Die Neuorientierung deutscher Europa-Politik im Jahr 2014
Ein europäischer Blick in die Glaskugel – natürlich rein fiktiv
Die Ratspräsidentschaft
Die in dieser Woche entschiedene Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft von Lettland durch Deutschland zum 1. Januar 2015 lässt den Bundesministerien kaum Zeit für eine geordnete Vorbereitung des Sitzungshalbjahres. Die klare Zielvorgabe der Schwerpunkte durch den Bundeskanzler ist daher umso dringender. Für die in bereits sechs Wochen beginnende Präsidentschaft kann sich die Bundesregierung aufgrund der unterschiedlichen Vorbedingungen nicht auf Erfahrungen aus dem Jahr 2007, dem letzten regulären Vorsitz Deutschlands, stützen. Daher ist eine schnelle und konzentrierte Planung erforderlich, um die massive Krise der EU durch besonnenes Handeln zumindest so weit zu stabilisieren, dass die Union nicht noch weiter auseinander bricht. Nur so werden Forderungen in der deutschen Bevölkerung nach einem Austritt unter Kontrolle zu bekommen sein.
Das Versprechen des Bundeskanzlers in der letzten Woche, durch die Übernahme der Ratspräsidentschaft am 1. Januar 2015 für eine Stabilisierung der EU zu sorgen, stellt Deutschland politisch und technisch vor große Herausforderungen. Bis vor wenigen Wochen war davon auszugehen, dass mit Lettland ein kleiner, aber leistungsstarker Mitgliedsstaat die schwierigen Verhandlungen über die vierte Reform des Nizza-Vertrags als „ehrlicher Makler“ zwischen den großen Blöcken beenden würde. Dies ist nach dem Austritt der Letten nun nicht mehr möglich. Stattdessen geht es jetzt erst einmal darum, so schnell wie möglich eine neue Grundlage für die Berechnung der Stimmverhältnisse in Rat und Parlament zu entwickeln und zu verabschieden, damit die Union formal entscheidungsfähig bleibt.
Die Anzahl der europäischen Krisenherde wird in einem halben Jahr schwer unter Kontrolle zu bringen sein. Das Bundesministerium für Angelegenheiten der EU wird zur Bewältigung der Aufgabe als Sofortmaßnahme durch Kräfte aus dem Auswärtigen Amt sowie den Ministerien für Inneres und Bürgerrechte, Wirtschaft und Verkehr sowie Forschung und Innovation verstärkt. Durch diese Zusammenarbeit kann hoffentlich der Fehler früherer Präsidentschaften vermieden werden, einzelne Herausforderungen isoliert anzugehen, ohne die Zusammenhänge der Fehlentwicklungen systematisch aufzuarbeiten.
Die Austrittskrise
Der plötzliche, aber nicht ganz unvorhersehbare Austritt Polens, Tschechiens, der Slowakei und der drei baltischen Staaten aus der EU nach dem gescheiterten Gipfel von Valletta hat diese Hoffnungen jäh zerschlagen. Ausschlaggebend für den polnischen Austritt war, anders als weithin angenommen, nicht die Kritik des Europa-Parlaments an der angeblichen Diskriminierung Homosexueller durch die katholisch-nationale Regierung. Entscheidend war vielmehr, dass die endgültige Absage einer EU-Perspektive für Weißrussland und die Ukraine auf dem Gipfel von Warschau 2011 Polens geopolitische Ambitionen im Osten zunichte gemacht hat. Seither hatte sich die polnische Europa-Politik immer mehr verhärtet. Das polnische Wirtschaftswachstum liegt trotz des Waren- und Dienstleistungskonflikts mit Frankreich und Belgien dabei weiterhin deutlich über dem der alten EU-Mitglieder, womit Warschau mehr Spielraum für einen nationalen Sonderweg hat. Die Weigerung der Bundesregierung, polnischen Ärzten die Arbeitsaufnahme in Deutschland zu verbieten (sic!), hat zudem erst kürzlich für massive Verstimmung in Warschau gesorgt. Zu erwarten ist jetzt die Einführung des bereits mehrfach angedrohten Ausreiseverbots für polnische Mediziner in den ersten zehn Jahren nach ihrem Studium durch die polnische Regierung. Dies dürfte bei uns sowohl den Nordstaat als auch Berlin-Brandenburg und Hessen-Thüringen in größte Schwierigkeiten bringen, wo die Auswirkungen der Ärzteflucht derzeit durch polnische Mediziner soweit abgefedert werden, dass die medizinische Versorgung zumindest punktuell funktioniert.
