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01. März 2005

Die Kunst des Künstlichen

Technologie

Im Forschungsgebiet ALife probt man den Sprung aus dem präbiotischen Nichts ins Leben

Immer mehr Künstliches umgibt uns heute – neue, im Labor designte Substan­zen, die Blusen anschmiegsamer, Tüten reißfester, Lacke haltbarer machen. Die Chemie hält da Millionen Produkte parat. Polymerforscher puzzeln Stoffe am Computerbildschirm zusammen, bis deren Eigenschaften zur Anwendung pas­sen. Künstlich heißt: Der Mensch schafft etwas, was die Natur so nicht auf Lager hat. Dafür hat er Werkzeuge und ein ziemlich großes Gehirn. Schon der erste zum Faustkeil verwandelte Stein war so ein Kunstprodukt. Seither ist die Produktion von Künstlichem weit gediehen.

Doch es gibt immer noch Grenzen. Manches Ziel, nach dem Forscher schon lange gierig streben, scheint kaum erreichbar. Erinnern wir uns nur an die Ver­heißungen in Sachen künstlicher Intelligenz. Die Ankündigungen waren groß­sprecherisch, die Resultate bislang eher lausig. Unter sehr exakt umrissenen Be­dingungen, an Förderbändern und Schachbrettern, funktioniert so einiges. Aber im realen, chaotischen Dasein? Oh là là! Bilder zu erkennen ist tückisch für künstliche Köpfe, Sprache zu sprechen scheint fast unmöglich. Die tollsten Ma­schinen scheitern an simpelsten Alltagssituationen. Das Leben ist viel zu unbe­rechenbar, alles ein Riesenprogrammierproblem.

Doch nun soll es kommen: Das künstliche Leben höchstselbst. Organisches, geschaffen aus Anorganischem. Mit Verdauung und Fortpflanzung. Nein, kein  Frankenstein – ein künstlicher Mensch bleibt unerreichbar fern. Geplant sind winzige Miniaturlebewesen, möglichst simpel gebaut. Schon wachsen die Erwar­tungen haushoch. Man träumt von Maschinen, die sich autonom reparieren und von Pullovern, die sich endlich selbst flicken, von lebenden Pharmazeutika und Scharen synthetischer Sklaven, die für uns Energie produzieren und den Dreck wegmachen. Auch Architekten von Computersoftware legen große Hoffnungen in künstliches Leben: Weil die Programme immer komplexer werden, kaum noch überschaubar sind, setzten sie auf eine Art digitale Evolution, auf „genetische Algorithmen“. Sollen sich die Programme doch selber weiterbauen.

„Wir wollen demonstrieren, was zum Teufel Leben ist, indem wir es konstru­ieren“, erklärte der Physiker und Bioingenieur Steen Rasmussen vom berühmten Los Alamos Laboratory in New Mexico der Zeitschrift New Scientist. Einst wurde in Los Alamos das Werkzeug für massenhaftes Sterben geschaffen: die Atombombe. Nun soll hier neues Leben erblühen. Welch hübsche Wendung.

Es werde Licht? Gemach. Die Sache dauert. Artificial Life, gern auch ALife ge­nannt, kommt nicht über Nacht. Aber es muss die ultimative Faszination für Forscher sein, nachzuspielen, was vor Milliarden Jahren auf der Erde stattfand: der Sprung aus dem präbiologischen Nichts ins Leben. Vor über 50 Jahren koch­te der Biochemiker Stanley L. Miller in Chicago aus allerlei leblosen Ingredien-zien eine Aminosäurensuppe zusammen. Für den Laien ziemlich unspektakulär. Für die Fachwelt eine Sensation.

