffengattung, die heutzutage in erster Linie dazu genutzt wird, Menschenmengen gewaltsam in Schach zu halten, wie man es auf dem Tiananmen-Platz oder zuletzt in Bahrain erleben musste. Robert Coopers Empfehlung doppelter Standards im Umgang mit denjenigen Ländern, die er als „vormoderne Welt“ bezeichnete („Untereinander handeln wir auf der Grundlage von Gesetzen … aber wenn wir uns im Dschungel bewegen, müssen wir auch die Gesetze des Dschungels befolgen“),4 ist nicht mehr haltbar: denn in der heutigen Welt muss Legitimität als entscheidendes Unterscheidungsmerkmal westlicher Strategie gelten.

Wer erinnert sich noch an jene Westdeutsche, die ihren ostdeutschen Brüdern und Schwestern, die im Sommer 1989 über Ungarns „grüne Grenze“ flohen, vorwarfen, sie suchten eher Bananen als Freiheit? Diese Kritik war nicht nur ziemlich unterkomplex, sondern vor allem bemerkenswert herzlos. Heute zu unterstellen, dass der Zorn der ägyptischen Demonstranten dem Mangel an Arbeitsplätzen gilt und nicht dem Fehlen von Demokratie – wie es regelmäßig von selbsterklärten „Pessimisten“ oder „Realisten“ getan wird – ist nicht weniger falsch.

Schließlich, und das ist womöglich am beunruhigendsten für jene, die Regierungsverantwortung tragen, war das vergangene Jahrzehnt eines, in dem die Macht des Staates ausgehöhlt wurde wie nie zuvor. Nicht nur in gescheiterten oder scheiternden Staaten wie Somalia, Pakistan oder Nigeria, sondern in den Regionen, wo wir funktionierende staatliche Strukturen und Legitimität der Regierungen als selbstverständlich voraussetzten: in den Kernländern des Westens.

Schon lange vor Ausbruch der Wirtschaftskrise hatten Globalisierung, wirtschaftliche Integration und die Kommunikationsrevolution zu einer vertikalen und horizontalen Machtverlagerung – vor allem vom Staat weg – geführt. Zudem hat der Aufstieg nichtwestlicher Mächte die Fähigkeit des Westens und sogar der Vereinigten Staaten, auf internationalem Parkett die Themen zu setzen (etwa in Klimaverhandlungen oder bei der Verurteilung des syrischen Regimes im UN-Sicherheitsrat), geschweige denn ihren Ausgang zu beeinflussen, bedeutend geschmälert.

Krise der Regierbarkeit

Aber jetzt, wo sich die Krise zuspitzt, wird aus einer Machtverschiebung eine Aushöhlung von Macht. Aus Kontrollverlust wird Funktionsverlust. Auf beiden Seiten des Atlantiks lähmen gigantische öffentliche Schulden die Regierungen und zwingen sie, Kürzungen bei den öffentlichen Dienstleistungen vorzunehmen. Kränkelnde Ökonomien, verfallende Infrastrukturen, abnehmende industrielle Wettbewerbsfähigkeit und schwindender Wohlstand bei wachsender ­Arbeitslosigkeit und sozialer Ungleichheit haben zu einer gefährlichen Polarisierung der Innenpolitik beigetragen, zu einer Diskreditierung der Politiker und der Institutionen der repräsentativen Demokratie. In Amerika zeigt sich diese Entwicklung in einer erbitterten Polarisierung der politischen Landschaft. Aber auch Europa sieht sich mit Renationalisierung, Populismus und wachsender Fremdenfeindlichkeit konfrontiert. Mit Recht spricht Charles Kupchan von einer „Krise der Regierbarkeit“.5

Doch hier steht mehr auf dem Spiel als bloße Effizienz. Unsere liberalen Demokratien, die Europäische Union, die transatlantische Allianz: Sie alle – und nicht nur die EU, wie Kagan vor zehn Jahren schrieb – sind kantianische Gemeinschaften, die auf einer beidseitigen Vereinbarung beruhen, den Frieden zu wahren und gegenseitigen Vorteil durch Vertrauen, Verpflichtung und Solidarität zu fördern. Wenn diese Verträge weiterhin durch Angst und Nullsummen-Denken untergraben werden, könnten wir uns alle in einer Hobbesschen Welt wiederfinden – und das bei uns zu Hause. Oder, um auf Robert Coopers einprägsames Bild zurückzukommen: Der Dschungel wird sich den Garten zurückholen. Schluss mit den Gartenpartys für die Hobbits.

