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25. Juni 2021

Die gefährliche Sprachlosigkeit der Spitzenpolitik

Warum sind Politiker nicht mutig genug um zu erklären, wie gefährlich Deutschlands Umfeld geworden ist? Erklärungen und Auswege.

Bundestagswahlkampf: Die Zeit, in der Politiker um die Zustimmung des Volkes werben, indem sie zu ihm sprechen. Ihre Idee von der Welt vorstellen und erläutern, wie sie gestalten wollen. Und auch wenn die politische Wirklichkeit voller kalkulierter Phrasen sowie niedriger Gemeinheiten ist und die Bürgerinnen und Bürger längst nicht (nur) vernünftig sind – allzu weit ist Deutschland vom demokratischen Ideal nun auch wieder nicht entfernt. Über die großen Zukunftsthemen Digitalisierung und Klimaschutz wird gesprochen, gestritten, argumentiert.



Eine eigentümliche, unverhältnismäßige Sprachlosigkeit aber herrscht bei der internationalen Sicherheitspolitik. Genauer: Spitzenpolitiker machen der Bevölkerung nicht deutlich genug, wie gefährlich Deutschlands internationales Umfeld geworden ist. Es gibt eingeübte Formulierungen, wonach Deutschland „mehr Verantwortung übernehmen“ muss, weil angesichts der „zunehmenden Konkurrenz der großen Mächte“ auch für uns „der Wind rauer“ wird, weil zum Beispiel die Zeit absoluter Verlässlichkeit der USA „ein Stück weit vorbei“ sei. Hinter all dem steht die Überzeugung, dass Deutschlands Interessen, seine Souveränität und womöglich gar die Unversehrtheit seines Territoriums und seiner Menschen bedroht sind. Selbst Fachpolitiker benennen die Gefahren aber bei Weitem nicht so klar, wie es Sicherheitsexperten aus Wissenschaft, Militär und Nachrichtenwesen (oft auch nur hinter vorgehaltener Hand) tun. Dafür gibt es drei Gründe.



Erstens ist die Gefahr nicht unmittelbar, sondern abgeleitet und systemisch. Das macht es schwer, über sie zu sprechen – vor allem gegenüber einer Bevölkerung, die Frieden und Stabilität inzwischen für selbstverständlich nimmt. Die wichtigsten Bedrohungen deutscher Sicherheit sind heute nicht so fassbar wie ein „Der Russe kommt!“ aus dem Kalten Krieg. Kaum jemand glaubt, dass die Bundeswehr in absehbarer Zukunft (was immer das heißt) gegen einen militärischen Feind auf deutschem Boden in die Schlacht ziehen muss.



Das bedeutet aber nicht, dass die heutigen Bedrohungen weniger konkret oder auch nur weniger „klassisch“ sind. Was, wenn Putins Russland im Baltikum ähnlich vorgeht wie 2014 in der Ukraine? Hat die NATO den politischen Willen und die militärischen Mittel, ein ausgreifendes Russland aus verbündeten Ländern zurückzudrängen? Auch angesichts der militärischen Modernisierung Russlands und seiner Bereitschaft zur begrenzten nuklearen Eskalation? Und wenn die NATO-Verbündeten dies nicht haben, welchen Wert hat dann unsere Abschreckung, wie brüchig ist dann der europäische Friede?



Ein Streit um globale Ordnung

Anders gewendet: Warum ist es für Deutsche fundamental bedeutsam, für die Souveränität der Esten, Letten und Litauer einzustehen? Diese Frage ergibt sich unmittelbar aus der Beschreibung der heutigen Bedrohungslage, und gleichwohl sie wahrhaftig und klar beantwortet werden kann, erfordert sie einen breiten, systemischen Blick: Deutschlands Sicherheit ist nicht erst gefährdet, wenn es um die Unversehrtheit unserer Grenzen geht – mehr noch, wenn es um unsere Grenzen geht, ist unsere Sicherheit schon verloren.



Das lässt sich auch an der immer offeneren machtpolitischen Konkurrenz zwischen China und den USA zeigen, die Deutschland und Europa unmittelbar betrifft. China nutzt seine wirtschaftliche Stärke nicht nur, um politischen Einfluss in der Welt zu gewinnen. Es münzt sie auch konsequent in militärische Fähigkeiten um, die vom Weltall über die See bis zum Cyberspace reichen. Ihre hochmoderne, vernetzte Struktur ist so auf die Verwundbarkeiten der amerikanischen Position im Indo-Pazifik zugeschnitten, dass schon heute viele Beobachter meinen, dass die USA von Glück sagen können, wenn ein regionaler Konflikt mit China in einem Patt endet – Tendenz sinkend.