Tschechien und die Slowakei waren insbesondere über die Verhandlungsführung der großen Mitgliedsstaaten verärgert. Deutschland, Frankreich, Polen, Großbritannien, Spanien und Italien hatten 2009 nach dem endgültigen Scheitern des Verfassungsprozesses ein so genanntes „Direktorium“ eingeführt, um die EU der 28 „handhabbar“ zu machen. Die Solidarisierung der kleineren und mittleren Staaten in der EU ist dabei offensichtlich von allen Beteiligten unterschätzt worden. Im Gegenzug ist die Bindewirkung des Direktoriums überschätzt worden, wie der Austritt Polens sowie die weiterhin euroskeptische Linie Großbritanniens zeigen.
Für die baltischen Staaten, allen voran Estland, blieb mit dem Austritt Polens kein Anreiz, Mitglied der Union zu bleiben. Da die Skandinavier unter Führung Dänemarks den Balten für den Fall ihres Austritts bereits Freihandelsbedingungen sowie die Ausdehnung der nordischen Pass-union (analog zum Nicht-EU-Mitglied Norwegen) zugesagt haben, ist die EU-Mitgliedschaft nun mit Blick auf ihre beiden wichtigsten Absatzmärkte nicht mehr notwendig. Bei Lettland und Estland kommt hinzu, dass sich die EU in ihren Gesprächen mit Moskau beharrlich weigerte, die von Russland jahrelang verschleppte Ratifizierung der Grenzverträge mit den beiden Ländern einzufordern, sondern das Problem als „bilaterale Angelegenheit“ verharmloste (Spanien erhielt in seinem Streit mit Marokko über Ceuta und Melilla dagegen stets Rückendeckung aus Brüssel). Dies verstärkte noch die baltische NATO-Orientierung in sicherheitspolitischen Fragen.
Die Vertragskrise
Bei schonungsloser Betrachtung der Lage ist festzuhalten, dass sich die EU vertraglich auch weiterhin in schlechter, da gar keiner Verfassung befindet und gleichzeitig ihre geographische Verfasstheit durch die Austritte schweren Schaden genommen hat. Der aktuelle Versuch, ein viertes „Nizza plus“-Paket auszuhandeln, kann nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass der Misserfolg des Verfassungsprojekts aus dem Jahr 2006 nie richtig überwunden werden konnte. Der Sondergipfel von Lissabon im Herbst 2007, auf dem die „Konsensmasse“ der Verfassung (Ziele und Werte der Union, Grundrechtecharta, Institutionen und Verfahren, Außenpolitik) in einer politischen Einigung bewahrt werden sollte, um 2009 als „Grundvertrag“ erneut zur Abstimmung gestellt zu werden, scheiterte an nationalen Bedenken Frankreichs, Großbritanniens und Polens. Auch die Wiederbelebungsversuche durch das Europäische Parlament aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der EU im Jahr 2008 wurden Anfang 2009 wieder eingestellt.
Die bislang erfolgten kleineren Änderungen des Nizza-Vertrags zur Vorbereitung der Beitritte Kroatiens (2010) und Mazedoniens (2012) sowie zur Glättung einiger seiner deutlichsten Schwachpunkte in den Abstimmungsverfahren haben der Union bislang nicht die angesichts ihrer Größe dringend benötigte Handlungsfähigkeit zurückgegeben: Die Kommission ist mit jetzt 29 Mitgliedern überbesetzt und verliert sich in internem Kompetenzgezänk. Im Rat ist eine Blockademinderheit noch immer schneller beisammen als eine Gestaltungsmehrheit. Im Parlament hemmt ständige Konsenssuche klare Entscheidungen, weil die für die zweite Lesung zur Überstimmung des Rates nötigen 376 Stimmen nur schwer zu erreichen sind. Objektiv ist daher festzustellen, dass bei richtigen Rahmenbedingungen in einer Verkleinerung auch eine Chance für die EU liegen kann.
