Die Angst vor der Innovationsperipherie
Wirtschaftsspionage ganz neuer Qualität gefährdet den Vorsprung des Westens
Die Abschöpfung von Wissen durch Staaten und Konzerne kennt im Digitalkapitalismus keine Kapazitätsgrenzen mehr. Für einen Wissensstandort wie Deutschland bedeutet das: Die Frist zur Materialisierung von Innovationsvorsprüngen wird immer kürzer, Innovation eine immer kostbarere Ressource. Unser Wohlstandsmodell steht auf dem Spiel.
Man kann dem Koalitionsvertrag von Union und SPD sicher viel vorwerfen: dass er in seinem Detailreichtum einem Vier-Jahres-Plan gleicht zum Beispiel oder dass er in seinem Phrasenreichtum den Eindruck nahe legt, die beiden Partner hätten überhaupt keinen Plan. Nur an einem lassen die beiden Volksparteien nicht den leisesten Zweifel: dass die Zukunft Deutschlands von seiner Innovationsfähigkeit abhängt. Schon im ersten Satz der Präambel verpflichten sich Union und SPD darauf, „die Grundlagen für unseren Wohlstand zu sichern“, nur um gleich im ersten Absatz des ersten Abschnitts unter der Überschrift „Wachstum, Innovation und Wohlstand“ die Notwendigkeit einer „Neuen Gründerzeit“ auszurufen, in die hinein man das Land durch verbesserte „Rahmenbedingungen für Innovationen und Investitionen“ befördern wolle.
Mehr noch: Die Koalition scheint auch die Gründe dafür zu kennen, warum in den kommenden Jahrzehnten die Bedeutung von Innovationen zur Erhaltung des Wohlstands in Deutschland eher wächst als schrumpft: Die „verschärfte internationale Konkurrenz ..., ein rasanter wissenschaftlicher und technischer Fortschritt ... (und) der demografische Wandel“ erschwerten es uns immer mehr, ein „wettbewerbsfähiger Industrie- und Produktionsstandort“ zu bleiben. Deshalb brauche das Land dringender denn je „neue Produkte und Verfahren“, kurz: Innovationen. Tatsächlich ist es verblüffend und vielsagend zugleich, dass das Wort „Innovation“ im Koalitionsvertrag insgesamt 122 Mal vorkommt – und damit als Grundlage von „Wachstum“ (115 Mal), „Zukunft“ (100) und „Wohlstand“ (74) häufiger als diese Begriffe.
Was allerdings den Schutz der deutschen Innovationskraft anbelangt, so schien er Politik und Unternehmen bis vor kurzem noch ziemlich gleichgültig zu sein; erst die spektakulären Enthüllungen von Edward Snowden scheinen die Sensibilität für Themen wie IT-Sicherheit, Cyberkriminalität und Betriebsspionage entscheidend erhöht zu haben. Sei es aus Sorglosigkeit, aus Mangel an Vorstellungskraft oder schlicht aus Gründen des digitalen Analphabetismus: Bisher telefonierten Manager in Cafés, klappten ihre Laptops im ICE auf und simsten in den Business-Lounges der Flughäfen um die Wette, als hätten sie partout nichts zu verbergen. Dabei weiß man schon seit Jahren, dass es selbst für Hacker-Amateure ein Kinderspiel ist, sich gerade in öffentlichen Durchgangsräumen Zugriff auf fremde Daten zu verschaffen. Dass Firmen und ihre Mitarbeiter besonders bevorzugt auf Messen und Geschäftsreisen ausspioniert werden. Und dass mittelständische „Marktführer, Hightech-Firmen und innovative Maschinen- und Anlagenbauer besonders gefährdet“ sind, so Hartwig Möller, der damalige Leiter des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen, bereits 2008.
Wollen sich die Unternehmen schützen lassen?
