Die Erschaffung der Welt
Die USA finden sich in der Rolle wieder, die Großbritannien einst in Europa spielte. Nun müssen sie den eurasischen Kontinent erneut ausbalancieren
Seit die Vereinigten Staaten um 1900 zur Weltmacht aufgestiegen sind, haben sie ein klares strategisches Ziel verfolgt: Sie wollten verhindern, dass ein einziger Staat die Kontrolle über Eurasien erlangt.
Interessanterweise schienen es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem die Europäer zu sein, die dieses Ziel gefährdeten. Dies wurde erstmals deutlich, als die USA die europäischen Mächte daran hinderten, China zu annektieren. Brooks Adams, ein Enkel von John Quincy Adams, warnte damals: „Sollten die Russen und die Deutschen sich zusammentun, um Nordchina zu beherrschen, und sollte das Land daraufhin von den Deutschen und mit deutschen Geldern regiert werden, dann könnte das zu einem sehr ernsten Problem für Amerika werden.“
Später tat sich jenes Amerika selbst mit der Sowjetunion zusammen, um Nazideutschland davon abzuhalten, die Ukraine, den Kaukasus und letzten Endes auch Indien zu erobern. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde dann Moskau zur Bedrohung. Und wie zu erwarten war, reagierten die USA wieder. Sie brachten Europa und China als Bollwerke gegen die Sowjetunion in Position.
Eiserne Logik
Heute, ein weiteres halbes Jahrhundert später, schließt sich der Kreis. Dieses Mal geht die größte Gefahr für die USA von China aus. Viele Beobachter dürften davon ausgegangen sein, dass die Vereinigten Staaten nun verstärkt mit Europa, Russland oder Indien zusammenarbeiten würden. Doch bisher hat die eiserne Logik der US-Außenpolitik noch nicht gegriffen. Der amerikanische Blick wird durch die Siegesgewissheit vernebelt, die das Land nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion befallen hat, als eine unter amerikanischer Führung vereinte Welt für kurze Zeit realistisch schien.
Mit der Belt and Road Initiative hat China die eurasische Frage aber zurück auf die Tagesordnung jeder geopolitischen Diskussionsrunde gebracht. Im Grunde geht es Peking bei dem Projekt darum, den chinesischen Einfluss auf ganz Eurasien auszuweiten und sich Zugang zu den Energiemärkten in Russland und dem Nahen Osten, zu den europäischen Technologien und zu den großen Absatzmärkten in Europa, Indien und Südostasien zu verschaffen.
Sollte dieser Plan aufgehen, dann würden die Vereinigten Staaten zu einer Insel vor der europäischen Küste degradiert, die zwar womöglich noch immer sehr wohlhabend und sicher vor äußeren Einflüssen wäre, jedoch plötzlich am Rande der Weltpolitik stünde und bei den großen Fragen kein Mitspracherecht mehr hätte. Die USA wären dann diejenigen, die ausgeschlossen wären.
Angesichts dieses Albtraumszenarios hat Washington bereits erste Gegenmaßnahmen ergriffen. Eine davon ist der bis heute andauernde Handels- und Technologiekrieg gegen Peking, in dem die USA jüngst einen schweren Schlag gegen das erfolgreichste Unternehmen Chinas landete – Huawei soll nach und nach aus dem globalen Markt gedrängt werden, was die ambitionierten Ziele der Firma durchkreuzen könnte. Das Weiße Haus hat auch eine Reihe von Strafzöllen für chinesische Importe verhängt.
Eine Zeitlang schien es so, als ob die Verhandlungen mit China dazu dienen sollten, Peking eine Reihe von Hemmnissen aufzuzwingen mit dem Ziel, das chinesische Wirtschaftswachstum und die technologische Entwicklung des Landes zu verlangsamen, um die amerikanische Vormachtstellung zu schützen. Aktuelle Berichte suggerieren allerdings, dass die Verhandlungen im Mai scheiterten, weil die USA versuchten, China zu einem fundamentalen Umdenken in seiner Wirtschaftspolitik zu zwingen und das Land auf einen liberaleren, westlicheren Wirtschaftskurs zu bringen.