Die Wirtschaftskrise
Das Wachstum der europäischen Wirtschaft stagniert seit Jahren – die EU fällt immer weiter hinter die Panamerikanische Freihandelszone (FTAA) und die Asiatisch-Pazifische Wohlstandsgemeinschaft (Asian-Pacific Welfare Area, APWA) zurück. Die Arbeitslosigkeit in der EU liegt im Durchschnitt bei 12,4 Prozent, wobei Deutschland mit 16,7 Prozent seit Jahren eines der Schlusslichter ist.
Dies sind die Konsequenzen der Zurückdrängung des Binnenmarkts, der inzwischen nur noch in Teilen funktioniert. Die Entscheidung über die Verweigerung der Dienstleistungsfreiheit 2006 war das Signal für die Renationalisierung der Wirtschafts-politik in Europa. Polen hob zunächst die Warenverkehrsfreiheit für französische Agrar- und Industrieprodukte auf und verbot anschließend auch Dienstleistern aus Frankreich, in Polen tätig zu werden. Frankreich wiederum unterband den freien Kapitalverkehr in der EU durch das Verbot, bestimmte französische Unternehmen zu veräußern – auch an Europäer. Deutschland setzte seine ökonomisch irrationale Politik des Ausschlusses osteuropäischer Arbeitnehmer vom heimischen Arbeitsmarkt bis zum letztmöglichen Zeitpunkt fort. Spanien blockierte Übernahmen durch rechtliche „Giftpillen“, die es Investoren unmöglich machen, Stimmrecht entsprechend ihres eingesetzten Kapitals zu erhalten. Das Wirtschaftswachstum im kontinentalen Kern Europas verlangsamte sich in der Folge, von kurzen Ausnahmen abgesehen, immer mehr, die Arbeitslosigkeit stieg, soziale Unruhen in Teilen der Union waren die Folge, beginnend im Frühjahr 2006 in den Vorstädten französischer Großstädte.
Auf dem Gebiet der Energiepolitik wurde mit der Entkoppelung von Öl- und Gaspreis als Folge des dritten Golf-Kriegs 2009/2010 die Verwundbarkeit der europäischen Wirtschaft weiter erhöht. Der trotz Rezession nach wie vor hohe chinesische Energiebedarf sowie die fortgesetzte Stagnation der großen westeuropäischen Volkswirtschaften hatten bereits vor dem Krieg zu einem geringeren Inte-resse Russlands an Lieferungen nach Westeuropa geführt. Das chinesisch-russische Energieabkommen im Rahmen der Schanghai Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) vom Herbst 2007 hatte China zudem bereits ab 2009 de facto ein Erstzugriffsrecht auf exportierte russische Energieträger gesichert. Im europäischen Rahmen wird dies durch die erheblich erweiterten französischen Nuklearkapazitäten aufgefangen, von denen Deutschland mit ausreichend Strom versorgt wird, sodass Erdgas weiterhin nahezu ausschließlich zum Heizen verwendet werden kann. Problematisch ist die Weigerung der deutschen Energieversorger, neue Kernkraftwerke in Deutschland zu errichten, trotz der Aufforderung aller im Bundestag vertretenen Parteien, dies zu tun. Deutschland bleibt somit für Elektrizität auf Frankreich, für Wärme auf Russland angewiesen, was sich auch in unserer Handels-, vor allem aber unserer Zahlungsbilanz, negativ auswirkt: Unsere Währungsreserven schmelzen ab. Versuche der Kommission, die Zuständigkeit für eine gesamteuropäische Energiepolitik zu erhalten, waren auf dem Frühjahrsgipfel 2006 gescheitert.
