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01. Jan. 2015

Die Kosten der Konsolidierung

In Spanien ist der gesellschaftliche Zusammenhalt in Gefahr

Die Regierung des spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy präsentiert sich derzeit gern als Musterschüler des in der Wirtschaftsflaute stagnierenden Euro-Raums. Und von einem strikt makroökonomischen Blickwinkel aus ist auch in der Tat nicht zu leugnen, dass sich die Lage in Spanien zuletzt verbessert hat.

Nachdem seit 2008 eine Rezession auf die nächste gefolgt war, hat die spanische Zentralbank bestätigt, dass das Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal des Jahres 2014 um 0,5 Prozent gewachsen ist (1,6 Prozent im Jahresvergleich) – und es ist nicht auszuschließen, dass sich dieses Wachstun in den kommenden Monaten noch fortsetzt.

Die Regierung und viele Ökonomen beteuern, dass die Strategie der „inneren Abwertung“, also des Senkens der Preise und Löhne, aufgehe. Doch laut einer Analyse des spanischen Sparkassenverbands Funcas lief diese innere Abwertung eben nicht über wettbewerbsfähigere Preise, sondern ausschließlich über sinkende Löhne und Gehälter. Und so ist die Zahl der Kritiker groß, die schwerwiegende soziale Verwerfungen im Gefolge der Krisenbewältigung befürchten. Keine internationale Institution sagt Spanien für die kommenden drei Jahre eine Arbeitslosenrate von weniger als 20 Prozent vorher. Die hohe Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt sich, die Armutsrate liegt nach den EU-Definitionskriterien bei 28,2 Prozent. Der Lohn von Zeitarbeitern ist um 20 Prozent gefallen, während jener der Festangestellten um 5 Prozent gesunken ist.

Überhaupt belastet die Dualität des Arbeitsmarkts die wirtschaftliche Produktivität: Einer schrumpfenden Zahl von Festangestellten steht ein wachsendes Heer leicht kündbarer Zeitarbeiter gegenüber. Der Zahlungsverzug ist auf ein Rekordhoch von 13 Prozent gestiegen. Und laut Gini-Index weist Spanien die höchste Zunahme der Ungleichheit in Europa während der Krise auf: Sie ist von 31,3 auf einen Wert von 34 geklettert, im Vergleich zur Steigerung von 30,6 auf 30,7 im EU-Durchschnitt.

Die Konjunkturflaute der europäischen Märkte sei für Spanien der Dolchstoß, der den Aufwärtstrend bremsen könnte, warnt die spanische Zentralbank. Auch die Inlandsnachfrage, die 60 Prozent des BIP ausmacht, hat nicht genug Zugkraft. Die Gewerkschaften fordern eine Verbesserung der Kaufkraft, und selbst die Arbeitgebervereinigung verzichtet darauf, einer weiteren Senkung der Gehälter das Wort zu reden.

Auf tönernen Füßen

Noch immer leidet Spanien unter den Folgen der doppelten Finanz- und Immobilienblase, die sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre gebildet und mit der Einführung des Euro weiter verschärft hatte. Auf dieser Blase basierte ein Jahrzehnt des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Euphorie, die, wie sich herausstellte, wenig gerechtfertigt war.

In Zeiten dieses „Wirtschaftswunders“ wuchs Spaniens Ökonomie Jahr für Jahr durchschnittlich zwischen 3 und 4 Prozent, allerdings erreichte auch der jährliche Zuwachs des Kreditvolumens je nach Lesart zwischen 20 und 40 Prozent. Der Anteil des Bausektors am Bruttoinlandsprodukt wuchs von 12 Prozent im Jahr 1998 auf über 17 Prozent 2007. In Spanien wurden zeitweise bis zu 800 000 Wohnungen pro Jahr gebaut – so viele wie in Frankreich, Deutschland und Großbritannien zusammen. Dieser Boom, von der Steuerpolitik der damaligen Regierung begünstigt, lockte Einwanderer ins Land, die in der Baubranche Beschäftigung fanden. Viele Jugendliche brachen ihr Studium ab, um im Bausektor schnelles Geld zu machen.

