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01. Juli 2013

Die große Herausforderung für das neue Regime

Wirtschaftspolitische Probleme, die Ägypten jetzt dringend lösen muss

Ägyptens Wirtschaft leidet an einem gigantischen Haushaltsdefizit, einem Leistungsbilanzdefizit und einem massiven Rückgang der Währungsreserven. IWF-Kredite allein böten keine Lösung. Und was war die Strategie der Muslimbrüder? Die Macht sichern, jegliche harten Einschnitte vermeiden und ansonsten: weiter wie schon unter Hosni Mubarak.

Kaum hatte Präsident Mohammed Mursi im Dezember 2012 die neue Verfassung Ägyptens ratifiziert, erklärte er die Übergangsphase offiziell für beendet. In der Tat verfügte das Land zur Jahreswende formal über einen neu gewählten Präsidenten, ein Parlament und eine Verfassung. Die Unruhen legten sich trotzdem nicht, die Proteste wurden gar stärker. Auch deshalb konnte sich die ägyptische Wirtschaft bislang nicht erholen, die Wachstumsraten blieben niedrig, es steht ein drittes Jahr (2013/14) des wirtschaftlichen Niedergangs in Folge bevor. Die Währungsreserven erreichten im Dezember 2012 mit der 15-Milliarden-Dollar-Marke einen alarmierenden Tiefstand. Seither ist Ägypten völlig von ausländischen Krediten abhängig, um die laufenden Kosten zu decken. Das Land steckt in einer scheinbar endlosen Übergangsphase. Die Negativnachrichten aus der Wirtschaft häufen sich seit der Revolution 2011.

Ägypten leidet an drei Problemen: einem riesigen Haushaltsdefizit, das auf 11 bis 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) geschätzt wird; einem Leistungsbilanzdefizit, das der Abschwächung des Tourismus und riesiger Kapitalabflüsse geschuldet ist; und schließlich einem massiven Rückgang der Währungsreserven. Keines der Probleme ist neu. Es handelt sich um strukturelle und chronische Probleme, die aufgrund der politischen Unruhen nach dem Sturz Hosni Mubaraks und der mangelhaften Gestaltung der Übergangsphase jedoch noch dringlicher geworden sind. Zudem betrifft die derzeitige Krise, so gravierend sie auch sein mag, nicht die reale Wirtschaft. Es handelt sich primär um eine Krise der Finanzwirtschaft, hauptsächlich im Bereich Staatsfinanzen und Währungsreserven. 

Ägyptens Währungsreserven sind von 35 Milliarden Dollar im Januar 2011 auf rund 13 Milliarden Dollar im April 2013 geschwunden. Das Geld wurde von der Zentralbank ausgegeben, um Importe zu finanzieren, Auslandsschulden zu bedienen, das ägyptische Pfund zu stützen und das System des „managed floating“ aufrechtzuerhalten – und weil man fürchtete, dass eine Inflationswelle die breite Masse der urbanen und ländlichen Unter- und Mittelschicht träfe, deren Versorung von Nahrungs- und Brennstoffimporten abhängig ist. Währungsreserven sind die Achillesferse vieler Entwicklungsländer, die unter einem Leistungsbilanzdefizit leiden (Ägypten importiert doppelt so viel wie es exportiert) und deshalb auf die Ausfuhr von Dienstleistungen (Tourismus, Rücküberweisungen, der Suez-Kanal) angewiesen sind, und darauf, ausländische Direktinvestitionen anzulocken. Im Fall Ägypten reichte das bis 2009, um einen leichten Leistungsbilanzüberschuss zu erzielen; seitdem hat sich das Defizit aufgrund der globalen Finanzkrise ausgeweitet. 

Mubaraks Erbe

Der andere Aspekt der Krise ist das Haushaltsdefizit. Nachdem es in den frühen neunziger Jahren dank eines von dem Internationalen Währungsfonds (IWF) finanzierten Stabilisierungsprogramms wesentlich reduziert wurde, begann es Ende der neunziger Jahre wieder zu steigen. Da die Steuereinnahmen langsamer wuchsen als die Ausgaben, gerieten Mubaraks Wirtschaftsberater in immer größere Schwierigkeiten, ein sich konstant ausweitendes Haushaltsdefizit zu finanzieren, das bis 2011 bei rund 9 Prozent des BIP angelangt war. Mubarak setzte fast ausschließlich auf günstige Kredite aus dem staatlichen Monopol der Rentenfonds, die bei der Nationalen Investitionsbank hinterlegt sind. Die Kredite der Bank, die etwa 40 Prozent der internen Staatsschuld besitzt, finanzierten zum großen Teil das Staatsdefizit, während die Regierung die Auslandsverschuldung bewusst zurückfuhr. Die Inlandsverschuldung nahm allerdings beispiellose Ausmaße an: Nach einigen Schätzungen erreichte sie etwas über 100 Prozent des BIP.