Die internationale Finanzpolitik ist geprägt durch den Abwertungswettlauf zwischen Renminbi und Dollar einerseits, die schwankenden europäischen Wechselkurse nach der Wiedereinführung der nationalen Währungen andererseits. Die Weigerung Chinas im letzten Jahr, das doppelte US-Defizit (Handelsbilanz und Haushalt) weiter durch den Ankauf amerikanischer Anleihen zu finanzieren sowie der gezielte Verkauf größerer Dollarmengen seit Mitte 2012 haben einen Run aus dem Dollar in den japanischen Yen, in Gold, aber auch in Deutsche Mark, Französischen Franc und Britisches Pfund ausgelöst. Die Aufwertung der D-Mark gegenüber dem Dollar hat unsere Exportfähigkeit außerhalb Europas nachhaltig beschädigt (und war unter anderem ursächlich für den Erwerb der schwer angeschlagenen BMW durch DaimlerChrysler).
Nicht nur die Währungs-, auch die Haushaltskrise hat mittlerweile dramatische Ausmaße angenommen. Der Unionshaushalt leidet besonders unter dem im Jahr 2006 eingerichteten „Globalisierungsfonds“, der als Reaktion auf das Scheitern des Verfassungsvertrags die soziale Komponente der EU gegenüber vermeintlich neo-l-iberaler Wirtschaftspolitik betonen sollte. Die von anfangs 500 Millionen Euro auf mittlerweile 4,2 Milliarden DM gestiegene jährliche Belastung wird inzwischen von vielen Mitgliedsstaaten als wirkungsloses Instrument angesehen, zumal die Mittel in den alten EU-15-Staaten überwiegend für nationale Sonderziele zweckentfremdet werden. Beispielhaft sind die finanziellen Sonderleistungen für französische und niederländische Handwerker (so genannte „Ausgleichsfonds für erweiterungsbedingte Sonderlasten“), die als „Handwerkerrabatt“ bei den letzten Verhandlungen über die finanzielle Vorausschau 2014 bis 2020 – wie der „Britenrabatt“ auch – von der Diskussion ausgenommen werden mussten.
Negativ wirkt sich der Globalisierungsfonds zudem auf das Verhältnis der alten und neuen Mitgliedsstaaten aus. Letztere beklagen, dass sie allein sich auf die Bedingungen des internationalen Wettbewerbs einstellen und ihre Systeme umstrukturieren mussten, während in den EU-15-Staaten unterlassene Reformen finanziell belohnt würden. Dieses Unverständnis trug maßgeblich zum Willen einiger mittel- und osteuropäischer Staaten bei, die endgültige Blockade der Dienstleistungsfreiheit durch Frankreichs damaligen Präsidenten Chirac mit der einseitigen Aufhebung der Warenverkehrsfreiheit für französische Produkte ab dem 1.1.2008 zu sanktionieren. Der Binnenmarkt funktioniert seitdem nur noch in Teilbereichen. Mit der gerichtlich erzwungenen Schließung der französischen „Hypermarchés“ in Polen 2011 eskalierte die Auseinandersetzung weiter und ist bis heute nicht beigelegt.
Die außenpolitische Krise
Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik kann die Bundesregierung auf keine nennenswerten Vorarbeiten aufbauen. Die Notwendigkeit des erneuten Eingreifens der USA auf dem Balkan in der zweiten Kosovo-Krise im Frühjahr 2008 zeigte wieder einmal die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen. Die Verurteilung der USA am 13.10. 2008 im UN-Menschenrechtsrat (unter Zustimmung der ihm angehörenden EU-Mitglieder) wegen der Haftanstalt in Guantánamo war kontraproduktiv, da sie in Washington parteiübergreifend für Empörung gesorgt hat. Sollte die EU wie zugesagt ihrem Beitrittskandidaten Moldau im Streit mit Russland um Transnistrien zur Seite stehen und Russland zugleich durch die Drosselung seiner Gaslieferungen Westeuropa unter Druck setzen, kann deshalb gegenwärtig mit einer Unterstützung durch die USA im UN-Energierat nicht gerechnet werden.
