„Die Politik muss Akzeptanz für Deutschlands neue Rolle schaffen“
Wie steht es um die transatlantische Familie, um das Verhältnis der deutschen Regierung zu ihren Bürgern, und was kann Politikberatung hier bewirken? Antworten von einem, der es wissen muss.
IP: Herr Kaiser, der ehemalige Außenminister Joschka Fischer hat Sie einmal als „transatlantischen Patriarchen“ bezeichnet. Wie blickt der Patriarch heute darauf, was aus seiner transatlantischen Familie geworden ist?
Karl Kaiser: Die Familie steht vor dem größten Test ihrer Geschichte. Denn sie muss einen zerstörerischen Abweichler überleben. Das bedeutet einerseits, die Grundwerte der transatlantischen Gemeinschaft zu pflegen und zu erhalten, andererseits aber auch, auf diese zerstörerische Kraft zu reagieren. Konkreter gesprochen, wird Europa größere Unabhängigkeit anstreben müssen, aber auch alles tun, um das gemeinsame Projekt, das Langfristprojekt des „Westens“, zu erhalten. Denn das war immerhin einst die Raison d’état der Gründung der Bundesrepublik – und bleibt es auch.
Vieles von dem, was US-Präsident Donald Trump heute tut, geht auf ein Konzept der Heritage Foundation zurück, einer rechtskonservativen Denkfabrik, wie es sie in dieser Form in Deutschland nicht gibt. Wenn man die Thinktank-Landschaften in den USA und in Europa vergleicht: Wo sehen Sie die Unterschiede, wo die Gemeinsamkeiten?
Zunächst einmal ist die Tatsache, dass wir hier Denkfabriken in nennenswertem Umfang haben, ein vergleichsweise junges Phänomen. Es war ja die DGAP, die Mitte der 1950er Jahre damit begonnen hat, so etwas in Deutschland aufzubauen. Heute können wir durchaus von einer blühenden Landschaft von bedeutenden Thinktanks in verschiedenen Regionen und mit unterschiedlichen Schwerpunkten sprechen. Aber als vergleichbar mit den USA würde ich das nicht bezeichnen. In Amerika ist es weit wahrscheinlicher, dass die Dinge umgesetzt werden, zu denen die Denkfabriken raten. Die Verbindungen zwischen Politik und Thinktank-Landschaft sind letztlich ganz andere.
Inwiefern?
Im amerikanischen System funktioniert der Personalaustausch viel besser. Diejenigen Politiker, die gerade in der Opposition sind, werden in den Thinktanks „geparkt“, bis sie wieder die Chance haben, in die Regierung zurückzukehren. Zwar kommt das in Deutschland oder Europa auch vor – aber bislang nur in Ansätzen, weil die Verwaltungsstrukturen es ausgesprochen schwer machen. Das ist nicht vergleichbar mit dem massiven Austausch, der jedes Mal stattfindet, wenn in den USA eine neue Regierung antritt.
Ist das etwas, das wir von Amerika lernen können?
Ja, und wir haben ja auch ansonsten einiges übernommen. Die Methoden etwa, die in der DGAP seit den 1950er Jahren entwickelt wurden, stammen im Grunde genommen aus den USA. Das gilt etwa für die besondere Mischung in den Studiengruppen, wo sich Vertreter von Verwaltung, Wissenschaft, Parlament und Publizistik treffen.
Sie haben es eingangs erwähnt: Donald Trump ist der große Zerstörer. Wie wird sich seine Regierung auf die amerikanische Politikberatung auswirken?
Schwer zu sagen. Zuerst einmal bleiben die Andersdenkenden ja in ihren jeweiligen Institutionen aktiv, denken nach, liefern Argumente. Das intellektuelle Niveau der Auseinandersetzung mit der Trump-Regierung ist außerordentlich hoch. Das hat einerseits mit der Arbeit in den Thinktanks zu tun, aber eben auch mit der Rolle unabhängiger Intellektueller, die in den amerikanischen Zeitschriften publizieren. In der Geschichte des Niedergangs von Demokratien hat es wohl noch nie einen so gut analysierten Niedergang gegeben wie in den USA – weil er von einer phänomenal gut entwickelten intellektuellen Landschaft begleitet wird. Die Frage ist nur: Wann werden die Empfehlungen dieses Heeres von Analysten in Politik umgesetzt, und kann der Niedergang dadurch gestoppt werden? Das wird sich zeigen.
