Die Entdeckung Europas
Wie die Energiewende die Deutschen lehrt, auf ihre EU-Partner zu achten
Während Deutschland seine Energiewende neu ordnet, vollzieht das Land einen Lernprozess: Wer wo welche Kraftwerke baut und Leitungen legt, all das schienen bislang Fragen nationaler Politik zu sein. Nun zeigt sich, dass es so einfach nicht ist: Es gibt eine europäische Energiepolitik, und sie setzt unserem Handeln bisweilen erstaunlich enge Grenzen.
Dass Berlin derzeit an seine energiepolitischen Handlungsgrenzen stößt, liegt an einer zweifachen Krise der Energiewende. Weder ökonomisch noch ökologisch leistet sie, was ihre Verfechter vorher versprochen hatten. In der Wirtschaft wird der Umbau der Stromproduktion als Umweltprojekt wahrgenommen und kritisiert: Klima, schön und gut, aber nun müssten andere Ziele in den Vordergrund treten – Strompreis und Versorgungssicherheit. Wer baut neue Kraftwerke, wenn weitere Atomkraftwerke abgeschaltet werden? Woher kommt der Strom an trüben und windstillen Tagen? Und was lässt sich gegen den Anstieg der Ökostromumlage tun?
Andererseits hat inzwischen auch das Ökolager bemerkt, dass beim Umbau der Stromversorgung etwas grundsätzlich schief läuft. Die „gesamte Konstruktion der Energiewende“ sei in Gefahr, warnen die Umweltschützer von Germanwatch. Trotz gewaltiger Investitionen in Wind- und Sonnenenergie produziert Deutschland immer mehr vom Klimagas CO2.
Klimaziel außer Reichweite
Misst man die Entwicklung der Treibhausgasproduktion seit dem Atomausstieg des Jahres 2011 am Durchschnitt der Jahre 1994 bis 2008 (also dem Zeitraum zwischen dem Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft und der Wirtschaftskrise von 2009, die beide tiefe Einschnitte in der deutschen Klimabilanz markieren), dann haben drei Jahre Energiewende, grob überschlagen, den Fortschritt ebenso vieler Jahre Klimapolitik zunichte gemacht. Wenn es so weiter läuft, wird Deutschland bis 2020 verglichen mit 1990 kaum 20 Prozent seiner Emissionen einsparen. Minus 40 Prozent – das offizielle Klimaziel hat nur noch deklaratorische Bedeutung und ist in Wirklichkeit längst außer Reichweite.
Was tun? Zunächst hat die Bundesregierung offenbar entschieden, die Schuld an der deutschen Misere nach Brüssel abzuschieben: Die Kommission habe es versäumt, den europäischen Emissionshandel am Leben zu halten, kritisierte Sigmar Gabriel Anfang des Jahres. Weil die CO2-Zertifikate zu billig sind, ist auch Kohlestrom zu billig, weshalb die deutschen Treibhausgasemissionen steigen, das ist der Kern des Arguments. Brüssel ist schuld – als Argument nicht sonderlich originell, aber immerhin eine Anerkennung neuer Kräfteverhältnisse.
Richtig an Gabriels Kritik ist, dass der Handel mit CO2-Zertifikaten inzwischen mehr schadet als nützt. Theoretisch soll er die Wirtschaft zum Klimaschutz zwingen. In der Praxis, so haben die Beobachter von der Klima-NGO Sandbag errechnet, sind so viele Emissionsrechte im Handel, dass Europas Unternehmen zur Energieverschwendung der neunziger Jahre zurückkehren könnten, ohne dass die Zertifikate knapp würden.
Allerdings ist an diesem Befund nichts überraschend. Der Emissionshandel ist ein Steuerungselement, das einem konkreten Ziel dient: 20 Prozent weniger CO2 im Jahr 2020, europaweit, gemessen an 1990. Dieses Ziel wird, vor allem dank des Einbruchs der Treibhausgasproduktion infolge der Wirtschaftskrise 2009, aller Voraussicht nach weit übertroffen werden, weshalb der Emissionshandel nun genau das leistet, was er leisten sollte: Er erlegt der Wirtschaft, da sie das verabredete Ziel ja erreicht, keine zusätzlichen Lasten auf.
Dies ist eine Entwicklung, die vor allem die kohleabhängigen Länder Ostmitteleuropas erfreut zur Kenntnis nehmen. Aus deutscher Sicht hingegen ist sie hoch problematisch. Als die Energiewende noch eine Vision einer grün-ökologischen Oppositionsbewegung war, hat dieses Lager sich einen Umbau ausgemalt, der sich allein als Folge von Marktkräften nicht einstellen konnte: Eine Kombination aus Erneuerbaren und flexibel zu steuernden Gaskraftwerken sollte Deutschlands Stromversorgung sichern, bis auch letztere schließlich fossilstromfreien Zukunftstechnologien Platz machen würden.