Übertreibung? Man nehme das Beispiel des EU-Mitglieds Ungarn. Premier Viktor Orbán hat einen minutiös durchgeplanten Anschlag auf die Unabhängigkeit der ungarischen Presse, der Gerichte, der Zentralbank, der Wahlgesetze und der Datenschutzbehörde – mit anderen Worten: auf die zentralen Elemente der verfassungsstaatlichen Gewaltenteilung – gestartet. Erstaunlicherweise brauchte die EU fast zwölf Monate, um zu entscheiden, dass das Anlass zu Besorgnis gebe. Und es gibt in Europa weiterhin Konservative, die schwören, dies alles sei unvermeidbar, um die Sünden der vorherigen postkommunistischen und sozialistischen Regierungen wieder gut zu machen. Die Lehre aus dem Fall Ungarn ist, dass selbst im „postmodernen“ Europa die Errungenschaften des liberalen Konstitutionalismus und der repräsentativen Demokratie weit davon entfernt sind, automatischen Schutz zu genießen. Verträge müssen genauso wie Gärten gehegt, gepflegt – und gegen Feinde verteidigt werden.

Kaum Raum zum Manövrieren

Die Folgen dieses Aushöhlungsprozesses sind in der Außenpolitik schon spürbar. Ängstliche, zersplitterte und selbstbezogene Öffentlichkeiten gestehen Regierungen wenige Ressourcen und noch weniger Raum zum Manövrieren zu, am allerwenigsten in der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Erfolg der plumpen isolationistischen Ansichten eines Ron Paul, aber auch Obamas vernünftige Einsparungen im Zeichen des Nationbuilding daheim, sind der Beleg dafür.

Auch in Europa mehren sich die Anzeichen von Nullsummen-Denken: Mit Griechenland wird um den Preis der Solidarität gefeilscht, und einige Außenminister (etwa Großbritanniens William Hague oder Deutschlands Guido Westerwelle) beschwören feierlich die Notwendigkeit einer „an Handelsinteressen orientierten Außenpolitik“, was im Wesentlichen eine Kurzformal dafür ist, lukrative Geschäfte mit China zu machen, ohne dabei allzusehr auf die Behandlung von Dissidenten zu achten. Und dann gab es noch das Zerwürfnis im NATO-Rat wegen der Libyen-Intervention, wo Deutschland sich bemerkenswerterweise im UN-Sicherheitsrat zusammen mit Russland und China enthielt. Dabei war es absolut legitim, Zweifel an der Machbarkeit und der Rechtmäßigkeit einer Amtsenthebung Gaddafis zu hegen – und tatsächlich teilten ein halbes Dutzend NATO-Mitglieder die deutschen Bedenken (wenn auch etwas weniger öffentlich). Schädlich für das Bündnis war dagegen Berlins öffentliches Ausbrechen aus der westlichen Allianz bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat, als Einigkeit am nötigsten gewesen wäre; verbunden mit der Tatsache, dass ranghohe Kabinettsmitglieder später die Motive der an der Intervention beteiligten NATO-Mitglieder verunglimpften.

