Die NATO, die wir brauchen
Effektiver, integrierter, effizienter, agiler: Wo das Bündnis ansetzen muss
Die NATO steckt mitten in einem schwierigen Prozess, ihre Prioritäten neu zu setzen. Größere Interoperationalität, bessere Integration bei Planung und Strategie, mehr Effektivität bei der Bereitstellung sind dabei unerlässlich – und das Werben um mehr öffentliche Unterstützung. Hier verliert die Allianz gerade die Schlacht.
In diesem Jahr steht die NATO vor Veränderungen und Herausforderungen, die an die Substanz des Nordatlantischen Bündnisses gehen. Die Antworten, die es darauf findet, werden seine Zukunft bestimmen.
Der Abschluss der Afghanistan-Mission Ende 2014 (der größte und komplexeste Militäreinsatz, den die Allianz je unternommen hat) hat langfristige strategische Fragen über die Zukunft der NATO aufgeworfen. Das Vorgehen des russischen Präsidenten Wladimir Putin in der Ukraine hat zugleich dafür gesorgt, dass diese Fragen von der Erkenntnis überlagert wurden, dass auch alte Herausforderungen weiterhin bestehen. Indes gibt es kaum Diskussionen darüber, dass die derzeitig rückläufigen Militärausgaben in den meisten Mitgliedstaaten wegen der Ereignisse in der Ukraine einer Korrektur bedürfen. Das führt dazu, dass immer weniger Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Herausforderungen zu begegnen.
Die NATO steckt mitten in einem notwendigen, aber schwierigen Festlegungsprozess, welche Prioritäten sie setzen will, um für die alten und neuen Herausforderungen gerüstet zu sein, die ihr die Ereignisse diktieren. Die Allianz muss sich mit den Problemen von heute befassen, ohne die strategischen Ziele von morgen aus dem Blick zu verlieren; die aktuellen Brandherde im Auge behalten und zugleich an ihren langfristigen Visionen festhalten – das fällt Regierungen bekanntlich schwer, multinationalen Institutionen aber noch viel schwerer. Der NATO-Gipfel im September bietet den Staats- und Regierungschefs also eine wichtige Gelegenheit, ihre Pläne für die Zukunft der Allianz vorzulegen.
Neue strategische Landschaften
In den kommenden Monaten besteht die Aufgabe der NATO in erster Linie darin, die Anforderungen zweier grundlegender Kategorien neuer oder wieder aufkommender Bedrohungen – der traditionellen und der nichttraditionellen – auszutarieren.
Die Lage in der Ukraine macht mehr als deutlich, dass die herkömmlichste Form von Sicherheitsbedrohungen – die Bedrohung der territorialen Integrität – höchst relevant bleibt. Wie schon im Kalten Krieg kommt der NATO auch heute die Schlüsselrolle zu, Verbündeten, die sich durch Russland bedroht fühlen, Rückversicherung zu leisten und Russland oder andere Aggressoren abzuschrecken. Rückversicherung und Abschreckung sind natürlich zwei Seiten derselben Medaille: Je stärker die NATO ihre Verbündeten in Mittel- und Osteuropa glaubhaft absichert – durch Übungen, Verlegungen und ähnliche Maßnahmen –, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Moskau die Grenzen der NATO-Mitgliedstaaten respektiert. Laut NATO-Oberbefehlshaber Philip Breedlove aber ist klar: Mit ihrer heutigen Ausrichtung, Stationierungspolitik und Strategie ist die NATO nicht mehr in der Lage, den Bedrohungen angemessen zu begegnen; sie bieten auch nicht länger die Art von Abschreckungseffekt, die erforderlich wäre – von den operationellen Fähigkeiten ganz zu schweigen.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten war die NATO an Operationen zur Krisenbewältigung beteiligt, die ebenso aufwändig wie komplex waren. Vom Friedenseinsatz auf dem Balkan zu Luftangriffen im Kosovo, von der Afghanistan-Mission zur Intervention in Libyen – die Fähigkeit der NATO, auf Krisen zu reagieren, gehörte stets zum Kern ihrer Rolle und Verantwortlichkeiten. Und wenn man die nationalen Sicherheitsstrategien der Mitglieder betrachtet, sind Bedrohungen dieser Art immer noch der Dreh- und Angelpunkt. An Europas Südgrenzen drohen die Instabilitäten des Nahen und Mittleren Ostens – Konflikte, Gewalt, Flüchtlinge, Terroristen und so weiter – auf die Territorien der NATO-Staaten überzugreifen. Krisenmanagement wird weiterhin von zentraler Bedeutung für die Mitgliedstaaten sein und somit auch für die Organisation insgesamt.