Wie sollte Ihrer Ansicht nach die Finanzierung von Thinktank-Arbeit grundsätzlich gewährleistet werden: staatlich oder privat?
Das ist eine wichtige Frage, auch und gerade für die DGAP. Sie wurde ja von Privatleuten und Firmen gegründet: von der deutschen Stahlindustrie, von deutschen Banken, von wohlhabenden Persönlichkeiten. Im Laufe der Zeit ist das immer wieder thematisiert worden, auch zu meiner Zeit als Direktor. Wir waren mit Blick auf andere Staaten, vor allen Dingen im Osten, sehr darauf bedacht, den staatlichen Anteil immer unter der Hälfte zu halten – auch im Hinblick auf unsere Vorbilder wie Chatham House oder den Council on Foreign Relations.
Warum?
Weil wir davon ausgingen, dass die staatliche Beteiligung die Glaubhaftigkeit dessen, was wir tun, untergräbt. Und dann kam das technische Argument hinzu, dass die haushaltsrechtlichen Bestimmungen einer Institution, die mehr als zur Hälfte vom Staat gefördert wird, das Leben sehr schwer machen.
Eine Mischfinanzierung also ...
Die Mischfinanzierung bleibt das Ideal, möglichst mit einem besonders hohen Anteil der Stiftungen. Das wird leider durch die Entwicklung gerade der deutschen Stiftungen hin zu operativen Einrichtungen erschwert – zu Stiftungen, die alles selbst machen wollen. In der Frühzeit der DGAP haben die Stiftungen weit stärker das Subsidiaritätsprinzip beachtet, demzufolge man Mittel an andere gibt und die berühmten „tausend Blumen blühen“ lässt. Wenn Institutionen wie die DGAP mit gut dotierten Stiftungen konkurrieren müssen, macht es ihnen das nicht einfacher. Ein erheblicher Anteil staatlicher Finanzierung ist also wohl unvermeidbar geworden; das darf aber nicht dazu führen, dass Abhängigkeit in der inhaltlichen Arbeit entsteht. Aber dagegen gibt es Mechanismen.
In Ihren „Erinnerungen“ schildern Sie drei Leitgedanken zur Thinktank-Arbeit: Überparteilichkeit, Dialog zwischen Praxis, Wirtschaft und Wissenschaft sowie eine größere außenpolitische Verantwortung Deutschlands. Was davon halten Sie heute für besonders wichtig?
Letzteres ist zurzeit das Entscheidende. Angesichts des Epochenumbruchs, den wir erleben, ist die Verantwortung Deutschlands viel größer geworden als je zuvor. Ich bin in der Vergangenheit kritisiert worden, wenn ich Deutschland als eine europäische Großmacht bezeichnet habe. Mittlerweile ist das offensichtlich. Es wird von außen immer mehr so gesehen, wenn auch nicht von den Deutschen selbst. Deutschland ist neben Frankreich der Schlüsselfaktor der Europäischen Union. Es wird irgendwann die größte konventionelle Militärmacht in Westeuropa sein, die größte Wirtschaftsmacht ist es schon. Dadurch ist Deutschland in der Pflicht, die konventionelle Abschreckung gegen Russland maßgeblich mitzuorganisieren. Der deutsche Riese wird unvermeidlich erwachen müssen.
Sehen Sie die Gefahr, dass dadurch das alte Misstrauen gegenüber einem zu starken Deutschland wieder wächst?
Zumindest wird es eine der großen Aufgaben der Bundesregierung in den kommenden Jahren sein, das zu verhindern. Das kann man nur durch eine kluge Politik erreichen: indem man die Verbindung mit den europäischen Verbündeten sucht und sein Handeln in die Europäische Union einbettet.