Drei Prinzipien der Politikgestaltung in einer Ära der Unsicherheit

Es ist ein in der Strategenzunft allgemein anerkannter Grundsatz, dass Macht stets auf der Suche nach einem passenden Paradigma ist. Ein nachgeordneter Grundsatz besagt, dass die ultimative Männlichkeitsprobe für einen Strategen – wie Tony Judt einmal sarkastisch bemerkt hat6 –, darin besteht, George Kennans berühmtes „langes Telegramm“ „The Sources of Soviet Conduct” zu übertrumpfen, die Blaupause der amerikanischen Eindämmungspolitik gegenüber der UdSSR im Kalten Krieg. Robert Kagans Essay „Macht und Schwäche“ steht in einer langen Tradition von heldenhaften Versuchen, das Gespenst von Kennan zu erlegen, ihm die Ohren abzuschneiden und triumphierend damit um die Arena herum zu marschieren.

Dabei scheint angesichts der beschriebenen neuen strategischen (Un-)Ordnung festzustehen: Sie lädt nicht dazu ein, Paradigmen oder große Strategien zu formulieren (geschweige denn zu dem Triumphalismus, der 1989 und noch einmal kurz nach dem Sturz Sadam Husseins im Jahr 2003 zu besichtigen war). In einer Ära der Unsicherheit ist es angemessener, wie Stephen Krasner bemerkt hat, sich mit „Orientierungsprinzipien“ zu bescheiden.7 Hier nun drei Vorschläge, wie diese Prinzipien aussehen könnten.

Risiko managen

In offenen Gesellschaften, in denen die Macht mehr und mehr bei der Privatwirtschaft oder bei Einzelnen liegt, müssen Regierungen den Schwerpunkt staatlicher Machtausübung von Dominanz, Abschreckung und Kontrolle auf Risikomanagement und legitimen Einfluss verlegen. Westliche Bündnisse – die NATO ebenso wie die Europäische Union – werden lernen müssen, Meinungsverschiedenheiten auszuhalten und auszuhandeln: in der Bedrohungsanalyse, in der Prioritätensetzung und der Auswahl der Mittel. Das heißt vermutlich auch, dass Fall-zu-Fall-Koordination und -Kooperation schon das mögliche Optimum sein wird. Ein transatlantisches Zerwürfnis – wie bei der Intervention in Libyen – sollte also nicht als verhängnisvolles Omen für Zerfall und Abstieg des Westens gewertet werden. Solche Auseinandersetzungen sind die neue Normalität; wir täten gut daran, uns schnell daran zu gewöhnen. Andernfalls laufen wir Gefahr, eine selbsterfüllende (und selbstlähmende) Prophezeiung des Scheiterns zu schaffen. Risikomanagement impliziert auch die Anerkennung der Tatsache, dass es keine absolute Sicherheit, keine vollständige Eliminierung von Risiko gibt. Das bedeutet, Sicherheit mit vernünftigen statt mit absoluten Maßstäben zu messen. Und es bedeutet, in politische, wirtschaftliche und soziale Widerstandsfähigkeit – die so genannte Resilienz – sowie Katastrophenschutz zu investieren.

Politische Entscheidungsträger schließlich werden lernen müssen, öffentliche Erwartungen zu managen – in Zeiten, in denen die öffentliche Meinung lautstark absoluten Schutz fordert. Freiheit von Risiko kann es in offenen Gesellschaften nicht geben.8

Verstehen, was passieren kann

Wissen ist heute der ultimative Schlüssel zur Sicherheit. Der fortdauernde Prozess der globalen Integra­tion und die daraus resultierenden wechselseitigen Abhängigkeiten führen – zusammen mit Kommunikationstechnologie, durch die eine Information in Sekundenbruchteilen von A nach B gelangt – zu einer dramatischen Verkürzung der Reaktionszeiten. Bedenkt man, dass die heutigen Bedrohungen und Risiken Grenzen ignorieren, werden auch staatliche Reaktionen über Ländergrenzen hinweg koordiniert werden müssen. (In der EU kann dies nicht weniger als 27 nationale Grenzen bedeuten.) Deshalb werden die Zeitfenster, innerhalb derer man Entscheidungen vorbereiten, Fakten analysieren und Optionen abwägen kann, immer kleiner werden. In Ausnahmefällen könnten die Folgen des Ernstfalls so katastrophal sein, dass sich der Schwerpunkt staatlichen Handelns auf Antizipation und Prävention verschöbe. Strategisches Bewusstsein, Verstehen und Urteilsvermögen müssen also erste Priorität haben.