Alarmierende Zahlen vermeldete damals der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (BITKOM). Danach wendeten sich nur 4 Prozent aller Unternehmen, die zum Ziel von Spionageaktivitäten geworden waren, an die Sicherheitsbehörden, während 48 Prozent es vorzogen, das Problem intern zu lösen bzw. Schwachstellen zu beheben – und 44 Prozent überhaupt nicht reagierten. Inzwischen stehen zwar eine europäische Cybersicherheitsstrategie, ein IT-Sicherheitsgesetz mit verbindlichen Mindestanforderungen für „kritische Infrastrukturen“ und eine Meldepflicht auf dem Regierungszettel, die Unternehmen nach entdeckter Spionage zur Zusammenarbeit mit den Behörden verpflichten soll. Doch die entscheidende Frage ist nicht, ob die Politik gewillt ist, „unsere Unternehmen vor Wirtschafts- und Konkurrenzausspähung aus aller Welt zu schützen“, wie es im Koalitionsvertrag steht. Sondern ob die Unternehmen gewillt sind, sich schützen zu lassen. Einer aktuellen BITKOM-Umfrage zufolge räumen zwar mehr als zwei Drittel aller europäischen Unternehmen der Verbesserung ihrer IT-Sicherheit „höchste Priorität“ ein, doch zugleich hält mehr als die Hälfte die Einführung oder Weiterentwicklung des „Cloud-Computing“ für wichtig oder sehr wichtig, das Mitarbeitern immer und überall den Zugriff auf extern, also zum Beispiel von einem amerikanischen Anbieter gespeicherte Daten verschafft. Und von einer Meldepflicht halten die Unternehmen gar nichts: Sie fürchten sich vor dem Bekanntwerden einer Sicherheitslücke beinahe mehr als vor der Sicherheitslücke selbst.
Das ist merkwürdig, weil es zum Wesen der Spionage im 21. Jahrhundert gehört, dass die Grenzen zwischen Staat und Behörden einerseits sowie Wirtschaft und Unternehmen andererseits vollkommen ununterscheidbar geworden sind. Abhören und Ausspähen vollziehen sich nicht mehr staatsgeheimnisvoll hinter Nachbarswänden und so abgefeimt mit Kopfhörer und Richtmessgerät wie im Stasi-Drama „Das Leben der Anderen“, sondern durch Geheimdienste und Unternehmen, digital statt analog, auf illegalem wie legalem Wege: mit Trojanern, Viren und Würmern, sicher, aber auch unter freiwilliger Mitwirkung der Abgehörten, die von sich annehmen, „nichts zu verbergen“ zu haben. Tatsächlich weiß heute kein Durchschnittsbürger mehr, ob das „Data-Mining“ des Verfassungsschutzes gründlicher ist als das „Intelligence Gathering“ eines Internetriesen wie Google, Amazon oder Apple. Oder umgekehrt – und vor allem: wer am Ende wem beim Sammeln, Aus- und Verwerten der immer detaillierteren Datensätze hilft. Ganz abgesehen davon, dass es eine solche Unterscheidung in staatskapitalistischen Ländern wie China oder Singapur ohnehin nicht gibt und man davon ausgehen kann, dass Staat und Unternehmen in solchen Ländern recht einträchtig zusammenarbeiten, wenn es um die Verfolgung „nationaler Ziele“ und um die Abwehr ausländischer Informationsbeschaffung geht.
Das Internet als Machtbezirk und Herrschaftsinstrument
Um zu ermessen, wie wichtig Innovationen für die Sicherung unseres Wohlstands sind, muss man sich daher zunächst darüber klar werden, dass heute nicht nur Unternehmen Unternehmen ausspionieren, um sich einen Konkurrenzvorteil zu verschaffen, sondern dass es auch Nationen gibt, die Unternehmen ausspionieren, dass das Internet in diesem Spiel keine liberale Freihandelszone der digitalen Emanzipation ist, sondern ein Machtbezirk und Herrschaftsinstrument – und dass in Zeiten der Netzspionage nicht nur der Wohlstand des Westens, sondern auch sein demokratisches Selbstverständnis auf dem Spiel stehen.