Im Grunde gibt es für Washington im Handelskrieg mit Peking nur zwei Optionen: Entweder versucht man, die chinesische Wirtschaft einzudämmen – dies könnte durch die Aufrechterhaltung der Strafzölle erreicht werden – oder man sucht Mittel und Wege, um China zum westlichen Wirtschaftsmodell zu bekehren. Es scheint so, als habe sich die Trump-Regierung – wenn auch nicht Donald Trump selbst, der ideologische Projekte verachtet – für Letzteres entschieden.
Ein Kalter Krieg mit China?
Die US-Entscheidungsträger werden sich jedoch fragen lassen müssen, wie dieser Plan in die Tat umgesetzt werden kann. Kann der Kalte Krieg als Vorlage dienen? Ist ein Szenario vorstellbar, in dem die chinesische Wirtschaft nicht nur stagniert, sondern in eine Art technologischen Winter eintritt und sich mehr oder minder selbst abwickelt? Und würde China daraufhin ähnlich auseinanderbrechen wie die Sowjetunion?
Man braucht zumindest viel Fantasie, um derartige Gedankenexperimente für realistisch zu halten. Sollte sich die US-Regierung dazu entscheiden, „maximalen Druck“ auf Peking auszuüben, dann muss auch „maximale Klarheit“ darüber herrschen, was damit konkret erreicht werden soll. Erwartet man, dass China sich wandelt – vielleicht nach dem Zusammenbruch der Kommunistischen Partei? Die Tatsache, dass in der Vergangenheit schon weitaus weniger ambitionierte Regimewechsel in einer Katastrophe endeten, sollte Warnung genug sein.
Gefährliche Entkopplung
Oder ist es die Zielsetzung, sich komplett von China abzukoppeln und damit die chinesische Wirtschaft zum Einsturz zu bringen? Dann gilt es, vorher zwei Fragen zu beantworten.
Die erste Frage lautet: Wie viel Schaden würde diese Strategie der Weltwirtschaft zufügen? Viele der wirtschaftlichen Erträge der vergangenen Jahrzehnte resultierten aus der Schaffung komplexer Wertschöpfungsketten. Löst man diese Wertschöpfungsketten nun auf, dann entstehen zwangsläufig Verluste – und im schlimmsten Fall wirtschaftliches Chaos, das wiederum zu Konflikten führen könnte. Beide Seiten würden sich gegenseitig die Schuld für die kostspielige Auseinandersetzung geben. Und damit wären wir auch schon bei der zweiten Frage: Können zwei wirtschaftliche Supermächte ihre Märkte voneinander entkoppeln, ohne damit zwangsläufig auf einen Konflikt zuzusteuern?
Es ist nicht schwierig zu erkennen, wohin uns diese Fragen führen. Sollten sich die USA jemals in einer Neuauflage des Kalten Krieges wiederfinden – dieses Mal mit China als ihrem globalen Widersacher –, dann müsste allen Beteiligten klar sein, dass man es in diesem Fall nicht mehr mit einem Gespenst der Sowjetunion zu tun hätte, sondern mit einem ungleich unnachgiebigeren und einfallsreicheren Gegner.
Unwahrscheinliche Einigung
Und damit zurück zu unserem Albtraumszenario und der Frage, wie es sich am besten abwenden lässt. Dabei muss man festhalten, dass die Einigung ganz Eurasiens unter einer einzigen Macht so unwahrscheinlich ist, dass ein derartiger Fall in der Weltgeschichte noch kein einziges Mal vorgekommen ist. Und man muss sich nur die Vielzahl von völlig unterschiedlichen politischen Modellen, die imperialistischen Traditionen der großen eurasischen Staaten und die politische und technologische Entwicklung des Superkontinents vor Augen führen, um zu verstehen, warum.
All diese Faktoren suggerieren, dass eine eurasische Integration auf politischer Ebene unwahrscheinlich ist. Vielleicht gibt es also gar keinen Grund für Washington, die Pläne für ein freies, liberales und von Amerika geführtes Eurasien einmal mehr aus der Schublade zu holen.