Im „Weißbuch“ zur Neuausrichtung der französischen Militärpolitik aus dem Jahre 2008 heißt es dazu: „Wissen stellt unsere vorderste Verteidigungslinie dar.“9 Doch sowohl die Arabellion als auch die Proteste in Russland kamen überraschend für westliche Entscheidungsträger; zu schweigen von den vielen chinesischen Bürgern, die tausende kleiner Banknoten über die Gartenmauer des Dissidenten Ai Weiwei warfen, um ihm bei seinen Prozessen gegen die Regierung zu helfen. Das lässt vermuten, dass bei bestimmten Entwicklungen nicht genau genug hingeschaut wurde.

All das hat tiefgreifende Auswirkungen auf Organisation und Macht der staatlichen Sicherheitsstrukturen. Westliche Regierungen werden mehr in strategische Frühaufklärung investieren und sich um die Expertise derer bemühen müssen, die entsprechende Techniken entwickelt haben. Fähigkeiten für strategische Analyse sollten gebündelt, zentralisiert und so ausgerichtet werden, dass sie die Entscheider direkt beraten können. Jenseits dessen aber begeben wir uns auf gefährliches Terrain. Nach den Anschlägen des 11. Septembers haben die meisten Regierungen nicht ohne Grund ihre nachrichtendienstlichen Kapazitäten ausgebaut und dabei ein besonderes Augenmerk auf internationale Koopera­tion gelegt: Vor allem die USA und Großbritannien haben hier enorm investiert, gerade in der Weltraum- und Cybertechnologie. Weil einige Informationen geheim sind, müssen diese durch Eindringen in die Privatsphäre gewonnen werden, was wiederum komplexe Kontroll- und Zurechnungsfragen aufwirft.

Im Kontext einer strategischen Ausrichtung aber, die ausdrücklich auf Offenheit und Risikomanagement basiert, wächst der Bedarf an Wissen exponenziell an. Im Rahmen der verfassungsmäßigen Gewaltenteilung führt das zu einem „gigantischen Sauggeräusch“ (in Ross Perots unsterblicher Formulierung) in Richtung der Exekutive. Es wird natürlich ein Gegengewicht geben, denn Resilienz in einer offenen Gesellschaft zu institutionalisieren heißt: Redundanz, Delegation und Verteilung von staatlichen Funktionen in die Breite und nach unten. Trotzdem: Wenn die westlichen Demokratien verhindern wollen, dass staatliche Wissensgewinnung ebenjene Freiheiten unterminiert, zu deren Schutz sie dienen soll, müssen sie sich sehr gewissenhaft darum bemühen, Aufsichts- und Haftungsfunktionen nachzujustieren.

Den Staat stärken

Es ist in der jüngeren Vergangenheit beinahe ein Allgemeinplatz in der strategischen Literatur geworden, eine „Restauration“10 oder „Erneuerung“11 nationaler Stärke zu fordern, ebenso wie „verantwortungsvolle Souveränität“12 oder eine Rückkehr zur „politischen und ökonomischen Kreditwürdigkeit“.13 In der Tat mag es Zeit sein, einen Verfassungsgrundsatz wieder zu entdecken, den wir für völlig selbstverständlich halten, der aber in der aktuellen politischen Praxis andauernd untergraben wird: die repräsentative Demokratie.

Ein transatlantisches Dauerthema des vergangenen Jahrzehnts war die Vorstellung, dass Europäer sich obsessiv mit Prozessen und Institutionen beschäftigen – im Gegensatz zur amerikanischen Fixierung auf Führung und das heroische Individuum. Natürlich steckt in diesem Klischee ein wahrer Kern. Und doch war es den Autoren der Federalist Papers, insbesondere James Madison, vorbehalten, das europäische Konzept der Repräsentation erfolgreich in eine stabile und langlebige verfassungsrechtliche Architektur zu übertragen.
Gerade heute lohnt es sich, sich an die Betonung von Gewaltenteilung, Machtbalance und funktionierenden Institutionen als Gegengewicht zur Willkür von Mehrheiten in den Federalist Papers zu erinnern. Denn die Versuchung, sich an den Souverän auf der Straße zu wenden, quasi als bequeme Alternative zum steinigen Weg der Konsensfindung in repräsentativen Institutionen, war in jüngster Zeit auf beiden Seiten des Atlantiks deutlich zu beobachten.

