Kommentar

01. Jan. 2021

Die EU darf beim Welthandel nicht den 
Anschluss verlieren!

Ein Kommentar von Stormy-Annika Mildner und Katherine Tepper

Im November unterzeichneten 15 asiatisch-pazifische Länder die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP). Zu den Vertragsparteien gehören die ASEAN-Staaten (Brunei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam) sowie Australien, China, Japan, Neuseeland und Südkorea. Mit einer Bevölkerung von 2,3 Milliarden Menschen und einem Bruttoinlandsprodukt von knapp unter 26 Billionen Dollar ist die RCEP das größte plurilaterale Freihandelsabkommen (FTA) der Welt.



Mit der RECP weitet vor allem China seine Einflusszone weiter aus. Das FTA ist ein politischer Gewinn für Peking – und sollte ein Weckruf für die USA und insbesondere die EU sein. Denn beide laufen Gefahr, im asiatisch-pazifischen Raum den Anschluss zu verlieren. Zwar bleibt das Ambitionsniveau deutlich hinter FTAs der EU und der USA zurück. Dennoch dürfte die RCEP zu einer relativen Verschlechterung des Marktzugangs für die EU und die USA führen sowie deutliche handelsumlenkende Effekte mit sich bringen.



Einer Berechnung des Peterson Institute for International Economics zufolge könnte in einem Szenario, in dem der Handelskonflikt zwischen den USA und China beigelegt wird, im Jahr 2030 das weltweite Einkommen mit RCEP um 186 Milliarden Dollar höher ausfallen als ohne das Abkommen. 174 Milliarden Dollar würden auf die Unterzeichner des Abkommens entfallen, allen voran China, Japan und Südkorea (85 Milliarden, 48 Milliarden und 23 Milliarden Dollar). Der Grund hierfür ist, dass auf diese Länder 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der RCEP entfallen und sie bisher nicht gemeinsam Mitglied eines Freihandelsabkommens sind. Damit würden die Einkommensgewinne durch die RCEP höher ausfallen als durch das Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP), dem Freihandelsabkommen zwischen Australien, Brunei, Chile, Japan, Kanada, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam. Der Handel zwischen den RCEP-Ländern wird deutlich steigen – zu Kosten von Nichtmitgliedern.



Konkret sieht die RCEP eine Abschaffung der Zölle auf rund 92 Prozent des Warenhandels mit langen Übergangszeiten von bis zu 20 Jahren vor. Die 42 Zollabbau-Vereinbarungen weisen viele Lücken auf; die Abschaffung der Zölle gilt hauptsächlich für Waren, die bereits im Rahmen bestehender Freihandelsabkommen in der Region zollfrei sind. Die wichtigste Erleichterung für Unternehmen sind die neuen Ursprungsregeln, die festlegen, wann eine Ware unter den bevorzugten Bedingungen eines FTA gehandelt werden kann. Das Abkommen enthält einheitliche Ursprungsregeln für den Handel zwischen den Vertragspartnern. Eine Ware wird dann bevorzugt in der RCEP behandelt, wenn eine produktspezifische Wertschöpfung von 40 Prozent erreicht wird– eine großzügigere Regelung als in anderen Handelsabkommen, die den regionalen Handel deutlich erleichtert. Die Regeln für digitalen Handel, öffentliche Auftragsvergabe und Investitionen sind dagegen sehr schwach und umschreiben oft nur einen Minimalstandard. Kapitel zu Arbeitsnormen oder Umweltschutz sucht man vergeblich.

 

Der Westen fällt zurück

China war schon vor der RCEP gut durch FTAs in der Region vernetzt, etwa mit den ASEAN-Ländern sowie den anderen RCEP-Unterzeichnerstaaten Südkorea, Singapur, Neuseeland und Australien. Hinzu kommen noch die Malediven. Sobald die RCEP ratifiziert ist, unterhält China FTAs mit 16 Ländern in der Region.



