Die Feigheit der Brexiteers
Die britische Regierung findet keine Linie – zum Missfallen der Medien
In der zweiten Phase der Brexit-Verhandlungen geht es um die künftige Handelsbeziehung zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU. Doch Theresa May drückt sich seit Monaten darum, genauer zu definieren, wie diese „tiefe und besondere Partnerschaft“, von der May seit einem Jahr spricht, aussehen soll. Strategierunden ihres offenbar heillos zerstrittenen Kabinetts enden ergebnislos, Grundsatzreden ihrer Minister führen keinen Schritt weiter. Kurz: Einen klaren Kurs hat die Regierung immer noch nicht.
Außenminister Boris Johnson hielt am Valentinstag die erste von sechs Reden, in denen verschiedene Minister die „Road to Brexit“ konkretisieren wollen. Reich an Versprechungen – auch nach dem Austritt würden Briten „per Billigflug zu Junggesellenabschieden in antike Hauptstädte reisen, interessante Menschen kennenlernen, sich verlieben und kontinentaleuropäische Sprachen lernen, was paradoxerweise seit unserem EU-Beitritt nachgelassen hat“ – enthielt die Rede wenig Konkretes. Selbst der Brexit-Wortführer scheint sich noch nicht allzu viele Gedanken über die Umsetzung der Vision gemacht zu haben.
Seine Rede sei eher „ein Motivationsvortrag“ gewesen, schrieb Michael Deacon hinterher im konservativen Daily Telegraph (15.2.). Johnson habe nichts Neues zum Handel gesagt und die irische Grenze nicht einmal erwähnt. „Seine Botschaft war im Wesentlichen: Kinn hoch, Jungs. Jammert nicht. Es wird am Ende alles gut.“
Weder Johnson noch May könnten erklären, wie Großbritannien einen kompletten Bruch mit der EU erreichen und zugleich eine harte Grenze in Irland vermeiden kann, kommentierte der linksliberale Guardian (15.2.). „Ohne eine Antwort auf dieses Rätsel werden die Gespräche über eine Handelsbeziehung nicht weit kommen.“
Harte Probe
Die anhaltende Ungewissheit stellt die Geduld der britischen Kommentatoren auf eine harte Probe. Die Tory-Premierministerin May steht unter Druck, endlich einen Kurs vorzugeben oder aber Platz für einen entscheidungsfreudigeren Regierungschef zu machen. „Lead or go“, forderte das konservative Wochenmagazin The Spectator (3.2.) kürzlich auf seiner Titelseite. May müsse „im Detail“ darlegen, wie sie sich die künftige Handelsbeziehung vorstelle, schrieb dessen Politikchef James Forsyth. Wenn sie das nicht tue, solle sie zurücktreten. „Man kann nicht führen, wenn man keine Entscheidungen treffen kann.“
Die Ursache für das ziellose Dahindümpeln sieht die linke Sonntagszeitung The Observer (11.2.) in Mays gespaltenem Kabinett. Es sei nicht so, dass die einzelnen Minister nicht wüssten, was sie wollten, argumentierte Andrew Rawnsley, einer der bekanntesten liberalen Kommentatoren des Landes. „Es ist vielmehr so, dass verschiedene Minister verschiedene Dinge wollen.“ Die einen wollten einen möglichst klaren Bruch mit der EU: Das bedeute den Austritt aus dem Binnenmarkt und der Zollunion, damit London künftig seine eigenen Regeln setzen und eigene Handelsdeals abschließen kann. Die anderen wollten sich auch nach dem Brexit eng an die EU anlehnen, um den Unternehmen einen möglichst vollständigen und reibungslosen Zugang zum europäischen Markt zu sichern.
Einen Kompromiss zwischen diesen beiden Positionen soll eigentlich die Brexit-Arbeitsgruppe des Kabinetts finden. Neben May gehören ihr zehn Minister an, je fünf „Remainers“ und fünf „Leavers“. Sie ist sorgfältig austariert, damit sich kein Lager übervorteilt fühlt. Eine Annäherung ist bislang nicht zu erkennen, die beiden Lager scheinen sich vielmehr in einem Gleichgewicht des Schreckens eingerichtet zu haben.