Dummerweise ist Gas ein teurer Energieträger, der weder mit Kohle noch mit Wind- und Sonnenstrom konkurrieren kann, weshalb Deutschland für den Umbau der Energiewirtschaft gerade ein wichtiger Baustein abhandenkommt. Ein nationales Steuerungsinstrument, das diesen Nachteil ausgleichen könnte, gibt es aber auch nicht – ein Umstand, den die grünen Visionäre nicht bedacht haben oder nicht wahrhaben wollten und der sich nun, da ihre Ideen offizielle Politik geworden sind, schmerzlich bemerkbar macht.
Komplette Ratlosigkeit
Wer mit Vertretern des Regierungslagers über dieses Problem spricht, trifft auf komplette Ratlosigkeit. Frage an Rainer Baake, den grünen Staatssekretär und Manager der Energiewende in Sigmar Gabriels Ministerium: Wie sieht der Plan B für den Umbau der Stromwirtschaft aus für den Fall, dass der Emissionshandel als Stütze des Umbaus ausfällt? Antwort: „Einen Plan B? Den sehe ich nicht.“ Aus Baakes Sicht gibt es für Deutschlands Klimabilanz nur eine Rettung: „Wer die CO2-Emissionen aus den Kohlekraftwerken reduzieren will, muss den Emissionshandel reformieren.“
Das ist in der Tat ein nahe liegender Ausweg: Lasst uns den Emissionshandel nutzen, um Kohlestrom zu verteuern und Strom aus Gas konkurrenzfähig zu machen! Aber so verständlich es ist, dass die Deutschen diesen Weg gerne beschreiten würden, so nachvollziehbar ist es andererseits, dass Länder wie Polen sich dagegen wehren, ihrer Wirtschaft die Kosten deutscher Denkfehler aufzuerlegen.
In Deutschland ist Baakes Forderung nicht nur im Ökolager populär, sondern auch bei Teilen der Wirtschaft. Denn höhere Preise für CO2-Zertifikate könnten gleich zwei Probleme entschärfen: Es würde nicht nur Kohlestrom teurer und damit weniger konkurrenzfähig. Sondern es stiege auch der Strompreis an der Börse, wodurch der Preisunterschied zu den garantierten Einspeisevergütungen für Ökostrom sinken und der Anstieg der EEG-Umlage gebremst würde. Eine völlig andere Frage ist, ob eine echte Reform des Emissionshandels politisch möglich ist. Auch hier lernt Deutschland dazu. Die Deutschen müssten in Brüssel auf den Tisch schlagen und den Bürokraten ihre Grenzen zeigen, forderten die Grünen, als die EU-Kommission Anfang des Jahres ihre eigenen Vorschläge für die Dekade nach 2020 präsentierte. Bei der Umweltorganisation Germanwatch konnte man sogar schon beziffern, auf welches Niveau sich die Preise im Emissionshandel als Folge eines beherzten deutschen Eingreifens gefälligst zu bewegen hätten: „Mindestens 25 Euro pro Tonne“, forderten die Ökos, also eine Steigerung um etwa 400 Prozent.
Brüssel als Bremser?
Inzwischen erscheinen solche Forderungen als politische Allmachtsphantasien. Wie es um die Zukunft der europäischen CO2-Wirtschaft bestellt ist, lässt sich in einer neuen Untersuchung der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) nachlesen. Nach Ansicht der Autoren Oliver Geden und Severin Fischer sind die wesentlichen Entscheidungen auf diesem Feld gefallen. Zumindest bis zum Jahr 2020 werde sich in der europäischen Klimapolitik nicht mehr viel bewegen. Gabriels Attacke auf die EU-Kommission wäre demnach weniger eine politische Initiative als ein Ablenkungsmanöver: Nicht wir sind schuld, sondern die EU-Bürokraten. Oder die Polen.
Wer ernsthaft eine Reform des Emissionshandels anstrebt, muss als Erstes zur Kenntnis nehmen, wie sich die EU über ihre strategischen Ziele verständigt. Nicht „Brüssel“ entscheidet, nicht die Kommission, nicht das Parlament – sondern der Europäische Rat, die Runde der Regierungschefs. Und zwar im Konsens. In dieser Runde, das ist der Kern der SWP-Analyse, hat sich mittlerweile in Gestalt der Visegrád-Gruppe, bestehend aus Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn, eine Opposition gegen jede ambitionierte Energie- und Klimapolitik formiert. Längst hat die Gruppe Verbündete gewonnen und genießt dazu die stillschweigende Unterstützung weiterer Regierungen, die gerade dringendere Sorgen haben als den Ausstoß ihrer Treibhausgase zu vermindern.
An dieser Konstellation ist schon vor Jahren der Versuch gescheitert, das europäische Treibhausgas-Ziel für 2020 von minus 20 Prozent auf minus 30 Prozent zu verschärfen, gemessen am Stand von 1990. Und daran scheiterte der letzte Anlauf, den Emissionshandel zu reformieren. Am Ende blieb es bei einer symbolischen Korrektur, die den Preis vorübergehend um ein paar Cent ansteigen ließ.
