Titelthema

29. Aug. 2022

Die gefährlichste Region der Welt

Die Beziehungen zwischen Washington und Taiwan gehen weit über ökonomische Interessen hinaus: Die USA würden den Inselstaat auch verteidigen.

Bild
Bild:Nancy Pelosi und Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen verneigen sich zur Begrüßung voreinander
Ein mutiger Schritt, ein starkes Signal: Trotz massiver Kritik Chinas besucht Nancy Pelosi Taiwan und trifft Präsidentin Tsai Ing-wen.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Das US-Militär halte einen Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan für „­keine gute Idee“, hatte US-Präsident Joe Biden noch am 20. Juli gesagt. Doch die Sprecherin des Repräsentantenhauses entschied sich anders und besuchte im Rahmen ihrer Asien-Reise am 2. und 3. August den Inselstaat. Die Demokratin war die ranghöchste Politikerin seit 25 Jahren, die Taipeh einen Besuch abstattete.




Warum ist Taiwan überhaupt so wichtig für die Außenpolitik der USA? Um diese Frage zu beantworten, muss man die Bedeutung Taiwans aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten: historisch, geopolitisch, wirtschaftlich, technologisch und militärisch. Um die Vision der USA für den indopazifischen Raum zu verstehen, müssen wir zudem begreifen, warum die Verteidigung Taiwans gegen China für die amerikanische Politik seit Jahrzehnten von entscheidender Bedeutung ist.



Das Verhältnis zwischen diesen beiden Ländern hat sich zuletzt weiter vertieft; tatsächlich hat es weltweite Auswirkungen. Auch andere Demokratien, wie beispielsweise Deutschland, sollten vor diesem Hintergrund über eine Stärkung ihrer Beziehungen zu Taiwan und zum indopazifischen Raum insgesamt nachdenken.



Die Beziehungen zwischen den USA und Taiwan reichen mehr als ein Jahrhundert zurück – bis in die Zeit, als General Chiang Kai-sheks Nationalisten noch das chinesische Festland kontrollierten und Taiwan eine Kolonie des japanischen Kaiserreichs war. Vor der Flucht der Nationalisten nach Taiwan im Jahr 1949 waren die Beziehungen zu den USA bereits recht eng, und im Zweiten Weltkrieg intensivierte sich dieses Verhältnis noch weiter, da Chiang Kai-shek und seine Armee die Hauptlast des Kampfes gegen die Japaner schulterten.



Amerikanische und chinesisch-nationalistische Militärs arbeiteten während des gesamten Krieges intensiv zusammen. Und so entstand eine Beziehung, die den Grundstein für die heutige Verteidigungszusammenarbeit zwischen beiden Ländern legte. Bis heute werden legendäre Militäreinheiten wie die Flying Tigers und die Sino-American Cooperative Organi­zation vom taiwanischen Verteidigungsministerium in Ehren gehalten: Diese Einheiten unterstreichen die Rolle, die die Nationalisten als wichtiges Bollwerk im weltweiten Kampf gegen das japanische Kaiserreich und gegen den Faschismus gespielt haben.



Bilaterale Kooperationsabkommen

Diese verteidigungspolitische Zusammenarbeit wurde auch in den Zeiten des Kalten Krieges fortgesetzt, als sowohl die chinesischen Kommunisten als auch die Nationalisten jeweils für sich in Anspruch nahmen, die einzig legitime Regierung Chinas zu stellen. Die Kooperation vertiefte sich weiter nach der ersten Krise in der Taiwan-Straße 1954, als kommunistische Kräfte mehrere von den Nationalisten gehaltene Inseln in der Nähe des chinesischen Festlands eroberten. Im Anschluss an diesen Konflikt unterzeichneten die amerikanische und die chinesisch-nationalistische Regierung 1954 den chinesisch-amerikanischen Vertrag über gegenseitige Verteidigung.