Für China und die USA ist das aber nicht nur ein regionaler Wettstreit, sondern einer um globale Ordnung. China hofft, ähnlich wie Russland, den Westen spalten zu können: Neutrale oder zerstrittene Europäer schwächen die amerikanische Position. Wenn chinesische Staatsunternehmen also direkten Einfluss auf die strategische und digitale Infrastruktur Europas erwerben (Häfen und 5G) und wenn die chinesische Marine schon jetzt mehr Kriegsschiffe im Mittelmeer unterhält als Frankreich, dann ist das Ausdruck einer Strategie, die Deutschland als bedrohlich empfinden muss. Nicht, weil eine chinesische Invasion bevorstünde. Sondern weil die Kommunistische Partei Chinas Hebel erhält, mit denen sie ökonomisch, politisch und letztlich auch militärisch Druck ausüben kann, etwa auf Entscheidungen im Europäischen Rat.



Das ist, je nach Fortschritt des chinesischen Zugriffs, skalierbar: Peking kann durch subtile Signale das Kalkül verschiedener europäischer Interessengruppen verändern oder durch offene Erpressung Regierungshandeln diktieren. Im äußersten Fall könnte China alle Vorteile einer imperialen Beziehung zu Europa genießen, ohne die Kosten und Konsequenzen einer altertümlichen Eroberung ertragen zu müssen. Im Kalten Krieg nannte man das „Finnlandisierung“.



Die Zone der Freiheit schützen

Die Beispiele Russland und China illustrieren, dass für Deutschland die zentrale Bedrohung unserer Zeit darin besteht, eine Veränderung der internationalen Ordnung akzeptieren zu müssen, in der nicht mehr die Prinzipien des Völkerrechts, des fairen Handels, der Selbstbestimmung und der Menschenrechte gelten. Das klingt arg abstrakt, hat aber erhebliche Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und unser Leben.



Wenn geistiges Eigentum nicht mehr geschützt ist, Handel erschwert wird und die Verlässlichkeit internationaler Zusammenarbeit abnimmt, wird dies in Deutschland zu spüren sein – zunächst in wirtschaftlicher Stagnation, dann in schwindenden Freiheitsrechten. Deutschlands beste Versicherung dagegen sind eine starke transatlantische Allianz und eine handlungsfähige Europäische Union, die gemeinsam die Zone der Freiheit schützen. Ohne ein starkes, engagiertes Deutschland ist das nicht zu haben. Deswegen ist es so wichtig, darüber zu sprechen – und über die Bedrohungen, denen wir uns entgegenstellen müssen. Auch wenn es kompliziert ist.



Der zweite Grund, warum Spitzenpolitiker über Bedrohungen nicht sprechen: Niemand wählt Kassandra. Verantwortliche Sicherheitspolitik muss sich gegen den Worst Case wappnen. Wer aber über Bedrohungsszenarien spricht, wird schnell der Schwarzmalerei geziehen. Der Vorwurf, ein Politiker schüre die Ängste der Bevölkerung, um eigene Maßnahmen durchzusetzen, wiegt schwer. Und politische Erfahrung zeigt, dass meist Hoffnungsträger gewählt werden, nicht die Bangemacher. In den Reden der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen waren Worte wie „Nuklearwaffen“ und „Abschreckung“ tabu. Ihre Überzeugung war, dass die Deutschen allergisch auf solch martialische Begriffe reagierten, dass für eine verantwortungsbewusste Sicherheitspolitik in sanfterer Sprache geworben werden müsse.



Vielleicht ist das so, und wir Wählerinnen und Wähler bekommen die politische Sprache, die wir verdienen, weil wir sie erzwingen. Vielleicht führt die Scheu vor Klarheit aber auch zu einem unvollständigen, schiefen Bild der Wirklichkeit.



Unbequeme Wahrheiten

Der dritte Grund ist, dass die Konsequenzen aus einer realistischen Bedrohungswahrnehmung so unbequem sind. Wenn Deutschlands Sicherheit tatsächlich durch systemische Veränderungen fundamental bedroht ist, bedeutet dies, dass ein „Weiter so!“ nicht genügt, sondern dass wir neue Anstrengungen unternehmen müssen.