An all dem wird Geden und Fischer zufolge auch der Versuch scheitern, der EU wenigstens für die Dekade nach 2020 eine anspruchsvolle Energie- und Klimapolitik vorzuschreiben. Ihre Analyse wurde Anfang dieses Jahres veröffentlicht und hat sich bisher als bemerkenswert treffsicher erwiesen. Im März wollten die Regierungschefs über die langfristigen Klimaziele beraten – daraus wird nichts, hatten die SWP-Autoren schon Monate vorher prophezeit, zu Recht, wie man inzwischen weiß. Der Europäische Rat hat sich in dieser Frage auf den Herbst vertagt, und es ist ohne Weiteres möglich, dass er auch dann nichts beschließen wird. Die Visegrád-Staaten wollen Entscheidungen, wenn überhaupt, erst nach der Klimakonferenz 2015 in Paris treffen – in der nicht ganz abwegigen Erwartung, dass der große Weltklimavertrag auch im nächsten Anlauf scheitern und den Europäern daraufhin die Lust vergehen wird, sich weiter als globale Umweltschutzelite aufzuführen.
Wie immer Deutschland seine eigenen Klimaziele verfolgen will, Unterstützung aus Europa wird es offenbar kaum bekommen. Eine marktgesteuerte Energiewende in einem ungünstigen Umfeld, in dem die Möglichkeiten staatlicher Steuerung durch europäische Regulierungen eng begrenzt werden – das ist offenbar die Zukunft der Stromproduktion.
Wäre Deutschlands Klimaziel wenigstens theoretisch noch zu erreichen? Als das Ende der Atomkraft beschlossene Sache war, hat Felix Matthes, Vordenker des Öko-Instituts in Berlin, im Auftrag des Umweltbundesamts untersucht, wie ein klimafreundlicher Atomausstieg aussehen könnte. Es wurde ein radikales und komplett unrealistisches Konzept, ein grünes Wünsch-dir-was, das regelte und optimierte, was sich überhaupt regeln und optimieren lässt.
An die 60 Einzelmaßnahmen flossen ein, von strengeren Vorschriften für Autos und Neubauten über einen Emissionshandel im Schiffsverkehr bis hin zur „Reduktion des Fleischkonsums“ und der „Verringerung der Methan-Emissionen aus abflusslosen Gruben“. Am Ende würde es trotzdem nur reichen, wenn ganz Europa mitspielte. Ohne ein schärferes Klimaziel für die EU und eine radikale Reform des Emissionshandels wäre nichts zu machen.
Und nun? Es gibt die Perspektive der Ingenieure und Modellierer auf die europäische Energiepolitik. Aus dieser Perspektive heraus entstehen technologische Visionen: Transnationale Verbundsysteme der erneuerbaren Stromversorgung, die wetterbedingte Mängel hier mit Überschüssen dort ausgleichen, norwegische Pumpspeicher und nordafrikanische Solarkraftwerke zum Wohle aller verbinden und das Ganze mit europaweit erhobenen Ökostromumlagen finanzieren.
Realistischer ist vielleicht eine politische Perspektive. Eine einfache Testfrage hilft weiter: Hätte Deutschland sich seinen Atomausstieg im Jahr 2011 von der EU-Kommission oder seinen europäischen Partnern vorschreiben lassen? Ist es, anders formuliert, vorstellbar, dass das Land diese Entscheidung ohne den dreißigjährigen Krieg der energiepolitischen Lager beschlossen hätte, an deren Ende sie stand? Ohne den Schock von Fukushima? Ohne die bedrängte Lage einer Bundeskanzlerin, deren Partei eine Niederlage im Stammland Baden-Württemberg zu fürchten hatte?
Natürlich ist das nicht vorstellbar, weshalb es absurd ist, anderen EU-Ländern Entscheidungen vergleichbarer Tragweite aufzwingen zu wollen. Eher werden die Briten die EU verlassen, als auf Brüsseler Initiative hin auf die Förderung der Atomkraft zu verzichten. Und eher werden die Visegrád-Staaten die europäische Energiepolitik dauerhaft blockieren, als Vorgaben zur Förderung von Wind- und Sonnenstrom zu akzeptieren, von denen sie sich nichts versprechen.
Europäische Energiepolitik ist auf absehbare Zeit nur als Minimalkonsens der vorwiegend an nationalen Zielen und Interessen ausgerichteten Regierungen vorstellbar. Wer diesen Minimalkonsens erweitern will, tut gut daran, zunächst die Wünsche und Interessen seiner Partner zu erfragen. Niemand sollte das besser verstehen als die Deutschen, die sich europäische Unterstützung wünschen, um das nationale Projekt Energiewende doch noch zum Erfolg zu führen.
Frank Drieschner
ist Redakteur im Politik-Ressort bei der ZEIT.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2014, S. 57-61