Julian Assange und sein Projekt WikiLeaks haben die schöne Selbsterzählung des Westens von der offenen Gesellschaft vor drei Jahren auf die Spitze getrieben. Diese Selbsterzählung geht in groben Zügen so: Im Mittelalter pflegten Könige das Mysterium ihres Gottesgnadentums, um ihre Regentschaft unanfechtbar zu machen. Später hüteten aufgeklärte Monarchen Staatsgeheimnisse, indem sie sich auf den Fortschritt ihres Landes verpflichteten und zum Anwalt ihres Volkes machten. Noch später, in einem mehr und mehr demokratischen Europa, war es dann eine der „Sache“ und dem „Gemeinwohl“ verpflichtete Bürokratie, die ihre Amtsgeheimnisse gegen die Launen der Masse verteidigte. Schließlich emanzipierten sich die Bürger von ihren Vormündern und machten als Demokraten selbst (ihren) Staat. Und heute? Nun, heute hilft uns das Internet, den bürgerlichen Traum von der Autoritätskontrolle zu vollenden. Nescit regnare, qui nescit dissimulare – der weiß nicht zu regieren, der nicht zu verbergen weiß? Von wegen. Das berühmte Diktum von Ludwig XI. ist mehr als ein halbes Jahrtausend alt. In den Transparenzgesellschaften des digitalisierten Westens kann nur noch regieren, wer willens ist, seinen Bürgern nichts vorzuenthalten. WikiLeaks zeigt: Die Sprengkraft der digitalen Revolution besteht darin, dass sie ausgerechnet in freiheitlich verfassten Grundordnungen ihre größte Wirkung entfaltet.
Doch steht WikiLeaks zugleich für die liberale Illusion, das Netz sei nichts weiter als ein machtfreier Kommunikationsraum, in dem wir das Projekt der Demokratie vollenden werden. Vielmehr haben die Enthüllungen von Edward Snowden den Traum von der Transparenzgesellschaft ein für alle Mal zerstört. War WikiLeaks das Sinnbild für die Entthronung angemaßter Autorität durch das Internet, so ist „NSA“ das Akronym, das die Entthronung des Internets durch angemaßte Autorität bezeichnet. Denn das ist wohl der doppelte Kern des Snowden-Skandals: dass das Internet von Staats und Konzernen wegen nicht genutzt wird, um die eigene Durchsichtigkeit zu erhöhen, sondern die seiner Bürger und Kunden. Und dass Freiheit und Exklusivwissen nicht etwa nur gegen „äußere Bedrohungen“ verteidigt werden müssen, sondern mitten im Zentrum freiheitlich verfasster Staaten, die ihre Bürger im Namen des „Supergrundrechts Sicherheit“ (CSU-Innenminister Hans-Peter Friedrich) unter Schuldvermutung stellen. Anders gesagt: Im digitalen Zeitalter sind Firmen nicht mehr nur Ziel von Wirtschaftsspionage, sondern auch deren Ausgangspunkt. Apple, Amazon, Google und Facebook sind kein digitales Woodstock, das die Welt besser macht, nur weil wir uns näher denn je sind, uns favorisieren und „liken“ wie nie. Stattdessen ist das Internet ein Datenraum, in dem es um das Sammeln, Speichern und Verkaufen von Informationen geht, altdeutsch: um die Verteilung von Macht und Geld.