Umfragen zufolge wünscht sich tatsächlich nur eine ausgesprochen knappe Mehrheit der Deutschen eine größere Rolle in der Welt. Sie haben das einmal als „Fehlschlag der politischen Klasse“ bezeichnet und als Kommunikationsversagen …
Angesichts der gewaltigen Verantwortung, die Deutschland jetzt hat, ist die demokratische Fundierung schwieriger denn je. Was die Politik braucht, ist eine Akzeptanz der neuen Rolle Deutschlands durch die Bevölkerung – einschließlich der damit verbundenen Opfer. Sei es, indem man einsieht, dass der nötige Aufwuchs der Bundeswehr neue Formen des Wehrdiensts erfordert, oder indem man in Kauf nimmt, dass so etwas zu Lasten des wachsenden Wohlfahrtsstaats geht und vielleicht auch mit gewissen Einschränkungen verbunden ist. Dafür den demokratischen Konsens herzustellen, wird die zweite große Aufgabe Deutschlands in den kommenden Jahren sein.
Was können Thinktanks wie die DGAP dazu beitragen?
Die DGAP kann der Politik Stichworte liefern, sie kann gemeinsam mit Politikern und Praktikern Probleme erörtern sowie Strategien entwerfen. Über die verschiedenen Teile der DGAP, von den Regionalforen bis hin zur Jungen DGAP, sollte man dann alles tun, um diese Ideen zu verbreiten. Aber das Entscheidende ist, dass es gelingt, die politische Klasse dazu zu bewegen, all das ins Land zu tragen. Und so unangenehm und schwierig es ist: Die DGAP sollte sich nicht scheuen, in gewissem Maße mit den Kräften zu diskutieren, die völlig andere Meinungen vertreten, mit den Links- und Rechtsextremisten, mit der Linken und der AfD.
Was bedeutet das für den Umgang mit der AfD?
Die AfD wird von einem Fünftel der deutschen Wähler unterstützt und hat so eine reale und gewichtige Präsenz im Lande. Mit ihren antidemokratischen, antieuropäischen und Putin-freundlichen Positionen, mit ihrem Rassismus und Geschichtsrevisionismus gefährdet sie nicht nur die deutsche Demokratie, sondern auch die notwendige Wende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Diese Gefahr wird nicht durch Ignorieren und Isolieren beseitigt, sondern nur durch eine offene Auseinandersetzung seitens aller demokratischen Kräfte. Für die DGAP bedeutet das, erstens, in ihrem öffentlichen Wirken durch Veranstaltungen und Publikationen gezielt die Positionen der AfD samt ihrer gefährlichen Folgen darzustellen und zu widerlegen. Zweitens geht es darum, die DGAP-Präsenz in Ostdeutschland, vor allem in den Hochburgen der AfD, systematisch und nachhaltig auszubauen – durch zusätzliche Regionalforen, auch der Jungen DGAP, und durch Veranstaltungen in Partnerschaft mit lokalen Institutionen. In beiden Fällen sollten Kontakt und kontroverse Diskussion mit der AfD nicht gescheut werden.
Forschungsstätte, Inkubator für Nachwuchskräfte, Netzwerk, Begegnungsort, Kommunikationsplattform, Herausgeberin unserer Zeitschriften: Welcher der unterschiedlichen Aspekte der DGAP-Arbeit ist derzeit der wichtigste?
Ich würde sagen, alle diese Aspekte sind jetzt wichtig und müssen weiterentwickelt werden. Denn das eine hängt ja mit dem anderen zusammen – das Wirken in die Öffentlichkeit etwa setzt voraus, dass man Kapazitäten und Know-how im Hause hat. Es setzt voraus, dass die Transmissionsriemen, sprich Studiengruppen, Konferenzen, Diskussionen mit ausländischen Politikern oder Experten, gepflegt werden. Die DGAP hat sich da in meinen Augen nach und nach eine sehr gewichtige Rolle erarbeitet, auch in ihrer Publikationstätigkeit. Nun gilt es, das auszubauen. Und ich glaube, die DGAP ist da auf dem richtigen Weg.
„Unter Putin sind die vielen wissenschaftlichen Kontakte abgestorben. Aber es gibt noch einige Kollegen, die anderer Meinung sind als der Mann im Kreml“
Welche Beispiele würden Sie nennen, wenn es darum geht, wie die DGAP den politischen Diskurs und die praktische Politik maßgeblich beeinflusst hat?