Auch wenn die Arbeitsbeziehungen mittlerweile wieder einen Zustand der Normalität erreicht haben, belastet der Taiwan-Zwischenfall von 2011 noch immer das koordinierte Auftreten der EU und der USA. Die im Jahr 2010 erfolgte Aufhebung des EU-Waffenembargos gegen China und der im Jahr darauf folgende unglückliche Tod von 17 US-Soldaten vor Taiwan durch eine fehlgeleitete französische MM-44 Exocet-Rakete der chinesischen Marine haben in den USA das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der gemeinsamen EU-Außenpolitik nachhaltig zerrüttet. Die Wahlen zum Europa-Parlament in diesem Frühjahr, bei denen erstmals europäische Parteilisten antraten und die Sozialdemokraten in ihrem Wahlprogramm den „Supermachtstatus der EU als Gegengewicht zu den USA“ ausdrücklich als Wahlziel benannten, haben das Misstrauen in Washington weiter befördert.
Die wichtigste Frage im Bereich der Nachbarschafts- und Beitrittspolitik ist die des Umgangs mit der Türkei nach den deutlich ablehnenden Referenden in den Niederlanden und Österreich. Auch wenn die Abstimmungen keinen bindenden Charakter haben, ist eines der für die Ablehnung maßgeblichen Probleme ohnehin von der europäischen Politik zu beantworten: Sollen die Beitrittsgespräche angesichts der Schwierigkeiten in den Haushaltsverhandlungen für 2014 bis 2020 überhaupt fortgesetzt werden, obwohl keine Mittel für den türkischen Agrarsektor zur Verfügung stehen? Da die Türkei zumindest auf einer privilegierten Partnerschaft besteht, müsste die EU ihr auf den Beitritt fokussiertes Verhandlungsmandat formell abändern, um eine Lösung zu ermöglichen.
Empfehlungen für die Ratspräsidentschaft
Die tiefe, vor Jahren in diesem Ausmaß nicht für möglich gehaltene Krise der EU stellt die Ratspräsidentschaft vor enorme Herausforderungen. Die Bewahrung der europäischen Einigung hängt entscheidend davon ab, dass die notwendigen Korrekturen nun mit der gebotenen Entschiedenheit vorangetrieben und durchgesetzt werden. Zugleich darf nicht übersehen werden, dass die Umbrüche der Union die Chance zu grundsätzlichen Reformen geben, die in den letzten Jahren im Geflecht der widerstreitenden Interessen ausgebremst worden sind. Die Bundesregierung sollte daher versuchen, den Wunsch der Mehrheit der Europäer nach einer Fokussierung der EU auf Kernthemen wie die Sicherheit nach innen und außen, wirtschaftliches Wachstum sowie die Beschränkung der Aktivitäten auf grenzüberschreitende Aufgaben mit der politischen Wirklichkeit in Einklang zu bringen.
Wenn der Präsidentschaft diese Schritte hin zur Beschränkung der Union auf das Wesentliche gelingen, wird sie die Akzeptanz der EU bei den Bürgern entscheidend voranbringen und einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der europäischen Krise leisten. Detailregelungen wie die Einzelfördermaßnahmen für Handwerksbetriebe oder Arbeitsschutzregeln auf der einzelbetrieblichen Ebene, aber auch die Vereinheitlichung sozialpolitischer Vorschriften, Abgabeverbote für Bier an 16-Jährige, Rauchverbote in Gaststätten und die Befassung mit dem Schicksal von Zirkustieren haben die Union in eine Sackgasse geführt. Während der deutschen Präsidentschaft kommt es daher darauf an, wieder den Blick für das Wesentliche zu entwickeln – Verfassung, Binnenmarkt und Außenpolitik.