Dass dieses Thema die US-Politik auch noch Jahre danach beschäftigte, zeigen unter anderem die Debatten über die Sicherheit Taiwans zwischen Senator John Kennedy und Vizepräsident Richard Nixon bei den US-Präsidentschafts­wahlen 1960. Und so blieben die amerikanischen Streitkräfte auch in Taiwan, bis die USA 1979 diplomatische Beziehungen zur Volks­republik China aufnahmen.



In der Folge wurde das Gesetz über die Beziehungen zu Taiwan (Taiwan Relations Act, TRA) verabschiedet, um den Vertrag über die gegenseitige Verteidigung zu ersetzen. Dieser Schritt läutete in der amerikanischen Politik die Ära der „strategischen Zweideutigkeit“ ein. Denn anstelle offizieller diplomatischer Beziehungen zwischen den USA und Taiwan sah der TRA die Fortführung von „kommerziellen, kulturellen und anderen Beziehungen zwischen dem Volk der Vereinigten Staaten und dem Volk von Taiwan“ vor. Darüber hinaus erlaubt der TRA den USA bis heute die Lieferung von Verteidigungswaffen und die Abschreckung chinesischer Militärangriffe. Gebrauch machte Washington von diesem Recht unter anderem während der dritten Krise in der Taiwan-Straße von 1995 bis 1996.



Neben der historischen Bindung Taiwans an die USA ist es jedoch auch wichtig, die geopolitische Bedeutung des Landes für die US-Außenpolitik zu verstehen. Laut Freedom House ist Taiwan eines der demokratischsten Länder der Welt. Seine Gesellschaft zeichnet sich aus durch die Rechte, die sie der LGBTQ-Gemeinschaft und der indigenen Bevölkerung gewährt sowie durch ihre Bemühungen, Verbrechen der Vergangenheit aufzuarbeiten. Diese demokratische Ausrichtung macht Taiwan zu einem auch geopolitisch sehr wichtigen Akteur für die USA.



Zudem liegt Taiwan zwischen den süd­lichen Ryūkyū-Inseln Japans und den nördlichen Batan-Inseln der Philippinen und damit im Herzen der sogenannten „Ersten Inselkette“ Chinas. Durch diese Lage befindet sich Taiwan an der Kreuzung von Schifffahrtsrouten, die ins ­Südchinesische Meer, in den Südpazifik und in das Ostchinesische Meer führen. Der Inselstaat ist für die USA also nicht nur aufgrund gemeinsamer Werte, sondern insbesondere auch wegen seiner strategischen Lage an einem der wichtigsten indopazifischen Knotenpunkte von enormer geopolitischer Bedeutung.



Wichtiger Wirtschaftsfaktor

Auch wirtschaftlich gesehen sind Taiwan und die USA füreinander wichtig. Die Vereinigten Staaten sind Taiwans zweitgrößter Handelspartner, Taiwan ist der achtgrößte Handels­partner der USA. 2020 investierte Taiwan insgesamt 137 Milliarden Dollar in die amerikanische Wirtschaft, und das unter anderem in äußerst relevanten Bereichen wie der Fertigung und dem Großhandel.



Um die ökonomischen Beziehungen weiter zu vertiefen, haben die USA und Taiwan im Juni 2022 eine neue Initiative (US-Taiwan Initiative on 21st Century Trade) gestartet. In diesem Rahmen wird großer Wert gelegt auf die Bekämpfung von Korruption, die Förderung guter Handelsstandards, die Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen und die Bekämpfung von nichtmarktkonformen Praktiken, die Staaten mitunter nutzen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. So werden nicht nur die bilateralen wirtschaftlichen ­Beziehungen gestärkt, sondern insbesondere auch die technologischen Fähigkeiten des Inselstaats.



Gerade Taiwans Rolle bei der Herstellung von Halbleitern, die der Insel auch den Spitznamen „Silicon Shield“ eingebracht hat, macht das Land für die USA und andere fortschrittliche Staaten zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. Dabei ist vor allem die Taiwan Semiconductor Manu­facturing Company (TSMC) zum Synonym der taiwanischen Dominanz auf dem Halbleitermarkt geworden. Das Schwergewicht TSMC beliefert westliche Technologie­konzerne wie Apple, auf die insgesamt 26 Prozent des Jahresumsatzes des Unternehmens entfallen.