In den britischen Medien wird die Arbeitsgruppe auch „Brexit-Kriegskabinett“ genannt. Ein Unwort, fand Rawnsley. „Als Winston Churchill im Jahr 1940 Premierminister wurde, berief er ein Kriegskabinett ein“, schrieb der Kolumnist. „Das lag daran, dass Großbritannien sich in einem existenziellen militärischen Konflikt mit Hitler befand.“ Großbritannien sei aber nicht im Krieg mit der Europäischen Union, für die Brexit-Arbeitsgruppe sei die Beschreibung daher „vollkommen unangebracht“.
Freund-Feind-Denken
Das Freund-Feind-Denken erlebt durch die Brexit-Verhandlungen eine Renaissance. Als der proeuropäisch eingestellte Finanzminister Philip Hammond sich vergangenes Jahr einmal gegen die Brexit-Hardliner in seiner Partei verteidigen musste, erinnerte er sie daran, dass „der Feind“ immer noch auf der anderen Seite, sprich in Brüssel, sitze. Er entschuldigte sich umgehend für die „unglückliche Wortwahl“, doch der diplomatische Schaden war angerichtet. Der Anfang des Jahres aus dem Amt geschiedene deutsche Botschafter in London, Peter Ammon, beschwerte sich kurz vor seinem Weggang in einem Interview im Guardian (29.1.), dass die Briten immer noch im Denken des Zweiten Weltkriegs verhaftet seien.
Die „Wir gegen die Anderen“-Mentalität wird allerdings auch in Brüssel gepflegt. Als Beweis werden in London kritische Äußerungen von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker oder dem Brexit-Beauftragten des Europaparlaments, Guy Verhofstadt, angeführt. Besonders erzürnt reagierte Großbritanniens konservative Presse kürzlich auf die Warnung von EU-Chefunterhändler Michel Barnier, eine sich dem offiziellen Austritt anschließende Übergangsperiode, in der alles mehr oder weniger beim Alten bleiben soll, sei nicht garantiert. Dies wurde als Provokation empfunden.
„Was fällt Michel Barnier ein?“, schrieb der Sunday Telegraph (11.2.) in einem Leitartikel. Wenn Brüssel die Übergangsperiode infrage stelle, könne man auch die Debatte über die „Scheidungsrechnung“ wieder aufrollen. Die EU sei abhängig von den vereinbarten britischen Milliardenzahlungen. „Ohne unser Geld würde Brüssel in eine tiefe und zerstörerische Krise stürzen“, so das Blatt.
Das Geld ist aus Sicht des Sunday Telegraph nicht das einzige Argument, das die britische Regierung ins Feld führen könnte. „Letztlich schreckt Brüssel die Aussicht auf ein gnadenlos wettbewerbsfähiges, frei handelndes Großbritannien an der Grenze Europas.“ Das Blatt forderte die Premierministerin zu einem entschiedeneren Auftreten auf: „Das Vereinigte Königreich hat jede Menge Muskeln. Es ist an der Zeit, dass die Regierung sie spielen lässt.“
Ein unangenehmer Rivale?
Tatsächlich ist Großbritannien nicht wehrlos. Die EU sitzt in den Verhandlungen mit den Briten zwar am längeren Hebel, aber Brüssel fürchtet, dass die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas mit Deregulierung und Steuersenkungen zu einem unangenehmen Rivalen werden könnte. Vielleicht, so die Sorge, ist ja doch etwas dran an dem Argument, dass Großbritannien sein wirtschaftliches Potenzial voll entfalten könnte, wenn es sich erst einmal von den EU-Regeln befreit habe.
Aus der Sicht der reinen Marktwirtschaftslehre sei die Vision des harten Brexits „vollkommen nachvollziehbar“, schrieb der Kolumnist Janan Ganesh in der Financial Times (12.2.). Doch scheuten sich die Verfechter eines solchen „liberalen Brexits“, die Implikationen für die britische Gesellschaft in der Öffentlichkeit darzulegen.