Dann begann die Revolution. Die fortgesetzte politische Instabilität und der holprige Übergang verschärften die ökonomischen Unsicherheiten. In dieser verworrenen Situation brachten viele ihr Geld ins Ausland. Die ägyptische Zentralbank bezifferte die Kapitalflucht im Januar 2013 auf etwas über 13 Milliarden Dollar. Diese Abflüsse gingen mit langsamem Wachstum und niedrigen in- wie ausländischen Investitionsraten einher. Seit 2011 verzeichnet Ägypten Wachstumsraten zwischen 1 und 2 Prozent, verglichen mit durchschnittlich 6 Prozent jährlich zwischen 2005 und 2009. Für ein Land mit einem Bevölkerungswachstum von 1,9 Prozent bedeutet ein solch niedriges Wirtschaftswachstum, dass das BIP pro Kopf konstant zurück geht und der Lebensstandard jäh sinkt. Wie erwartet schnellte die Arbeitslosigkeit empor, was die sozialen und politischen Spannungen des Landes noch anheizte. 

Die Regierungen, die Mubarak folgten, sahen angesichts schwindender Währungsreserven und eines grassierenden Haushaltsdefizits den ein­zigen Ausweg in Auslandskrediten. Unter dem Obersten Militärrat begannen im März 2011 Verhandlungen mit dem IWF, doch haben eine Reihe von Verhandlungsrunden bislang keine Ergebnisse gebracht. Der glaubhafteste und vernünftigste Grund, der den endlosen Prozess aus Verhandlungen und Neuverhandlungen der Kredite erklärt, ist der potenziell hohe politische Preis, den jede regierende Partei durch Sparmaßnahmen zahlen müsste. Dies galt für den Obersten Militärrat der Streitkräfte und gilt mit Sicherheit heute für die Muslimbruderschaft.

Mit Auslandskrediten aus der Krise?

Im Juli 2012 wurde in Ägypten der erste demokratisch gewählte Präsident vereidigt. Die Diskussion über die Wirtschaftspolitik aber blieb trotz einer sich stetig verschlechternden ökonomischen Lage die völlig gleiche. Als einzige Lösung für Ägyptens Finanz- und Steuerprobleme gelten weiterhin Anleihen ausländischen Geldes, um die beinahe aufgebrauchten Währungsreserven und den Haushalt zu stützen. Jede Vergrößerung der inländischen Staatsschulden wäre eine zu gewaltige Last für die Wirtschaft insgesamt, war von mehreren Regierungsvertretern zu hören. Denn die Zinssätze für kurzfristige Staatsanleihen, die in der Landeswährung gezeichnet sind, sind weitaus höher als jeder Zinssatz, der von internationalen Finanzinstituten gesetzt würde; außerdem würde eine größere staatliche Kreditaufnahme während einer Rezession die Geldzufuhr für den Privatsektor noch weiter drosseln und so die Investitionskosten einer ohnehin schon angeschlagenen Volkswirtschaft erhöhen. Nicht nur erachtet die Regierung offiziell den IWF als Schlüssel, um mehr ausländische Kredite zu erhalten. Der IWF würde auch für eine wirtschaftliche Stabilität zeugen, was die Regierung nutzen will, um ausländische Investitionen anzulocken und die lang erhoffte wirtschaftliche Erholung zu bewerkstelligen. 