Die jüngsten Sanktionen und zusätzliche Exportkontrollen gegen chinesische Technologieunternehmen haben den Wettbewerbsvorteil von TSMC noch einmal erhöht und die technologische ­Bedeutung Taiwans für die USA und die globalen Lieferketten im Allgemeinen weiter gestärkt. Die strategische Bedeutung der taiwanischen Halbleiterindustrie hat die Amerikaner sogar dazu veranlasst, anzuregen, dass TSMC einen Teil seiner Halbleiter in den USA produziert – so sieht es der amerikanische CHIPS Act von 2022 vor.



Halbleiter sind jedoch nicht das einzige technologisch wichtige Thema. So haben auch Taiwans Forschungsprojekte und wissenschaftliche Fortschritte unter anderem in den Bereichen Krebserkrankungen, Klimawandel sowie Nuklearwissenschaft den Stellenwert des Inselstaats für die amerikanische Politik gefestigt.



Lehren aus dem Krieg in der Ukraine

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ist die militärische Bedeutung Taiwans für die USA noch weiter gestiegen. Wie bereits erwähnt, ist Taiwans strategische Lage von zen­traler Bedeutung, um zu verhindern, dass China die gesamte Region dominiert. Im Rahmen des TRA verkaufen die USA seit 1979 Verteidigungswaffen an Taiwan. Diese Waffenverkäufe wurden mit dem Amtsantritt der Trump-Regierung 2017 intensiviert und unter der ­Biden-Regierung fortgesetzt. Darüber hinaus bestätigte die taiwanische Präsidentin Tsai Ing-wen im vergangenen Herbst, dass US-Militärs mindestens ein Jahr lang gemeinsame Übungen mit der taiwanischen Armee durchführen würden.



Der Anspruch, Taiwan zu befähigen, sich gegen eine chinesische Invasion besser zur Wehr zu setzen, ist aufgrund der Lehren aus dem russischen Angriffskrieg bei US-Politikerinnen und -Politikern noch gestiegen. Um das in die Tat umzusetzen, müssen vor allem mehr Möglichkeiten für die gemeinsame Ausbildung von taiwanischem Personal gefunden werden, beispielsweise durch die Nationalgarde der Vereinigten Staaten.



Der Taiwan-Besuch Nancy Pelosis hat das Verständnis, dass die Beziehungen zwischen Washington und Taipeh weiter vertieft werden müssen, noch gestärkt – und vielen die Dringlichkeit dieses Vorhabens bewusst gemacht. Nicht zuletzt deshalb, weil China mittlerweile immer mehr dazu übergeht, auf verschiedenen Ebenen Druck auf Taiwan auszuüben: durch die Erweiterung seines eigenen diplomatischen Netzwerks, das Anwerben taiwanischer Fachkräfte sowie den Einsatz von Kampfjets und Bombern an den Staatsgrenzen. Am 1. August, einen Tag vor Pelosis Visite, blockierte Peking 100 taiwanische Exportgüter und kündigte Militärmanöver rund um den Inselstaat an. Diese Mischung aus militärischen Aktionen in der Grauzone und wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen sind typisch dafür, wie Peking mit Taipeh umspringt.



Trotz dieser Entwicklungen stehen die USA fest an der Seite Taiwans. Präsident Biden betonte bei seinem Japan-Besuch im Mai dieses Jahres, dass Taiwans Verteidigung eine „Verpflichtung ist, die wir [die USA] eingegangen sind“. US-Außenminister Antony Blinken erklärte, dass die offizielle US-Politik keine „einseitigen Änderungen des Status quo [in der Straße von Taiwan] von einer der beiden Seiten“ akzeptieren könne. Dass die USA weder die taiwanische Unabhängigkeitsbewegung noch die chinesische Aggres­sion unterstützen, stehe „im Einklang mit unserer Ein-China-Politik“.