Für mehr amerikanische Einmischung spricht wiederum eine der vielen Lesarten des klassischen Konzepts des Mächtegleichgewichts. Die USA können es sich schlicht nicht leisten, diese Theorie zu passiv zu interpretieren. Denn ein Mächtegleichgewicht kommt nur sehr selten auf natürliche Art und Weise zustande. Schaut man sich die gegenwärtige Kräfteverteilung in Eurasien an, darf man berechtigte Zweifel daran haben, dass sie in Zukunft Bestand haben wird. Weder die EU noch Russland können wirtschaftlich und militärisch mit China mithalten. Die EU ist eine ökonomische Supermacht, aber ein politischer und militärischer Zwerg. Russland ist eine militärische Supermacht, aber keine wirtschaftliche Konkurrenz für China. Und Indien und Japan sind viel zu stark auf sich selbst fokussiert, um wirklich eine Rolle im Wettkampf um Eurasien zu spielen.
Im Hinblick auf Europa scheint die US-Strategie klar zu sein. Nicht zuletzt deshalb hat die Trump-Regierung hier bereits Fortschritte erzielt. Die USA waren hauptverantwortlich für den Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft und die Schaffung gemeinsamer Institutionen, mit denen die europäischen Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf ein stabiles Fundament gestellt wurden.
Die gegenwärtige Aufgabe, Europa zu einer politischen Kraft auf der internationalen Bühne zu machen, ist allerdings ungleich schwieriger, da sie eine gehörige Portion Risiko birgt. Es könnte nämlich sein, dass die Europäer keinen Schritt in diese Richtung tun, bevor sie sich nicht mit einer echten Krise konfrontiert sehen. Zudem werden die USA einige ihrer eigenen Interessen aufgeben müssen, denn sollte die EU wirklich eine gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik auf den Weg bringen, würde das zwangsläufig der amerikanischen Rüstungsindustrie schaden.
Russland ist derweil ein noch viel heiklerer Fall. Das Land hat sich Schritt für Schritt weiter vom Westen entfernt, und die diplomatischen Spannungen zwischen Moskau und Washington haben einen neuen Höhepunkt erreicht. Eine Annäherung seitens Russlands ist höchst unwahrscheinlich, solange Wladimir Putin im Amt ist. Gleichzeitig laufen die USA Gefahr, durch ihr Verhalten eine informelle Allianz zwischen China und Russland zu riskieren.
Wer beide Staaten als Gefährder der globalen Ordnung einstuft, der läuft Gefahr, dass sie sich dementsprechend verhalten. Selbst wenn Russland und China eigentlich eine unabhängige Entwicklung bevorzugen und miteinander konkurrieren, könnten sie sich im Fall der Fälle dazu veranlasst sehen zu kooperieren, um die amerikanische Vormachtstellung zu brechen.
Die Quadratur des Kreises
Wie lässt sich also die Quadratur des Kreises erreichen? Wie kann sich Washington möglichst weit von den geopolitischen Ambitionen Russlands distanzieren und gleichzeitig ein eurasisches Bündnis zwischen seinen beiden größten Rivalen verhindern?
Blickt man auf das große eurasische Schachbrett, dann ergeben sich einige potenzielle Antworten auf diese Frage. Zwar stimmt es, dass jede amerikanische Maßnahme zur Stärkung Russlands als unabhängigem Akteur in Eurasien vom Kreml gegen seinen vermeintlichen Wohltäter benutzt werden könnte. Doch das sollte kein Grund dafür sein, Russland weiterhin zu isolieren.
In den USA mag man Putins Russland verachten und die Interaktionen mit Moskau auf ein Minimum beschränken wollen. Aber man sollte sich davor hüten, Russland jede Tür gen Westen – etwa nach Europa oder in die Türkei – zu verschließen und das Land somit komplett von China abhängig zu machen.
Das Ziel muss sein, einen Platz für Russland – als unabhängige Partei zwischen Europa und Asien – innerhalb des eurasischen Mächtegleichgewichts zu finden und gleichzeitig eine gewisse Position der Stärke gegenüber Moskau zu wahren, um es in Schach zu halten und gegebenenfalls zwingen zu können, das Mächtegleichgewicht anzuerkennen.