Allerdings verfügte Spanien gar nicht über die finanziellen Mittel, um die Kosten für diese enormen Konsum- und Investitionszyklen zu tragen. Der Ursprung der Blase war ihre Finanzierung über Kredite aus dem Ausland, und die schufen ein erhebliches Leistungsbilanzdefizit: 2007 entsprach es 10 Prozent des BIP.

Der Regierungschef, in dessen Händen die Krise letztlich explodieren sollte, der Sozialist José Luis Rodríguez Zapatero, behauptete noch im September 2008, das spanische Finanzsystem sei das stabilste der Welt. Tatsächlich hatte die Staatsverschuldung noch 2006 bei unter 37 Prozent des BIP gelegen – weit unter dem von der EU geforderten Maximalwert von 60 Prozent. Es gab kein Haushaltsdefizit, der Überschuss betrug 2006 2,4 Prozent. Binnen kürzester Zeit gerieten die Staatsfinanzen dann außer Kontrolle. Das Haushaltsdefizit stieg 2009 auf bis dahin unvorstellbare 11,1 Prozent, die Staatsverschuldung verdoppelte sich in der ersten Krisenphase. Sie ist seitdem stetig gewachsen und liegt heute bei fast 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Das große Problem war die enorme private Verschuldung – von Familien, Unternehmen und Banken. Durch die Intervention des öffentlichen Sektors wurde daraus ein Staatsverschuldungsproblem. An diesem Punkt setzte ein doppelter Druck ein: Die internationalen Finanzmärkte trieben die Risikoprämie in die Höhe, und die EU forderte Sparmaßnahmen von der Regierung.

Dies zwang die sozialistische Regierung in Madrid am 9. Mai 2010 zu einer 180-Grad-Wende. Zapatero überschritt dabei gleich mehrere seiner „roten Linien“: Er kündigte Ausgabenkürzungen von 15 Milliarden Euro an, das Einfrieren der Renten, die Senkung öffentlicher Gehälter, das Aussetzen der Unterstützungsleistungen zugunsten von Familien wie beispielsweise der so genannten „Baby-Schecks“, die Aufhebung der rückwirkenden Anwendung der Unterstützungshilfen für pflegebedürftige Menschen, die Erhöhung der privaten Zuzahlungen für Arzneimittel und Ausgabenkürzungen in Bereichen wie der Entwicklungshilfe oder der öffentlichen Investitionen.

Bitterer Rekord

Es erschien zu jenem Zeitpunkt wichtiger, die Märkte mit ihren Forderungen nach Risikoprämien zu beruhigen, als das Wachstum anzukurbeln. Die Arbeitslosenquote schnellte von 9,6 Prozent auf 27,2 Prozent hoch und wurde zum gravierendsten Problem des Landes. Dieser bittere Rekord wurde im ersten Quartal 2013 erreicht – allen Sparmaßnahmen zum Trotz. Zu diesem Zeitpunkt war die neu gewählte konservative Regierung schon 17 Monate im Amt und fest entschlossen, den Weg der inneren Abwertung weiterzugehen.

Das Maßnahmenpaket umfasste neben früheren Tabuthemen wie der Erhöhung der Einkommen- und Mehrwertsteuer verschiedene Reformen: des Arbeitsmarkts (höhere Flexibilität, einfachere Kündigungen, Vorrang für die Rechte der Unternehmen), der Renten (höheres Renteneintrittsalter, Entkopplung der Renten- von der Preisentwicklung) und des Finanzsektors.

Alle Finanzanalysten stimmen in ihren Einschätzungen darin überein, dass nicht etwa die Sparpolitik zur Wende in der Euro-Krise führte, sondern die Ankündigung von EZB-Chef Mario Draghi im Sommer 2012, „alles Nötige“ („whatever it takes“) für die Euro-Rettung zu tun. Zu jenem Zeitpunkt war die Krise von Bankia, der Bank, die aus der Fusion der ehemaligen Caja Madrid mit verschiedenen kleineren Instituten hervorgegangen war, bereits voll ausgebrochen. Schnell war klar, dass statt der ursprünglich geplanten 19 schließlich sogar 24 Milliarden Euro benötigt würden. Spanien sah sich somit unweigerlich vor die Notwendigkeit gestellt, die Hilfe eines Rettungsprogramms in Anspruch zu nehmen. Es wurde freilich stets vermieden, es auch als ein solches zu bezeichnen; vielmehr handele es sich um ein Darlehen in Höhe von 100 Milliarden Euro zu guten Konditionen.