Wenn ich an die Themen denke, die wir in die Politik eingebracht haben und die dann aufgegriffen wurden, fallen mir einige ein: wirtschaftliche Sicherheit, internationale Dimensionen der Klimakrise, Nichtverbreitungsfragen oder die Weltraumnutzung. Zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze haben wir einiges beigetragen. Auch die Diskussion über den ständigen Sitz der Bundesrepublik im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben wir angestoßen. Und schließlich ist da noch die Debatte über die Reform der außenpolitischen Entscheidungsstruktur in Deutschland, die zumindest ein wichtiges Ergebnis gezeitigt hat. Hans-Ulrich Seidt, ein junger Diplomat, hatte seinerzeit auf meine Bitte hin für das Forschungsinstitut eine Studie über die Notwendigkeit eines Nationalen Sicherheitsrats geschrieben. Und heute haben wir einen solchen Rat endlich.
Beim Thema Oder-Neiße-Grenze hat etwas funktioniert, das Sie stets von der politischen Führung fordern: ein Mindestmaß an gegenseitigem Verständnis zu erzwingen. Was wären heute, in Zeiten der Polarisierung, die Themen, bei denen man ein solches Verständnis erreichen müsste? Was könnten Institutionen wie die DGAP dazu beitragen?
Das eine ist es, die innenpolitischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Deutschlands besondere Verantwortung unter den ganz neuen Bedingungen der Gegenwart, mit einer russischen Bedrohung im Herzen Europas, verstanden und akzeptiert wird. Wir brauchen aber auch eine fundierte Debatte über die notwendigen Veränderungen und Reformen der Sicherheitspolitik. Ob das nun die Verteidigungspolitik im engeren Sinne ist, Strategie, Technologie oder Künstliche Intelligenz: Alles das bedarf der Diskussion, des Einfütterns in den öffentlichen Diskurs und dann hoffentlich in die Politik.
Chatham House, Ifri, amerikanische Institute: Die DGAP hat immer nach Partnerinstitutionen für Kooperationen gesucht. Was raten Sie der heutigen DGAP für künftige Partnerschaften?
Die Zusammenarbeit mit den europäischen Kollegen und Kolleginnen bleibt die Basis. Da kann man sich nur einen viel engeren Zusammenschluss wünschen. In der Vergangenheit haben wir gemeinsame Publikationen veröffentlicht, die auch durchaus ihre Wirkungen hatten. Unter den neuen Umständen sehe ich einen größeren Bedarf, den Kontakt mit anderen westlichen Instituten auszubauen: mit Partnern in Australien, in Südkorea, in Japan. Außerdem Afrika, aus meiner Sicht ein besonders wichtiger Kontinent, der aber von den Denkfabriken sträflich vernachlässigt worden ist. Natürlich gibt es spezialisierte Thinktanks, aber ich sprechen von denen, deren Arbeit wirklich in die allgemeine Politik ausstrahlt. Und wenn man in die Zukunft schaut, dann ist Afrika auch ökonomisch in einer Welt, in der die Auseinandersetzung mit China eine viel größere Rolle spielt, für die Europäer noch wichtiger geworden.
Dann gibt es noch einen dritten Punkt, an den ich gerne erinnern möchte. Und das ist, Russland nicht zu vergessen. Natürlich, das derzeitige Russland hat sich abgekoppelt. Unter Putin sind die vielen wissenschaftlichen Kontakte, die alle in die Politik gewirkt haben, abgestorben. Aber es gibt immer noch einige Kolleginnen und Kollegen, die anderer Meinung sind als der Mann im Kreml. Ich schließe nicht aus, dass man auch in den kommenden Jahren hier und dort Ansätze für einen Dialog finden wird.
Zum Schluss möchten wir Sie noch bitten, folgenden Satz zu ergänzen: Wenn es die DGAP nicht gäbe, müsste man sie erfinden, weil ... ?
… ein Land von der Bedeutung Deutschlands unbedingt die Verbindung von außen- und sicherheitspolitischem Sachwissen mit der Außen- und Sicherheitspolitik braucht.
Das Interview führten Martin Bialecki, Henning Hoff und Joachim Staron.
Internationale Politik Special 3, Juli 2025, S. 22-27