Neue Kernthemen
Mit dem Ende des Kalten Krieges und aufgrund der (überoptimistischen) Annahme, die Bedeutung der traditionellen Rolle der NATO würde schwinden, haben sich verteidigungspolitische Analysten auf die neuen strategischen Bedrohungen der NATO-Staaten konzentriert. Ihr Denken fußte auf den nationalen Strategien der Mitgliedstaaten und spiegelt sich in den neuen Aufgaben wider, die das Bündnis übernommen hat, um potenziellen Bedrohungen zu begegnen. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 gehört der Terrorismus dazu; er bleibt auch weiterhin ein zentrales Sicherheitsproblem. Die wachsende Vernetzung der Welt bedeutet auch, dass die Themen Cyber-Sicherheit, Endlichkeit natürlicher Ressourcen (von Nahrung über Wasser bis hin zu Energie) sowie Wirtschaft und Handel immer mehr als Kernthemen nationaler Sicherheit betrachtet werden. Kurz gesagt: Die Bandbreite alter und neu entstehender Probleme, denen sich die NATO gegenübersieht, hat sich deutlich erweitert. Aber die Allianz muss diesen begegnen, ohne über mehr Mittel zu verfügen.
Eine NATO für heute und morgen
NATO-Mitglieder setzen bei diesen Herausforderungen unterschiedliche Prioritäten. Jene im Süden spüren die Kraft der Unruhen im Nahen und Mittleren Osten mehr als jene im Norden; sie geben daher Krisenmanagement den Vorrang. Angesichts der jüngsten Ereignisse in der Ukraine haben die östlichen NATO-Mitglieder verständlicherweise ein ebenso überragendes Interesse an Territorialverteidigung. Diese Vielfalt an Prioritäten muss nicht in Unentschlossenheit und Unzulänglichkeiten der NATO münden. Stattdessen sollte sie dazu dienen, die Charakteristika und Fähigkeiten des Bündnisses – einige alte, einige neue – zu definieren, über die die NATO verfügen muss, um diese Herausforderungen zu bewältigen.
Erstens muss die NATO eine effektive Plattform der Zusammenarbeit sein, sowohl innerhalb der Institution als auch außerhalb. Das Bündnis muss seine Fähigkeiten in Sachen militärischer Interoperabilität zwischen den Mitgliedstaaten selbst wie auch zwischen dem Bündnis und externen Partnern weiter ausbauen. Der gemeinsame Afghanistan-Einsatz hat die Koordination unter den ISAF-Mitgliedern erheblich verbessert; in den kommenden Jahren muss das Bündnis sicherstellen, dass es auf diesen Fähigkeiten aufbaut. Es ist eine der grundlegenden Besonderheiten der NATO, die sie so wertvoll macht.
Angesichts der Art der Herausforderungen, denen sich die transatlantischen Verbündeten gegenübersehen und denen mit militärischer Gewalt oft nur eingeschränkt begegnet werden kann, muss die NATO zudem als Plattform für eine Zusammenarbeit mit Partnern jenseits der Allianz dienen. Zu diesen potenziellen Partnern zählen multilaterale Organisationen wie die Vereinten Nationen, die Europäische Union, die Weltbank oder die OSZE, aber auch gleichgesinnte wie handlungsfähige Nicht-NATO-Staaten wie Schweden, Finnland und Australien. Die Einsätze in Afghanistan und Libyen haben deutlich gemacht, dass es von entscheidender Bedeutung ist, dass die NATO bei Out-of-Area-Einsätzen mit lokalen Freunden und Verbündeten im Nahen und Mittleren Osten oder Asien zusammenarbeitet. Die NATO muss ihre Partnerschaften auf ihr Profil zuschneiden oder öffentlich festlegen, mit wem sie zusammenarbeitet. Sie muss ihr Mandat für die Herstellung von Interoperabilität unter ihren Mitgliedern ausweiten; so könnte sie auch mit einer größeren Zahl internationaler Akteure zusammenarbeiten, um gemeinsame Sicherheitsziele zu erreichen.
Zweitens muss die NATO ihre Planung und Strategie besser integrieren. Verteidigungsplanung ist momentan ein größtenteils mechanischer Prozess, in dem nationale Fähigkeiten inventarisiert und diese Informationen dann mit den anderen geteilt werden. Angesichts begrenzter Ressourcen ist dies notwenig, aber nicht ausreichend. Zu einer gemeinsamen Planung zu kommen, wirft natürlich schwierige Fragen nationaler Souveränität auf und wird deshalb einen starken politischen Willen erfordern. Dennoch ließen sich im Bereich gemeinsamer Ausbildungs- und Stationierungsmaßnahmen verhältnismäßig schnell Fortschritte erzielen, und auf längere Sicht auch bei einem intensiveren Austausch von geheimdienstlichen und anderen Informationen unter den Mitgliedstaaten, was zu einem verbesserten Frühwarnsystem führen würde. Letzteres ist für eine Verbesserung der NATO-Fähigkeiten unerlässlich.