Es ist zum Beispiel weithin Konsens, dass die (NATO-)Staaten Europas sehr viel stärker als bislang für ihre eigene Verteidigung werden sorgen müssen. Die Kraft Amerikas wird immer mehr im Indo-Pazifik gebunden sein; sein nuklearer Schutzschirm wird zwar über Europa aufgespannt bleiben, aber die konventionelle Abschreckung und Verteidigung werden mehr denn je in der Hand der Europäer liegen. Auch politisch wird immer deutlicher, dass die Vereinigten Staaten nur noch Verbündete verteidigen werden, die sich erkennbar selbst verteidigen wollen.



Das heißt für Deutschland, die reichste und größte Nation auf dem Kontinent, dass wir uns eine kaum einsatzfähige, der Größe der Aufgabe unangemessene Bundeswehr nicht länger werden erlauben können – im nationalen und europäischen Interesse. Die damit verbundenen Kosten (und schmerzhaften Strukturreformen) finden bislang jedoch keine politischen Mehrheiten. Nicht zuletzt, weil nicht nachdrücklich genug beschrieben wird, warum Deutschland diese Veränderung braucht.



Aber stimmt das überhaupt? Die zuversichtliche Haltung der Fachleute, wenn man ihr jeweiliges Spezialanliegen der Bevölkerung nur „besser erklärte“, würde dies zu neuen Mehrheiten und Verhaltensänderungen führen, ist doch sehr zweifelhaft – übrigens nicht nur in der Sicherheitspolitik. Vor allem militärische Aspekte der Sicherheit haben in Deutschland aus gutem Grund mit erheblichen Vorbehalten zu rechnen.



Die richtige Einsicht, dass militärische Gewalt immer nur die äußerste Maßnahme sein kann, hat in Deutschland fragwürdige Blüten getrieben. Man kann darin die Folge einer übererfolgreichen „re-education“ nach den Schrecken der Weltkriege sehen, oder das Resultat der ernüchternden militärischen Kampagnen des Westens in den vergangenen 20 Jahren. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit militärischer Macht für die Selbstbehauptung einer Nation – auch für das Gewicht ihrer diplomatischen Initiativen – ist jedenfalls in Deutschland so gering ausgeprägt, dass gute Argumente für eine andere Sicherheitspolitik kaum durchdringen können.



Wer über Bedrohungen und militärische Antworten spricht, erlebt in Deutschland verlässlich eine dreifaltige Reaktion aus Leugnung, Defätismus und Werterelativismus. Leugnung, weil abgestritten wird, dass die Bedrohungen überhaupt existieren. Nach dem Motto: Putin mag seine Opposition ermorden und gewaltsam über Russlands unmittelbare Nachbarschaft bestimmen wollen – aber was kümmert’s uns?



Der Zusammenhang zwischen unserem Wohlergehen und dem anderer Staaten, die eine freiheitliche internationale Ordnung wollen, wird ausgeblendet. Und gleichzeitig wird Deutschland in eine Kategorie sui generis gesteckt: Mit uns werden die autoritären Großmächte nicht so umspringen, weil wir … politisch zu geschmeidig sind? Ökonomisch zu bedeutsam? Im Grunde selbst gern autoritär wären? Man weiß es nicht. Sicher ist aber, dass Ignoranz und Beschwichtigung noch nie besonders erfolgreiche Strategien zur Bewahrung eigener Souveränität waren.



Der Defätismus streitet die Bedrohungen nicht ab, betrachtet sie aber wie das Wetter: als unkalkulierbares Risiko, das man nicht gestalten kann, dem man ausgeliefert ist. Und dem man sich allenfalls anpassen kann. Demnach sind Großmachtkonflikte um die globale Ordnung nicht Deutschlands Kragenweite: Wir haben ohnehin nicht die Mittel, um uns wirkungsvoll zur Wehr zu setzen. Wir können allenfalls an Stellschräubchen drehen und hoffen, dass es gut für uns ausgeht – indem wir uns so wenig exponieren wie möglich. Defätismus und Ignoranz kommen, aus unterschiedlichen Richtungen, zur selben Politikempfehlung.