Neues Wirtschaftsmodell gesucht

Heute betont selbst die Europäische Kommission, Verfechterin einer strikten Austeritätspolitik, dass neben Ausgabenkürzungen auch andere Reformen notwendig sind, außerdem expansive Finanzpolitiken vonseiten jener Länder, die dazu in der Lage sind – wie etwa Deutschland, Finnland und Österreich. Zudem müsse dies durch eine solide und aktive Beschäftigungspolitik ergänzt werden.

Zugleich führt die jetzt scheinbar gestoppte Talfahrt der Wirtschaft Madrid vor Augen, wie beschränkt die eigenen Handlungsmöglichkeiten sind. „Ein nur auf Spanien begrenztes Konjunkturprogramm würde das Zahlungsbilanzdefizit erhöhen“, betonte José Carlos Díez, Wirtschaftsprofessor an der Universität von Alcalá Ende November in der Tageszeitung El País. „Natürlich müssen wir Konjunkturpakete schnüren, und natürlich ist es an der Zeit, die Staatsschulden zu restrukturieren und zu vergemeinschaften, aber dies muss mit Euro-Bonds und in Zusammenarbeit mit der EZB passieren.“

Der Steuerbetrug, der laut einer Studie der Wirtschaftswissenschaftler Santos Ruesga und Domingo Carbajo von der Universidad Autónoma de Madrid (UAM) nicht weniger als 8 Prozent des BIP ausmacht und für den laut der Gewerkschaft der Finanzbeamten Gestha in 70 Prozent der Fälle große Unternehmen oder Privatpersonen mit umfangreichen Vermögen verantwortlich sind, ist in der Krise schlimmer geworden. In einem verzweifelten Versuch, die Staatseinnahmen zu steigern, hat die Regierung eine Steueramnestie verabschiedet, die sich auf die Einnahmenseite aber kaum ausgewirkt hat. Umso größer ist die gesellschaftliche Empörung über immer neue Korruptionsfälle, in die führende Unternehmer und Politiker verwickelt sind.

„Wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt weiterhin von der Sparpolitik und der Haushaltskonsolidierung beschädigt wird, kann das im Ergebnis dazu führen, dass die Grundlagen eines demokratischen und sozialen Spaniens untergraben werden“, warnen José Moisés Martín Carretero und Alberto del Pozo, Vertreter der Initiative Economistas Frente a la Crisis in der von der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichten Fallstudie „Social Cohesion and the State in Times of Austerity“.

Selbst die Befürworter der Arbeitsmarktreformen von 2012 räumen ein, dass der Moment, in dem sie umgesetzt wurden – inmitten der Rezession –, unumgänglich dazu führen musste, dass die Arbeitslosigkeit rapide stieg. Viele plädieren wie Alfredo Pastor, ehemals Staatssekretär und heute Professor an der IESE Business School der Universität Navarra, für eine Restrukturierung der Staatsschulden. Dies müsse nicht notwendigerweise einen Schuldenerlass bedeuten, es ließe sich auch über einen Rückzahlungsaufschub diskutieren. Durch die Sparmaßnahmen und die beispiellosen Reformen, so Pastor, verfüge Spanien heute über ausreichend Glaubwürdigkeit, um seinen Gläubigern einen solchen Vorschlag zu präsentieren.

Auf längere Sicht, darin sind sich alle Ökonomen einig, braucht Spanien ein neues Wirtschaftsmodell – eins, in dem Industriezweige und Dienstleistungen, die einen hohen Mehrwert erwirtschaften, gegenüber dem Baugewerbe und dem Tourismus an Bedeutung gewinnen. Und doch schielen alle mit heimlicher Vorfreude auf einen neuerlichen Aufschwung des Immobilien-sektors …

Ariadna Trillas schreibt für die spanische Zeitschrift „Alternativas Económicas“ in Madrid.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2015, S. 67-71

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