Drittens muss die NATO ihre Effektivität bei der Bereitstellung von zentralen militärischen Fähigkeiten steigern. Ein erster Schritt ist hier eine gemeinsame Bedrohungswahrnehmung, die eine bessere gemeinsame Planung und Strategie unterstützt, und – im Laufe der Zeit – zu einer Zusammenarbeit beim zukünftigen Erwerb oder der Veräußerung von Kapazitäten führen kann. Dies ist umso wichtiger, je länger Verteidigungsbudgets stagnieren. Darüber hinaus könnte die NATO als Plattform für kleinere Gruppen ähnlich gesinnter Nationen dienen, um sich in Fragen der Beschaffung im Verteidigungsbereich genauer aufeinander abzustimmen.
Viertens müssen Mitgliedstaaten mehr öffentliche Unterstützung für die NATO gewinnen. Da die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg verblasst, gibt es weniger Menschen, die die Notwendigkeit von Verteidigung erkennen und gewillt sind, ihr den Vorrang vor anderen sozialen, bildungsbezogenen und sonstigen innenpolitischen Belangen zu geben. Ohne Rückhalt in der Öffentlichkeit wird es den NATO-Mitgliedern unmöglich sein, einige der erforderlichen politischen Entscheidungen zu treffen. Mit Hilfe der NATO selbst müssen die Mitgliedstaaten daher der Öffentlichkeitsarbeit daheim hohe Priorität einräumen.
Aber die NATO und ihre Mitglieder müssen möglicherweise noch weiter gehen. Wie die Ereignisse in der Ukraine so deutlich gezeigt haben, benutzen Gegenspieler immer stärker öffentliche Diplomatie („public diplomacy“) als ein Offensivinstrument, um die in der Öffentlichkeit vorherrschenden Bilder und Erklärungsmuster zu verändern. Dadurch gewinnen sie politische, diplomatische und sogar militärische Stärke. Wenngleich die NATO in diesem Bereich nicht unbedingt die Führung übernehmen sollte, muss sie dennoch Kapazitäten aufbauen, um ihre Mitglieder darin zu unterstützen, Führungsfunktionen im Kampf um die Deutungshoheit anzunehmen. Die Unterstützung durch die Öffentlichkeit ist eine wichtige Waffe im Arsenal von Staaten oder Institutionen, und die NATO und ihre Mitglieder sind gerade dabei, die Schlacht in diesem Bereich zu verlieren.
Überdenken der Vision überflüssig
Schließlich muss die NATO, um all dies zu erreichen, flexibler und agiler werden. Wohl ist die NATO in der Vergangenheit dazu fähig gewesen, sich an neu entstehende Sicherheitsanforderungen anzupassen: Afghanistan und die Balkan-Staaten sind anschauliche Beispiele. Aber die Herausforderungen werden immer vielgestaltiger und komplexer, und sie entwickeln sich immer schneller. Die NATO braucht entsprechende Befehlsstrukturen. Es fragt sich allerdings, ob dies im Rahmen einer Struktur möglich sein wird, die auf dem Konsens aller 28 Mitgliedstaaten bei allen Entscheidungen basiert. Daher wird die NATO entscheiden müssen, ob es einen Weg gibt, kleinere Gruppen von Verbündeten zu einer tieferen Zusammenarbeit zu ermuntern, ohne dabei die Solidarität zu opfern, die für die Glaubwürdigkeit und Legitimität der Allianz selbst so wichtig ist. Bis zu einem gewissen Grad hat dies bereits stattgefunden, wie man in Afghanistan und Libyen sehen konnte – ISAF hatte immerhin mehr Mitglieder als die NATO. Aber die Allianz muss diese Flexibilität in den kommenden Jahren wohl noch weiter ausbauen.
Das Bündnis braucht kein weiteres Überdenken seiner übergeordneten Rolle oder Vision, es braucht effektivere und effizientere Wege, seine Ziele zu erreichen. Und es muss Veränderungen bei der Struktur, den Kapazitäten und den Prozessen vornehmen, um dies zu ermöglichen. Diejenigen, die heute die NATO führen, haben die Chance, die Allianz neu zu beleben. Sie müssen sie nutzen.
Kathleen McInnis ist Research Consultant des USA-Programms von Chatham House und Adjunct Fellow des Center for Strategic and International Studies in Washington
Xenia Dormandy
leitet das USA-Programm des Royal Institute of International Affairs (Chatham House) in London
Internationale Politik 4, Juli/August 2014, S. 36-40