Titelthema

29. Aug. 2022

Die Botschaft hören wir wohl

An Ideen und Initiativen mangelt es Frankreich nicht, um Europa in der Krise voranzubringen – aber an Überzeugungskraft.

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Bild: Zeichnung von Notre Dame in Paris
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Es war am 19. Januar, zu Beginn der französischen EU-Ratspräsidentschaft und noch vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, als Emmanuel Macron eine Rede vor dem EU-Parlament in Straßburg hielt. Angesichts der größer werdenden Spannungen mit Russland ging es dem Präsidenten darum, „einen europäischen Vorschlag zum Erfolg zu führen, der eine neue Ordnung der Sicherheit und Stabilität schafft“. Zunächst solle man den Plan unter Europäern ausarbeiten, um ihn dann mit den ­NATO-Verbündeten zu teilen und schließlich Moskau zur Verhandlung vorzuschlagen.



Tatsächlich hatte Wladimir Putin Anfang Dezember 2021 bereits 100 000 Soldaten an die Grenzen der Ukraine verlegt und Bedingungen gestellt, um „die Aggressionen der NATO einzudämmen“. Macrons Rede war eine Reaktion auf die russischen Vorschläge: Moskau hatte am 17. Dezember 2021 einen Vertragsentwurf über die Sicherheitsarchitektur in Europa an die USA und die NATO geschickt, in dem unter anderem sämtlichen Versuchen der Ukraine, der NATO beizutreten, ein Riegel vorgeschoben werden sollte. Die Russen gingen so vor, wie sie es während des Kalten Krieges getan hatten: Sie wandten sich an die Amerikaner, obgleich es um die Sicherheit in Europa ging.



Nach der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar bekräftigte Macron seinen Wunsch, eine neue europäische Friedensordnung zu schaffen, ohne dabei den Gesprächsfaden mit Russland abreißen zu lassen. Bereits 2018 hatte sich Frankreichs Präsident für eine Überarbeitung der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsarchitektur eingesetzt, in der neue Konfrontationsfelder (Cyber, Weltraum) eingepreist sein sollten.  



Im März 2022 verabschiedeten die 27 EU-Mitgliedstaaten unter französischer Ratspräsidentschaft einen Strategischen Kompass, der die EU bis 2030 zu einem führenden Sicherheitsanbieter machen und ihre „strategische Autonomie“, die dem französischen Präsidenten so am Herzen liegt, stärken soll. Das sicherheitspolitische Grundlagendokument war zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft 2020 als Mittel zur Überwindung von Differenzen innerhalb der EU auf den Weg gebracht worden. Die Europäer und namentlich die Franzosen und Deutschen sollten sich auf ein gemeinsames und eigenständiges Vorgehen bei Sicherheit und Verteidigung einigen. Der Textentwurf dazu wurde seit seiner Vorlage im Herbst 2021 bis zur Annahme viermal überarbeitet und beginnt nun mit einem Hinweis auf die „Rückkehr des Krieges in Europa“. Russland taucht nun 19 Mal auf, während es in der Ursprungsversion kaum erwähnt wurde.



Der Strategische Kompass beschreibt vier Ziele: Krisenmanagement, Resilienz, Kapazität und Partnerschaften. Das alles überwölbende Hauptziel ist es, einen Weg zu finden, auf europäischer Ebene zu reagieren, wenn die USA sich vom Multilateralismus entfernen oder die transatlantischen Sicherheitsinteressen nicht miteinander harmonieren sollten. Zwar verfolgt die EU eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik; die kollektive Sicherheit für die EU-Mitgliedstaaten, die der NATO angehören, wird aber laut Vertrag von Lissabon durch die NATO gewährleistet. Auf operativer Ebene besteht die Idee des Strategischen Kompasses darin, bis 2025 eine militärische Streitmacht von 5000 Mann zu schaffen. Dieser französische Vorschlag soll die beiden EU-Gefechtsverbände verstärken.



Und dann ist da noch die „strategische Autonomie“, ein Konzept, das erst vor Kurzem in den europäischen Überlegungen wieder aufgetaucht ist. Im Zuge von Brexit und Corona wurde im Wesentlichen über bestehende Abhängigkeiten diskutiert. Das Autonomie-Konzept hatte zunächst eine nur nationale, französische Dimension. So erschien der Begriff 1994 im Weißbuch der Verteidigung und definierte die Abhängigkeiten, die für Frankreich entstünden, wenn es sich nur auf ­NATO-Garantien verließe und die nukleare Abschreckung vernachlässigte.



2016 erlebte der Begriff in der vom Europäischen Rat vorgelegten Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU seine europäische Premiere. Mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine ist die Frage nach einer europäischen strategischen Autonomie nun wieder auf der Agenda der EU erschienen.  



Zu den jüngsten französischen Initiativen zählt der Anfang Mai als Reaktion auf den ukrainischen Antrag auf EU-Mitgliedschaft formulierte Vorschlag Macrons, eine „europäische politische Gemeinschaft“ zu schaffen. Dieses „Vorzimmer“ der EU, das eine bereits 1989 von François Mitterrand vorangetriebene Idee aufgreift, würde es „den demokratischen europäischen Nationen, die sich an unser Wertefundament halten, ermöglichen, einen neuen Raum der politischen Zusammenarbeit und der Sicherheit zu finden“.



Wieder einmal will Frankreich Geschichte schreiben, denn es geht um eine Revision der Verträge. Aber wieder einmal erscheint Paris relativ isoliert, trotz der höflichen Zustimmung Deutschlands. Erneut stößt der Vorschlag in Mittel- und Nordeuropa sowie in den baltischen Staaten auf Ablehnung, da dort die Äußerungen des französischen Außenministeriums, wonach der Beitritt der Ukraine zur EU „wahrscheinlich 15 oder 20 Jahre“ dauern werde, nicht sonderlich gut ankamen.



Mit seiner erneuten Aufforderung, „Russland nicht zu demütigen“, löste Macron eine neue Welle des Unverständnisses aus. Gerade in Osteuropa, wo man sich besonders vom mächtigen Nachbarn bedroht fühlt, waren die Reaktionen heftig. Die Äußerungen des französischen Präsidenten könnten dazu führen, dass sich immer mehr europäische Länder einen anderen Weg der Sicherheit als den der EU vorstellen. Macron seinerseits setzt auf die lange Frist, um „neue Sicherheitsgleichgewichte“ in Europa aufzubauen – wenn denn „der Frieden zurückkehrt“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 5, September 2022, S. 42-43

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Paul Maurice arbeitet als Re­search Fellow des Studienkomitees für deutsch-französische Beziehungen (Cerfa) am Institut français des relations internationales (ifri) in Paris.