Dennoch: Der Staat ist schließlich nur das Mittel zum Zweck, eine lebenswerte Gesellschaft zu schaffen. Es ist also sinnlos, die Institutionen und Verfahren der repräsentativen Demokratie zu befestigen, ohne gleichzeitig auch den Sozialvertrag zu reparieren. Seit den achtziger Jahren hat sich in Amerika das Gewicht massiv in Richtung von Freiheiten und Märkten verschoben, und Europa ist diesem Beispiel gefolgt.

Das führte zu deutlich mehr Freiheit und Wohlstand, aber auch zu einer immer breiter werdenden Kluft zwischen Arm und Reich und einer Schwächung der Institutionen. Es ist längst überfällig, das Gleichgewicht durch ein Umdenken in Richtung Fairness und Gerechtigkeit wiederherzustellen. Denn „man kann sagen, dass in einer Gesellschaft, die es zulässt, dass eine stärkere Faktion sich ohne Weiteres zusammentun und die schwächere Faktion unterdrücken kann, genauso Anarchie herrscht wie im Naturzustand, wo der Schwächere nicht sicher ist vor der Gewalt des Stärkeren“.14 Marx? Nein: Madison.

Letzten Endes muss noch ein weit wichtigerer Vertrag wiederhergestellt werden: die glo­bale Friedensordnung. In einer Ära der Unsicherheiten, so scheint es, begegnet man dieser Aufgabe am besten mit einer Mischung aus Bescheidenheit und Hoffnung. Mit Hoffnung, weil wir erleben, wie die Bürger autoritärer Regime Rechte und Freiheiten fordern, von deren Universalität wir überzeugt sind; mit Bescheidenheit, weil unser eigener Weg durch die Geschichte an vielen Etappen markiert ist mit Klatschmohnkränzen für Opfer und Gefallene.

Dr. CONSTANZE STELZENMÜLLER ist Senior Transatlantic Fellow beim German Marshall Fund in Berlin.

  • 1Aragorns Ansprache vor Elronds Rat, in J.R.R. Tolkiens: The Lord of the Rings, 1954/55.D
  • 2Der Begriff wurde von Wayne Porter und Mark Mykleby geprägt, in: Mr. Y: A National Strategic Narrative, Washington 2011.
  • 3Gregory Treverton: Making Policy in the Shadow of the Future, RAND Occasional Paper 2010, S. 11.
  • 4Robert Cooper: The new liberal imperialism, Observer, 7.4.2002, http://www.guardian.co.uk/world/2002/apr/07/1/print.
  • 5Charles Kupchan: The Democratic Malaise. Globalization and the Threat to the West, Foreign Affairs, Januar/Februar 2012, S. 62.
  • 6Tony Judt: America and the World, New York Review of Books, 10.4.2003.
  • 7Stephen Krasner: Verantwortliche Souveränität, IP, September/Oktober 2010, S. 10–20.
  • 8David Omand: Securing the State, London 2010.
  • 9République Française: Défense et Sécurité Nationale. Le Livre Blanc, La Documentation Française, Paris, Juni 2008.
  • 10Richard Haass: Die Doktrin der Restauration, IP, Januar/Februar 2012, S. 70–77.
  • 11Gideon Rose: Making Modernity Work, Foreign Affairs, Januar/Februar 2012, S. 3–6.
  • 12Stephen Krasner, (Anm. 7).
  • 13Charles Kupchan: Grand Strategy: Four Pillars for the Future, Democracy Journal, Winter 2012, S. 9.
  • 14James Madison: Federalist Papers, Nr. 51, 6.2.1788.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2012, S. 96-107

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