Im Falle einer chinesischen Invasion ist es allerdings trotzdem denkbar, dass die USA und Verbündete wie Japan und Aus­tralien sich militärisch engagieren, um Taiwan zu verteidigen. Chinas Militär­manöver haben der Besorgnis in Tokio neue Nahrung gegeben, landeten doch einige chinesische Raketen in Japans ausschließlicher Wirtschaftszone. Es ist wahrscheinlich, dass die USA gleichgesinnte Demokratien, darunter auch Deutschland, im Kriegsfall dazu ermutigen würden, Sanktionen gegen China zu erwägen – entsprechend den Maßnahmen, die nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine gegen Moskau ergriffen wurden. Der Zusammenhalt der Demokratien zeigte sich bereits in einer Erklärung der G7 vom 3. August, in der bekräftigt wurde, dass „Frieden und Stabilität in der Taiwan-­Straße“ von höchster Bedeutung für die internationale Sicherheit seien.



Das größte Risiko eines solchen Konflikts um Taiwan bleibt derweil ein Atomkrieg zwischen den USA und China. Bislang halten sich chinesische Offizielle äußerst bedeckt, wenn es darum geht, Pekings Politik des Nicht-Ersteinsatzes von Atomwaffen im Detail zu erklären. Würde China den Einsatz von Atomwaffen in Betracht ziehen, um alliierte Kräfte von der Verteidigung Taiwans abzuhalten? Bislang kann darüber nur spekuliert werden.



Doch auch wenn es verlockend ist, die Beziehungen zwischen den USA und Taiwan ausschließlich als Produkt des Verhältnisses zwischen Peking und Wa­shington zu betrachten, so ist der Schutz des Inselstaats längst nicht nur für die USA, sondern auch für den Fortbestand globaler Lieferketten von entscheidender Bedeutung. Alle Demokratien im trans­atlantischen Raum – und auch anderswo auf der Welt – müssen Autokraten klar­machen, dass sie nicht ohne Konsequenzen in kleinere demokratische Nachbarländer einfallen können.



Taiwan ist also für die Außenpolitik der USA nicht nur deshalb wichtig, weil es als Triebfeder globaler Lieferketten fungiert, sondern auch wegen der Werte, die der Inselstaat mit den USA teilt. Taiwan hat sich zu einer pulsierenden und lautstarken multiethnischen Demokratie entwickelt, die zugleich der geopolitische Schlüssel zum indopazifischen Raum insgesamt ist. Während der chinesische Präsident Xi Jinping darauf wartet, beim 20. Parteitag im Herbst ein drittes Mal in seinem Amt bestätigt zu werden, müssen die Vereinigten Staaten und gleichgesinnte Demokratien sicherstellen, dass Taiwan frei und demokratisch bleibt – nicht zuletzt deshalb, weil die Freiheit und die demokratische Lebensweise der Insel in krassem Gegensatz zu dem stehen, was 90 Meilen westlich der Taiwan-Straße ­geschieht.



Gerade in einer Welt, in der Autokratien einmal mehr auf dem Vormarsch sind, werden die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Taiwan von entscheidender Bedeutung für die globale Sicherheit sein. Und auch transatlantische Verbündete wie Deutschland müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Zusammenarbeit mit Taiwan auszubauen und Themen von gegenseitigem Interesse und gemeinsamen demokratischen Werten voranzubringen.    



Aus dem Amerikanischen von Kai Schnier

Für Vollzugriff bitte einloggen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2022, S. 39-43

Teilen

Bryce C. Barros ist China-Analyst bei der Alliance for Securing Democracy des German Marshall Fund of the United States und Security Fellow beim Truman National Security Project. Er gibt hier seine persönliche Meinung wieder.

0

Artikel können Sie noch kostenlos lesen.

Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.