„Welche Regeln würden abgeschafft, um Großbritannien hyperwettbewerbsfähig zu machen und die Kosten des Ausstiegs auszugleichen?“, fragte Ganesh. „Welche arbeitsrechtlichen Vorschriften? Welche technischen Standards?“ Die Wähler hätten ein Anrecht darauf, dies zu erfahren. Doch die Brexit-Wortführer verharrten im Ungefähren, in der „elisabethanischen Bildersprache der offenen See“, weil sie wüssten, dass die ihnen vorschwebenden Reformen unpopulär wären. „Die Leaver wissen, dass die Wähler keine deutlich weniger regulierte, viel offenere Wirtschaft wollen“, schrieb Ganesh. Deshalb spielten sie immer nur auf Singapur als Vorbild für die britische Wirtschaft an, „doch sie erbleichen, sobald das S-Wort fällt“.
Ein Ende des Richtungsstreits im Kabinett ist nicht in Sicht. Und die Uhr tickt, wie Barnier nicht müde wird zu betonen. Am 29. März 2019 tritt Großbritannien formell aus der EU aus und verliert sein Mitspracherecht. Die EU-Regeln sollen auf der Insel aber noch bis Ende 2020 gelten, um einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten. Bis Oktober soll die Austrittsvereinbarung inklusive Übergangseinigung unterschriftsreif sein. Zugleich wollen die EU-Regierungschefs eine politische Erklärung abgeben, in der die Eckpunkte der künftigen Handelsbeziehung nach 2020 festgehalten sind.
Zweifel am Zeitplan
Ob der Zeitplan einzuhalten ist, wird nicht nur in Brüssel bezweifelt. Schon die Gespräche über die Übergangsperiode sind schwieriger als erwartet, weil London mögliche neue EU-Richtlinien nicht einfach hinnehmen will. Kolumnist Dominic Lawson appellierte in der Sunday Times (11.2.) an die Regierung, keine Zeit zu verschwenden und die Brüsseler Bedingungen für die Übergangsperiode einfach zu akzeptieren. „Während der Vasallenstatus viele Tories empört, ist er im großen Lauf der Geschichte trivial.“ Nach den zwei Jahren könne Großbritannien schließlich alle unliebsamen Regeln wieder rückgängig machen.
Das Einzige, was wirklich zähle, sei der Status Großbritanniens nach der Übergangsperiode, schrieb Lawson. „Das ist die historische Entscheidung – und eine, die zu treffen May offenbar nicht imstande ist.“ Die Premierministerin scheine sich beim Güterhandel auch langfristig den Regeln von Zollunion und Binnenmarkt unterwerfen zu wollen. „May kapituliert vor der Lobby der Auto- und Pharmaindustrie, die mit dem Umzug ihrer britischen Fabriken gedroht hat, wenn wir nicht komplett im Bereich der EU-Regeln bleiben“, kritisierte Lawson. Das wäre eine „krachende Niederlage“ für die Brexiteers, die sich dann von der Idee verabschieden müssten, eigene Handelsabkommen mit Drittstaaten abzuschließen.
Allerdings wies Lawson darauf hin, dass die Europäische Union einen solchen sektoralen Zugang als Rosinenpickerei ablehnt. „Brüssel scheint der Ansicht zu sein, dass die britische Regierung durch die parlamentarische und die außerparlamentarische Opposition dazu gebracht werden kann, das ganze Brexit-Unterfangen rückgängig zu machen.“
Jedenfalls haben die Remainer in London die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass der Ausstieg noch irgendwie abgewendet oder zumindest deutlich abgemildert werden kann. Der Brexit wirft einfach zu viele ungelöste Fragen auf. Im Observer (11.2.) forderte Rawnsley die Anti-Brexit-Mehrheit im Unterhaus auf, aktiv zu werden. Da die Regierung sich offenbar nicht auf einen Brexit-Kurs einigen könne, sollten die Abgeordneten den Gesetzgebungsprozess zum EU-Ausstiegsgesetz nutzen, um der Regierung die Verhandlungsziele vorzuschreiben. So könnten sie etwa den Verbleib in der Zollunion erzwingen. „Zeit zu handeln, Unterhausabgeordnete“, schrieb Rawnsley. „Übernehmen Sie die Kontrolle!“
Carsten Volkery ist London-Korrespondent des Handelsblatt.
Internationale Politik 2, März-April 2018, S. 130 - 133