Die Debatte über Auslandskredite

Die vergangenen zwei Jahre waren geprägt von einer intensiven Debatte über die Vor- und Nachteile von IWF-Krediten und ausländischen Darlehen im Allgemeinen. Die Gegner von Auslandsanleihen sind überzeugt, dass die Sparmaßnahmen, die der IWF vorgeben würde, sich katastrophal auswirken und den Lebensstandard der großen Mehrheit der Ägypter weiter verschlechtern würden. Den in Aussicht gestellten 4,8-Milliarden-Dollar-Kredit hat der IWF mit der Bedingung verknüpft, das Wirtschaftsprogramm der Regierung in den kommenden vier Jahren zu genehmigen. Details aus dem Entwurf dieses Programms, die bereits durchgesickert sind, deuten auf eine Kombination aus niedrigeren öffentlichen Ausgaben durch eine Kürzung der Nahrungs- und Energiezuschüsse, erhöhte indirekte Steuern und eine Abwertung des ägyptischen Pfundes hin. Linke und nasseristische Kritiker sind der Meinung, dass Sparmaßnahmen dieser Art die Rezession nur verschärfen und die breite Masse der Mittelklasse und der ärmeren Schichten der Stadt- und Landbevölkerung hart treffen würden. Außerdem würden die Konditionen des IWF-Kredits dazu führen, dass Entscheidungsgewalten vom ägyptischen Staat auf ausländische Kreditgeber übertragen werden.

Würde eine Kapitalspritze von außen die ägyptische Wirtschaft tatsächlich retten? Vermutlich nicht. Denn erstens ist ein Volumen von 4,8 Milliarden Dollar fast schon verschwindend gering angesichts eines Haushaltsdefizits, das im laufenden Finanzjahr auf 30 Milliarden Dollar geschätzt wird. Außerdem dürfte der IWF-Kredit die Währungsreserven kaum in bedeutendem Ausmaß abpolstern; dessen Wert entspricht ja kaum den Kosten für die Importe von zwei Monaten. Deshalb hat die Regierung den IWF-Kredit, so gering er auch sein mag, als nur ersten Schritt eines langen Weges bezeichnet, um, so der ehemalige Minister für internationale Zusammenarbeit, binnen 18 Monaten 14 Milliarden Dollar an Krediten zu sichern. 

Derlei ausländische Kreditaufnahmen wären aber nicht durchzuhalten, denn die Summen würden die durchschnittliche Auslandskreditaufnahme unter Mubarak um das ­14-Fache übersteigen. Mit anderen Worten: Ägyptens Auslandsschuldenstand würde in weniger als zwei Jahren um fast 40 Prozent steigen, obwohl sich die in- als auch ausländische Staatsverschuldung bereits der 100-Prozent-Marke nähert. Damit gehörte Ägypten zu den meistverschuldeten Ländern der Welt. Solche Zahlen allein sollten die Strategie, das Land mittels neuer Kreditaufnahmen aus seiner Finanz- und Wirtschaftskrise zu befreien, eigentlich ausschließen. Denn sie würde nur zu einer Verschuldungsspirale führen: Eine Kreditaufnahme würde die nächste nach sich ziehen, die Ägyptens Möglichkeiten, die Schulden zu begleichen, überschreiten und das Land an den Rand des Staatsbankrotts bringen. 

Von der Hand in den Mund

Was die Strategie der Regierung noch problematischer macht, ist die Tatsache, dass die massiven Auslandskredite zur Deckung der laufenden Ausgaben gedacht sind, nicht etwa für Investitionen. Das bedeutet: Sind die Kredite aufgebraucht, dürfte es nicht genügend finanzielle Ressourcen geben, um sie mittel- oder langfristig zurückzuzahlen. Die ägyptische Regierung hat bereits etwa zehn Milliarden Dollar in dem laufenden Haushaltsjahr (seit Juli 2012) aus dem Ausland gesichert, um das immer größer werdende Haushaltsdefizit und die Grundnahrungs- und Energieimporte zu finanzieren – Kredite in Form von türkischen und katarischen Einlagen bei der ägyptischen Zentralbank (etwa vier Milliarden Dollar) sowie in Form von Anleiheaufkäufen durch Katar (etwa drei Milliarden Dollar) und durch Libyen und die Türkei (in ungefähr gleicher Höhe). Dieser Kapitalzufluss hat den Auslandsschuldenstand binnen sieben Monaten bereits von 38 auf 43 Milliarden Dollar getrieben, das ist ein Zuwachs von bemerkenswerten 13 Prozent. 