Im Hinblick auf Indien und Japan ist die strategische Zielsetzung derweil klar: Beide Länder sollten dabei unterstützt werden, eine selbstbewusstere Außenpolitik zu verfolgen und ihre großen wirtschaftlichen Ressourcen dafür zu nutzen, eine aktivere Rolle auf der internationalen Bühne zu übernehmen.
Dies kann nur im Interesse der USA sein. Indien und Japan quasi innerhalb der eigenen Kommandostrukturen zu halten, als Länder, die nur dann nützlich werden können, wenn sie unter der Führung Washingtons agieren, ist kontraproduktiv. Sie können nur als eigenständige Akteure im eurasischen Schachspiel mitmischen und helfen, das Mächtegleichgewicht auf dem Kontinent aufrechtzuerhalten.
Die USA als „great balancer“
Würde Washington eine schlüssige Strategie verfolgen und all diese Schritte wagen, dann könnten sich die USA auf der Weltbühne als „great balancer“, als großer Ausbalancierer und Stabilisator hervortun. Die Vereinigten Staaten würden jene Rolle einnehmen, die Großbritannien im 19. Jahrhundert gegenüber dem europäischen Festland spielte: mit einem Fuß auf dem Kontinent und einem Fuß außerhalb, stets um eine Balance zwischen den europäischen Großmächten bemüht und entschlossen, die Vormachtstellung einer der Parteien innerhalb Europas unbedingt zu verhindern. Die britischen Strategen wussten, dass Großbritannien stets stärker sein würde als die einzelnen europäischen Mächte, aber ihren vereinten Kräften nichts entgegenzusetzen hätte.
Die USA müssen also für den eurasischen Superkontinent das werden, was Großbritannien für Europa war – mit einigen wenigen Vorbehalten. Denn die neue Version der „splendid isolation“, der herrlichen Isolation, in der sich Großbritannien einst wähnte, werden sich die USA erst erarbeiten müssen.
Das eurasische Schachbrett
Die Fähigkeit, das eurasische Schachbrett zu beeinflussen, ohne sich direkt einmischen zu müssen, ist nicht gottgegeben und speist sich auch nicht automatisch aus der geografischen Lage Amerikas und der amerikanischen Flottenstärke. Die modernen Grenzen sind diffuser als die des 19. Jahrhunderts, und die Variable der geografischen Entfernung ist durch den technologischen Fortschritt mehr oder minder eliminiert. Wenn es darum geht, sich mit Terrorismus, Cyberangriffen oder nuklear bewaffneten Schurkenstaaten auseinanderzusetzen, ist meist eine weitaus aktivere Einmischung notwendig als in der Vergangenheit.
Zudem finden die USA kein gemachtes Nest vor, also keine Welt, in der bereits eine Reihe von etwa gleich starken Großmächten miteinander konkurriert. Die einzelnen Bausteine sind da, aber es wird noch einiges an Arbeit nötig sein, um ein echtes Mächtegleichgewicht herzustellen. Ohnehin müssen die USA statt eines großen Balanceakts eher eine große Kreativleistung vollbringen. China muss eingehegt werden, was harte Verhandlungen über die zukünftigen Handelsbeziehungen und womöglich auch vorübergehende Strafzölle erfordern wird. Und alle anderen Parteien müssen gestärkt werden, um ein Gleichgewicht zu fördern.
Doch bedeutet all das überhaupt eine so große Umstellung für die amerikanische Psyche? Die Amerikaner verstehen sich schon lange als Autoren der Weltgeschichte, die wichtigsten Storylines werden ihrer Ansicht nach in Washington geschrieben.
Mein Vorschlag geht dahin, die Dinge ein wenig offener nach vorn zu denken. Zu der vor uns liegenden Welt gehören verschiedene Formen von Bewusstsein, mit ihren eigenen Rechten und ihren eigenen Perspektiven. Für die USA ist das Zeitalter des „nation building“, des Aufbaus von Staaten andernorts vorbei. Das Zeitalter von „world building“ hat begonnen. Es geht um nichts Geringeres als die Schaffung einer neuen Welt.
Bruno Maçães war 2013 bis 2015 portugiesischer Europa-Minister. Ende 2018 erschien sein Buch „Belt and Road. A Chinese World Order“.
Internationale Politik 4, Juli August 2019, S. 74-79