Allmählich geht es nun voran. Vor 18 Jahren wurden die Grenz­pflöcke des Forschungsgebiets ALife eingerammt, eine kleine Gruppe um den Forscher Chris Langton traf sich in Los Alamos. Seither hält man internationale Konferenzen ab, auf denen immer mehr Experten über das Verhalten von Molekülen, die Speicherung genetischer Information, selbstrepli­zierende Strukturen und das Wachstum künstlicher Pflanzen fachsimpeln, auch über Schwarmforschung und Astrobiologie. Programmierer schaffen virtuelle Po­pulationen von winzig kleinen Programmen, die einander im Hauptspeicher eines Computers verdrängen, ohne weitere Vorgaben. Die besten Programme haben die meisten Nachkommen. Wie schon Darwin wusste.

Im vergangenen Herbst traf man sich wieder in Los Alamos – und auch in Dortmund, zur European Conference on Artificial Life. Dutzende Labore wer­keln weltweit an Wegen zum Leben. In Los Alamos läuft das Protocell Assembly Projekt. Die EU hat 2004 das Programm PACE (Programmable Artificial Cell Evolution) aufgelegt. Halb Europa und amerikanische Partner wollen hier an der Konstruktion programmierbarer Zellen arbeiten, geleitet von John McCaskill, Chemiker an der Ruhruniversität Bochum. Der ist einer der drei Gründungsdi­rektoren des in Venedig entstehenden ECLT (European Center for Living Tech­nology). Es kommt Leben ins ALife. Das Tempo zieht deutlich an.

Verständlich, dass die Wissenschaft nicht Milliarden Jahre warten will, bis aus Ursuppe in den Labors irgendetwas zu entstehen geruht. Wir haben die wesent­lichen Bausteine beisammen, sagen die führenden Forscher auf dem Terrain. Sie wollen ihren Werkzeugkasten aufklappen und loslegen. Denn eigentlich muss man ja „nur“ den richtigen Atomcocktail zusammenbringen und ihn agieren las­sen. Wie weiland auf der toten Erde.

Der Däne Rasmussen bastelt schon am „Los Alamos Bug“, einer Art Minimal­lebewesen aus einem Tröpfchen von Fettsäuremolekülen, die mit PNA, einer vereinfachten Pseudo-DNA, angereichert werden. Die Grundingredienzien des Lebens, sagt Rasmussens Team, seien eine Art Behäl­ter, also eine gewisse Struktur, die das Lebewesen zu­sammenhält, dazu ein Träger für Erbinformation, Verdauung und ein bisschen Entwicklung durch Evo­lution.  Auch andere Gruppen zwischen Harvard und Rom arbeiten hart an Miniaturlebewesen. Eine Gruppe um den Genforscher Craig Venter in Rockville bei Washington D.C. versucht, ein ganz anderer Weg, einem Bakterium das Genom zu entnehmen und es durch eine synthetische Mi­nimal-Erbinformation zu ersetzen. Da diese Methode auf der Nutzung einer in­takten natürlichen Zelle fußt, könnte Venter schneller zum Ziel kommen. Wir erinnern uns: Auch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms beschleunig­te er mit Großcomputern und brachial vereinfachter Methodik.

Die Aufbruchstimmung ist enorm. „Wir sind bald so weit, die Technologie des Lebens meistern zu können“, meint der Forschungspionier Chris Langton, „wir stehen an der Schwelle zum Techno-Leben“. Noch aber hängt viel Nebel vor die­ser Zukunft. Keiner weiß so recht, wohin der Weg führt. Große Worte werden gesprochen, sagenhafte Gewinne versprochen. Gläubige sorgen sich um ihre Göt­ter. Andere fürchten sich vor smarten Raketen, Roboterpanzern, Bakterieninva­sionen und cleveren Computerviren, gegen die es keine Abwehr mehr gibt. „Wir spielen hier mit etwas sehr Machtvollem“, sagt Rasmussen. Doch das habe, argu­mentiert er, die Menschheit stets getan. Schon als sie mit dem Feuer herumpro­bierte, und später mit der Kernspaltung. Man müsse nur einfach „vorsichtig sein“. Doch fürchtet euch nicht, sagt Rasmussen. Komplexeres Leben zu schaffen werde wohl erst im 22. Jahrhundert möglich sein. Frankenstein ist noch fern.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2005, S. 112 - 113.

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