Die EU hat ihrerseits mit mehreren asiatischen Ländern FTAs abgeschlossen. Die FTAs mit Südkorea, Singapur, Japan und Vietnam sind bereits vollständig in Kraft; noch ratifiziert werden müssen die Investitionsabkommen mit Singapur und Vietnam. Außerdem verhandelt die EU derzeit mit Australien, Indonesien, Neuseeland und den Philippinen über FTAs sowie mit China über Investitionsabkommen.



Noch schwächer sind die USA aufgestellt. Die Vereinigten Staaten haben FTAs mit Singapur, Australien und Südkorea abgeschlossen. 2020 unterzeichneten sie zwei kleinere Abkommen mit Japan, die als Grundlage für ein umfassenderes Abkommen in der Zukunft dienen sollen. Die USA gehörten zu den Unterzeichnerstaaten der Transpazifischen Partnerschaft (TPP, heute CPTPP). Der damalige Präsident Barack Obama hatte das Abkommen jedoch nicht mehr dem Kongress zur Ratifizierung vorgelegt. Unter Präsident Donald Trump zogen sich die USA gleich nach dessen Amtsantritt 2017 aus dem Abkommen zurück. Obamas Handelsbeauftragter Mike Froman bezeichnete dies als einen „verhängnisvollen“ strategischen Fehler der USA.



Die Bedeutung der Region für die EU steht derweil außer Frage. Laut Eurostat exportierte sie 2019 Waren im Wert von 2,04 Billionen Euro und importierte Waren im Wert von 2,06 Billionen Euro. Knapp 24 Prozent dieser Exporte oder 479,7 Milliarden Euro gingen in die RCEP-Länder. Die EU importierte Waren im Wert von 711,5 Milliarden Euro aus den RCEP-Ländern, was fast 35 Prozent ihrer gesamten Warenimporte ausmacht. Die jüngsten Entwicklungen verdeutlichen, dass sich das geoökonomische und geopolitische Umfeld verändert, und die EU muss sich anpassen. Vor allem muss sie selbstbewusster handeln und das wirtschaftliche Gewicht ihres Binnenmarkts nutzen, um europäische Interessen und Werte zu verteidigen und zu fördern. Die Europäische Kommission hat daher zu Recht eine Überprüfung der Handelspolitik eingeleitet und unter das neue Konzept der „Offenen Strategischen Autonomie“ gestellt. Allerdings wird vor allem die defensive Seite der Handelspolitik debattiert, darunter die Abwehrmechanismen wie Antidumping- und Antisubventionsmaßnahmen. Dies reicht nicht aus.



Will die EU eine relative Marktverschlechterung für ihre Exporteure sowie Produktionsverlagerungen in die Wachstumsregionen verhindern und weiterhin ein Standardsetzer sein, muss sie den Abschluss neuer FTAs aktiv betreiben. Spätestens seit den Verhandlungen um die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) sind Handelsabkommen in der europäischen Öffentlichkeit allerdings ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Zahlreiche Abkommen wie das Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA) mit Kanada befinden sich lediglich in der vorläufigen Anwendung. Anders als geplant, konnte die EU das Abkommen mit den Mercosur-Ländern aufgrund des Widerstands mehrerer EU-Staaten – allen voran Frankreich – nicht während der deutschen Ratspräsidentschaft unterzeichnen.



Der EU muss es gelingen, eine proaktive Handelspolitik zu betreiben, die den Anforderungen des 21. Jahrhunderts entspricht. Dies geht nicht ohne gesellschaftliche Unterstützung. Deshalb ist es wichtig, dass nicht nur die EU-Kommission im intensiven Austausch mit den Regierungen der Mitgliedstaaten steht, sondern beide auch in der europäischen Öffentlichkeit für Handelsabkommen werben und einen intensiven Austausch mit allen Gruppen der Zivilgesellschaft führen.



Dr. Stormy Annika Mildner ist ab dem 1. Januar 2021 Direktorin des Aspen Institute Germany und Adjunct Lecturer der Hertie School in Berlin.



Katherine Tepper ist Referentin für Außenwirtschaftspolitik beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI).

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar-Februar 2021, S. 120-121

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