1. Verfassung
Zunächst muss eine Regelung gefunden werden, wie das Ausscheiden der Abgeordneten, Kommissare und Beamten der ausgetretenen Staaten aus den Organen der EU abgewickelt wird. Parallel dazu müssen die Regeln für eine EU mit jetzt 23 Mitgliedern gefunden werden. Die Gelegenheit, jetzt zu Mehrheitsentscheidungen endlich auch auf Gebieten zu kommen, auf denen dies bisher unmöglich erschien, ist günstig. Ziel unserer Bemühungen ist somit der Abschied von der Einstimmigkeits-EU hin zur „Europäischen Demokratischen Union“ (EDU), in der die gewichtete Mehrheit der Länder sowie die Mehrheit der Abgeordneten des Europa-Parlaments gleichberechtigt entscheiden. Unsere Präsidentschaft sollte dieses Ziel in den Mittelpunkt aller Bemühungen stellen und Großbritannien und Dänemark hierüber frühzeitig informieren. Äußern die beiden Länder Bedenken, ist gemeinsam mit Frankreich und den Benelux-Staaten der Übergang in die EDU als Kern einer EU der zwei Geschwindigkeiten herbeizuführen. In der EDU werden alle Fragen nach dem Mehrheitsprinzip und im parlamentarischen Mit-entscheidungsverfahren entschieden. Länder, die hierbei nicht mitgehen möchten, können auf Grundlage der bisherigen Regelungen („Nizza plus 3“) im äußeren Kern Mitglied der EU bleiben und sich von Fall zu Fall entscheiden, ob sie Integrationsschritte mitgehen möchten, die von der EDU bereits vollzogen worden sind. Allen Ländern im äußeren Ring sollte die Möglichkeit geboten werden, der EDU beizutreten, wenn sie dies wünschen.
Die Kommission ist auf 12 bis höchstens 15 Mitglieder zu reduzieren, um eine Konzentration auf das Wesentliche auch dort herbeizuführen. Die Verzahnung mit den nationalen Parlamenten, die bisher am Desinteresse dieser Kammern scheiterte, sollte erneut forciert werden, um die Vermittlung europäischer Entscheidungen in die Mitgliedsstaaten hinein zu verbessern. Innerhalb der EDU sollten Urteile des Europäischen Gerichtshofs allgemeinverbindliche Wirkung entfalten, statt immer nur für den Einzelfall zu gelten. Dies würde zahlreichen Bürgern und Unternehmen den Gang vor Gericht ersparen.
2. Binnenmarkt
Die Krise hat viele Ursachen, bietet aber auch Chancen, sie zu bewältigen und die Arbeitslosigkeit endlich wieder unter 15 Prozent zu drücken, wie im Wahlkampf versprochen. Die immer stärker steigende Arbeitslosigkeit hat zu einem Umdenken in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit geführt. Die Bundesregierung muss deshalb ein Gesamtpaket zur Beseitigung aller Handelshemmnisse schnüren, das schnellstmöglich die Funktionsfähigkeit des zersplitterten Binnenmarkts wiederherstellt. Dazu zählen insbesondere die Freigabe des Dienstleistungsverkehrs (Dienstleistungen machen 80 Prozent unserer Wirtschaftsleistungen aus) sowie eine einheitliche Regelung für innereuropäische Unternehmensübernahmen. Die Beschränkung der Daseinsvorsorge auf den wirklich öffentlich zu erbringenden Anteil – auch gegen den Widerstand der Kommunen – würde einen wichtigen weiteren Bereich dem Wettbewerb öffnen. Hinzu kommen muss die aktive Bekämpfung wettbewerbsfeindlichen Verhaltens großer Unternehmen. Dies ist die Aufgabe von Wettbewerbskommissar Friedrich Merz, mit dem schnellstmöglich das Gespräch gesucht werden sollte.
Die Bewegungsfreiheit von Personen funktioniert, insbesondere der Bologna-Prozess hat zu einem verbesserten Austausch unter Akademikern geführt, nachdem fast alle europäischen Universitäten die Vergleichbarkeit ihrer Studienorganisation erreicht haben. Hier gibt es keinen Handlungsbedarf.
Im europäischen Kontext kritisch beäugt werden die Fortbildungslager für Langzeitarbeitslose in Berlin-Brandenburg; insbesondere nach den kürzlichen Krawallen im Schwedter Lager äußerte sich das Europa-Parlament sehr kritisch. Wir sollten als Ratspräsidentschaft dieses Instrument noch einmal erläutern, das in Rumänien und Griechenland genauso erfolgreich eingesetzt wird wie in Teilen des Nordstaates und Berlin-Brandenburg, um soziale Brennpunkte zu entschärfen.