Lähmende Relativierungen

Dabei sekundiert, insbesondere in vermeintlich aufgeklärten, informierten Debatten, der Werterelativismus, eine Art „Whataboutism“ der internationalen Politik. Die typische rhetorische Figur geht so: Mag ja sein, dass China seinen Einfluss ausdehnt – aber ist das wirklich schlimmer als der US-Imperialismus? Ob uns nun die NSA ausspioniert oder die KPCh, ob Google oder Alibaba mit unseren Daten Schindluder treibt, ob die Chinesen uns ihre Produkte aufzwingen oder die Amerikaner die ihren – same difference. Mal ganz abgesehen davon, dass die Historie der vergangenen hundert Jahre eher die USA als gewaltsamen Störer internationaler Stabilität ausweise als China.



Weil es an der Oberfläche so plausibel scheint, entfaltet dieses Argument so viel lähmende Wirkung. Insbesondere in der deutschen Gesellschaft, die aus historischen und kulturellen Gründen zur Risikoscheu neigt und fast immer den Status quo der unwägbaren Neubestimmung vorzieht. Aber das ändert nichts daran, dass solcher Werterelativismus unserem Gemeinwesen die Grundlage entzieht.



Bei allen Fehlern des Westens und aller Unvollkommenheit der liberalen Gesellschaften: Chinesisches Social Scoring ist etwas fundamental anderes als die Datenhalden des amerikanischen National Security State; der chinesische Staatsterror gegen die Uiguren und andere Minderheiten etwas anderes als der Rassismus in den USA; China Daily etwas anderes als Fox News. Wer dies nicht erkennen will, missachtet die Vielfalt, Transparenz und Vehemenz, mit denen in den offenen Gesellschaften des Westens darum gerungen wird, Missstände zu beheben und dem Ideal unseres eigenen Anspruchs näherzukommen. Wenn es sich dafür nicht einzustehen lohnt, wofür dann?    



Geht es nicht auch eine Nummer kleiner? Weniger grundsätzlich, weniger ideologisch? Ungern, weil im freiheitlichen Kern unserer Verfassung die Letztbegründung deutscher Sicherheitspolitik steckt. Aber ja, es geht, wie das Weißbuch zur Sicherheitspolitik (und, hüstel, zur Zukunft der Bundeswehr) der Bundesregierung von 2016 zeigt. In diesem auch heute noch gültigen Strategiedokument werden die wichtigsten Bedrohungen aufgezählt: vom transnationalen Terrorismus über die Verbreitung von Nuklearwaffen bis zu Pandemien und Seuchen. Und es wird dargelegt, wie Deutschland ihnen entgegenwirken kann – von verbesserter Früherkennung über die straffere Vernetzung der (sicherheits-)politischen Akteure bis zu einer schlagkräftigeren Bundeswehr. Nur: Auch über diese kleinteiligeren Bedrohungsszenarien ist seitens der Spitzenpolitik zu wenig gesprochen worden – und daher auch zu wenig Momentum entstanden, um Deutschland wirkungsvoller aufzustellen.



Nicht wegducken, sondern gestalten

Der Bedarf an politischer Führung ist das ceterum censeo verantwortungsvoller Sicherheitspolitik. Es braucht die Megaphone der Spitzenpolitik, um der Bevölkerung nahezubringen, wie die Lage ist – und dass wir jetzt handeln müssen, um auch in Zukunft handlungsfähig zu bleiben. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat jüngst in dieser Zeitschrift gesagt, dass man der deutschen Bevölkerung Offenheit und Klarheit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik durchaus zumuten könne.



In der Tat ist die schonungslose Beschreibung der Risiken, denen wir ausgesetzt sind, und der offenbaren Motive unserer Gegner keine Panikmache, sondern Ehrlichkeit, die Vertrauen schafft. Übrigens auch Vertrauen in unsere Kraft, gemeinsam mit den Partnern und Verbündeten in EU und NATO und rund um den Globus Deutschlands Sicherheit auch in Zukunft gewährleisten zu können – nicht durch Ausweichen und Wegducken, sondern durch Gestalten. Nicht in eisiger Konfrontation gegenüber Russland und China, aber doch mit einer klaren Haltung, die mehr Respekt verschafft als jedes Finessieren. Das fördert Stabilität und lässt Spielräume für Kooperation entstehen. Aber alles beginnt mit klarer, mutiger Sprache. Nicht nur im Wahlkampf.



Dr. Patrick Keller ist Vizepräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Er gibt seine persönliche Meinung wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2021, S. 72-77

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