Die massive ausländische Kreditaufnahme wurde benutzt, um Importe zu finanzieren, den Schuldendienst zu leisten, damit Ägypten nicht den Staatsbankrott erklären muss, und um das ägyptische Pfund zu stützen. Das legt den „Von-der-Hand-in-den-Mund“-Charakter des Ansatzes bloß: Das ist kurzfristig schon nicht durchzuhalten; langfristig sind höhere Auslandskredite einfach schädlich. Das Geld, das die ägyptische Regierung sichern konnte, erwies sich als kurzfristige Alternative zu dem bislang nicht abgeschlossenen IWF-Kredit. Allerdings ist selbst die Regierung der Meinung, dass eine Vereinbarung mit dem IWF am Ende unvermeidlich ist. Seinerseits weiß der IWF sehr genau, dass Ägyptens Strategie der Auslandskredite nicht lange tragbar ist, sollte das Land nicht seine öffentlichen Finanzen umstrukturieren. Deshalb will der IWF sicherstellen, dass sein 4,8-Milliarden-Dollar-Kredit nicht dazu verwandt wird, das sich stetig vergrößernde Haushaltsloch zu stopfen oder die schwindenden Währungsreserven zu stützen; vielmehr soll eine Umstrukturierung der Haushalts- und Geldpolitik finanziert werden. 

Und die Politik?

Dies führt zur entscheidenden politischen Frage: Ist die ägyptische Regierung – angeführt von der Muslimbruderschaft – fähig und in der Lage, eine fiskalische Restrukturierung in Angriff zu nehmen und den politischen Preis eines solchen Weges zu zahlen? Kann das Regime angesichts politischer Instabilität und sich verstetigenden sozioökonomischen Protesten die harschen Sparmaßnahmen, die der IWF als notwendig erachtet, durchsetzen, um das Land aus seiner wirtschaftlichen Misere herauszuführen? 

Der Spielraum Präsident Mursis ist äußerst begrenzt, die politische Landschaft zutiefst zerklüftet und die Opposition – seien es nun die Salafisten auf der Rechten oder Linke, Liberale und nasseristische Parteien und Gruppen – werde dem Präsidenten eher Probleme bereiten wollen, als ihm Handlungsräume für harte Einschnitte zu gewähren. Hinzu kommen die sozialen und ökonomischen Proteste, in Form von Streiks, Demonstrationen und Sit-ins, die seit dem Sturz Mubaraks eher häufiger als seltener stattfinden. Die strukturellen Ursachen, die diese Proteste auslösen, bestehen weiter fort, ohne dass die neuen Machthaber Anstalten machen oder auch nur das planmäßige Vorhaben andeuten, diese Missstände zu beheben. Darüber hinaus hat der Zusammenbruch des Polizeistaats immer mehr Gruppen unter den Arbeitern, den Bauern und der städtischen und ländlichen Unterschicht dazu ermutigt, auf die Straße zu gehen. Jeder harte Einschnitt, der zu einer Erhöhung der Nahrungs- oder Treibstoffpreise führen würde, könnte in einem Volksaufstand oder zumindest in Plünderungen und Ausschreitungen enden. Das würde einen Bogen von den „Brotaufständen“ gegen Machthaber Anwar al-Sadat vom Januar 1977 zu den Aufständen vom Januar 2011 schlagen. Sollte das eintreten, könnte das neue Regime schnell so unter Druck geraten, dass ein Coup des Militärs fast schon zwingend notwendig wäre, um die öffentliche Ordnung zu erhalten oder wiederherzustellen. 

Dass die Folgen einer Sparpolitik derart drastisch sein könnten, sorgt die Muslimbruderschaft zutiefst – wie zuvor schon den Militärrat und Ex-Präsident Mubarak. Und dies ist ganz gewiss der falsche Zeitpunkt, um sich mit einem städtischen Prekariat oder der Mittelklasse anzulegen. Nicht einmal in den Zeiten, als Mubarak höchste Popularität genoss und die volle Kontrolle über Militär und Polizei innehatte, hat er es gewagt, den offenkundig problematischen Anstieg der Nahrungs- und Treibstoffzuschüsse zu stoppen. Würde das heute eine in die Defensive geratene Muslimbruderschaft wagen? Wohl kaum. Hauptsächlich deshalb haben sie sich noch nicht entschließen können, einen IWF-Kredit anzunehmen.