3. Außenpolitik
Als Zeichen eines außenpolitischen Neuanfangs sollte der ohne Verfassungsvertrag wirkungslos gebliebene Hohe Repräsentant abgeschafft werden. Der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy, der dieses Amt derzeit innehat, ist durch das Versagen der EU bei der Lösung des 2013 erneut aufgeflammten Kosovo-Konflikts politisch belastet. Stattdessen sollte ein echter europäischer Außenminister eingesetzt werden; auch dieser muss zwingend Bestandteil der EDU sein. Die nationalen diplomatischen Dienste Frankreichs und Deutschlands sollten schnellstmöglich mit dem der Europäischen Kommission fusionieren und Kern eines Europäischen Auswärtigen Dienstes unter Leitung des europäischen Außenministers werden. Es wird darauf zu achten sein, dass je ein Staatssekretär aus Deutschland und Frankreich Aufbau und Funktionsweise des neuen Dienstes entwickeln und umsetzen. Kandidat für den Posten des Außenministers könnte Mark Rutter sein, der als Niederländer einen kleineren Mitgliedsstaat vertritt. Zudem weiß er Vorstöße von französischer Seite abzuwehren, wenn diese einseitig gegen die USA gerichtet sind.
Die Kernfrage der weiteren Anbindung der Türkei nach den ablehnenden Referenden in Österreich und den Niederlanden sollte unter Rückgriff auf das Europäische Multilaterale Instrument (EMI) konstruktiv gestaltet werden. Der nach dem dritten Golf-Krieg wieder gestiegene Einfluss Wa- shingtons – das sich mit der Nichtmitgliedschaft der Türkei in der EU inzwischen abgefunden hat – hat verhindert, dass Ankara sich außenpolitisch isoliert, aus der NATO austritt und eine turko-arabische Allianz anstrebt.
Die wichtigsten Treffen in unserer Präsidentschaft werden der europäisch-indische Gipfel in Hyderabad sowie der EU-USA-Gipfel in Brüssel sein. Beide werden sich mit den Folgen der Rezession in China und dem Wiederaufflammen des vor allem gegen Japan gerichteten Nationalismus dort zu beschäftigen haben. Mit Indien geht es darüber hinaus um die Unterzeichnung des euro-indischen Raumfahrtabkommens sowie die Beteiligung von Indian Aeronautical and Aircraft Engineering (IAAE) am Airbus-Konsortium. Gegenüber den USA wird es in erster Linie darum gehen, sie zu einer Fortsetzung ihres Engagements auf dem Balkan zu bewegen, dessen Beendigung von Washington bereits mehrfach angedroht wurde.
Fazit
Es geht jetzt darum, die EU so schnell wie möglich zu stabilisieren. Auf Grundlage der skizzierten Politikentwürfe kann dies gelingen, sofern die wichtigsten Partner dies unterstützen. Die Chancen hierfür stehen nicht schlecht, da der Schock über die Austritte in Paris und London tief sitzt – man hatte dort die Anzeichen der Krise nicht so deutlich wahrgenommen (wir ehrlicherweise auch nicht). Der Austrittsdruck in England ist seit dem Schritt der Osteuropäer noch einmal gewachsen. Entscheidend wird sein, die Präsidentschaft durch eine neue Führungskultur zum Erfolg zu bringen. Weder die überzogene Konsenskultur des Einstimmigkeitsprinzips noch die Führung von der Spitze im Direktoriumsansatz funktionieren, das haben die letzten zehn Jahre deutlich gemacht. Unter dem Strich geht es um nichts geringeres als die Rettung der Europäischen Union – eine Aufgabe, deren Scheitern unübersehbare Folgen hätte, deren erfolgreiche Bewältigung uns dagegen einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern würde.
ALEXANDER GRAF LAMBSDORFF, geb. 1966, ist seit 2004 Europaabgeordneter in der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa und außenpolitischer Sprecher der FDP im Europäischen Parlament. Er ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und der Delegationen für die USA
und Japan.
Internationale Politik 7, Juli 2006, S. 74‑81