Der politische Ausweg

Um es klar und deutlich zu sagen: Der IWF-Kredit und all jene Auslandsdarlehen, die die Regierung anschließend zu sichern hofft, können eine wirtschaftliche Erholung Ägyptens keineswegs garantieren. Die aber ist dringend notwendig, um größeres Wachstum zu erzeugen, Arbeitsplätze zu schaffen, die Währungsreserven wieder aufzufüllen und die Importbedürfnisse des Landes zu finanzieren. Der Schlüssel dazu liegt aber außerhalb der Sphäre der Ökonomie mit ihren finanziellen Detailfragen. Um die wirtschaftlichen Probleme Ägyptens zu lösen, bedarf es politischer Maßnahmen. Das kann nur gelingen, wenn ein stabiles und legitimiertes politisches System etabliert wird, das die Probleme der Bürger kanalisieren und ihre Interessen austarieren kann. 

Für Ägyptens tiefliegenden und komplexen sozioökonomischen Probleme und Missstände gibt es keine schnellen Rezepte, nur Maßnahmen, die auf Langfristigkeit angelegt sind. Unmittelbar möglich wäre nur, institutionelle und politische Lösungen zu finden, die vertrauenswürdig und effizient sind, um das Gerüst für die langfristigen Reformen und Veränderungen zu entwerfen und diese dann über einen größeren Zeitraum umzusetzen. 

Dass die Muslimbruderschaft nicht über ein politisches oder entwicklungsorientiertes Programm verfügt, das diese Bezeichnung verdiente, verkompliziert es aber weiter, eine solche Lösung zu erarbeiten. Mursi wurde gewählt, weil er angeblich ein umfassendes Langzeit-Reformprogramm unter der Bezeichnung „Renaissance-Projekt“ ausgearbeitet hatte. Allerdings erwies sich das Projekt nach Mursis Machtübernahme als Schimäre. Man kann heute mit Sicherheit sagen, dass die Muslimbrüder keine klare Vorstellung haben, wie die ägyptische Wirtschaft aussehen soll oder wie sich der Staat in einer politischen Ordnung nach Mubarak zu Marktmechanismen verhalten sollte. Stattdessen haben sich die Muslimbrüder in unfruchtbaren, nur auf Kurzfristigkeit angelegten Überlegungen verloren, die ihr eigenes politisches Überleben sichern sollen. Zweieinhalb Jahre nach Mubaraks Sturz reichen die wirtschaftspolitischen Ambitionen nur noch so weit, wieder auf den Stand von Dezember 2010 zu kommen. Die neue Regierung scheint weder über die Mittel noch den Vorsatz zu verfügen, die gewaltigen sozialen und politische Probleme in Angriff zu nehmen, die in erster Linie zum Sturz Mubaraks geführt haben. 

Kurzum: Die Muslimbruderschaft hat die Chance vertan, ein tatsächlich repräsentatives politisches System zu etablieren, das die sozialen und politischen Proteste abfangen und kanalisieren und das breite soziale Koalitionen bilden könnte, die sich Reformen wünschen. Im Gegenteil haben sie auf Kompromisse und Absprachen mit denjenigen Kräften gesetzt, die für die alte Ordnung und Partikularinteressen stehen, sei es das Militär, die Geheimdienste, die Polizei oder sogar Mubaraks „alte Kumpels“. Die Strategie der Muslimbruderschaft läuft darauf hinaus, sich die Macht in Allianz mit alten Kräften des Staates zu sichern – und zwar so, dass es unmöglich ist, die Reformen umzusetzen, die man vor allem den Millionen Ägyptern versprochen hat, die sich aktiv in sozialen und politischen Protesten engagieren. Die Verfassung, die die Muslimbruderschaft durchgesetzt hat, schränkt grundlegende Bürger- und Freiheitsrechte ein und beschneidet fundamentale Wirtschafts- und Sozialrechte. Zudem erwägt die Regierung restriktive Gesetze für zivilgesellschaftliche Gruppen, Gewerkschaften und Genossenschaften. Das politische System, das daraus erwächst, ist vollständig gelähmt; die wirtschaftlichen Probleme des Landes sind damit nicht zu managen, geschweige denn zu bekämpfen. Jetzt ist die neue Regierung mit den gleichen Protestbewegungen konfrontiert, die schon Mubarak während seiner letzten Amtsjahre herausgefordert hatten. Im Grunde schreibt die Muslimbruderschaft kein neues Kapitel. Sondern das letzte Kapitel des alten Regimes.

Dr. Amr Ismail Ahmed Adly ist Post-Doctoral Fellow beim Arab Reform and Democracy Program des Center for Democracy, Development and the Rule of Law an der Stanford University.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 95-101

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