Die immer exaktere Berechenbarkeit unserer Handlungen
Snowden hat uns endgültig darüber aufgeklärt, dass die schöne, neue, digitale Welt uns mit ihren Optionsgewinnen ins Reich neuer Freiheiten verführt, um uns hinterrücks zu Vasallen ihrer algorithmischen Zwänge zu machen. Die Internetgiganten zeichnen nur deshalb heute unsere Anfragen auf und Vorlieben nach, um morgen unsere Lebensläufe vorherbestimmen zu können. Und die staatlichen Geheimdienste fischen diese Informationen nur deshalb ab, weil sie aus unseren Wegprofilen und Selbstverortungsangaben Rückschlüsse auf unser morgiges Handeln ziehen. Das heißt: Die neue Qualität der digitalen Ausspähung besteht in der Prognose, in der Vorhersehbarkeit unseres Verhaltens, in der immer exakteren Berechenbarkeit unserer Handlungen. Und dieses Prognosewissen ist Gold wert: Die Finanzmärkte haben vorgemacht, dass Wetten auf Zukünfte nicht nur ein glänzendes Geschäft sind, sondern dass der Hunger nach Information buchstäblich unersättlich ist, seit jede Information, unabhängig von ihrer Substanz, eine Ressource ist, sobald sie zu einer Hyperinformation aggregiert, verwertet und gewinnbringend ausgewertet werden kann. Google-Chef Eric Schmidt hat zuletzt allen Ernstes empfohlen, dass künftig jeder, der kein transparentes Online-Profil besitze, von den Behörden stärker kontrolliert werden solle ...
Kurzum: Die Abschöpfung von Wissen kennt 1. künftig keine Kapazitätsgrenzen mehr, sie erfolgt 2. gleichermaßen durch informationshungrige Netzunternehmen wie Staaten, die 3. ihre Informationen auf legalen wie illegalen Wegen abschöpfen und austauschen wie Güter und Dienstleistungen. Weshalb für Unternehmen gilt, dass 4. die Frist zur Materialisierung von Innovationsvorsprüngen immer kürzer wird und 5. ihre Innovationen als solche künftig eine immer „knappere“ und damit umso wertvollere Ressource sind.
Die Zurückhaltung, mit der Unternehmen hierzulande auf eine Meldepflicht von Spionageaktivitäten reagieren, ist daher einerseits verständlich: Wer will im Netzzeitalter schon mehr Informationen über sich in Umlauf bringen als nötig? Andererseits scheint ein konzertiertes Vorgehen von Staat und Unternehmen – „europäische Cybersicherheitsstrategie“, „nationales IT-Sicherheitsgesetz“ – zwingend, um die wegen ihrer Leistungskraft besonders exponierte deutsche Volkswirtschaft mit ihren vielen mittelständischen Unternehmen vor Spionageangriffen zu schützen. Es klingt paradox, aber: Um die regional, subsidiär und mittelständisch aufblühende Innovationskraft von Deutschlands globalen Exportunternehmen zu erhalten, sind eine europäische Firewall und nationaler Datenprotektionismus sicher nicht die schlechtesten Ideen.
Die kaskadenhafte Dynamik von Innovation
Aber warum sind Innovationen überhaupt so wichtig? Welchen Wohlstand generieren sie, den es zu verteidigen gäbe? Darauf hat der Ökonom Joseph Schumpeter bereits 1911 gültige Antworten gegeben. Sein „Standardbeispiel“ zur Illustration dessen, was Innovation bedeutet, war die Eisenbahn in den Vereinigten Staaten. Sie diente Schumpeter nicht nur als Symbol für eine gewaltige Ingenieurleistung, sondern auch als Symbol für die Erschließung und den Aufstieg Amerikas zur Weltmacht – mithin als Symbol für den Kapitalismus schlechthin und für die Unwiderruflichkeit einer kaskadenhaften Dynamik, die mit einer Innovation in die Welt kommt.
Das Amerika ohne Schienennetz unterschied sich für Schumpeter fundamental von einem Amerika mit Schienennetz: Jenes war jahrhundertelang statisch, dieses war künftig unbedingt in Bewegung: Der günstige und schnelle Transport förderte die Entstehung eines einheitlichen Binnenmarkts. Der einheitliche Binnenmarkt förderte die Entstehung einer nie da gewesenen Vielfalt von Industrieerzeugnissen und Konsumgütern. Gleichzeitig stimulierte die Eisenbahn den Verbrauch von Kohle, Stahl, Eisen, Maschinen und Erdöl. Und natürlich setzte sie auch jede Menge Kapital in Bewegung, das Aktionäre und Banker in Erwartung satter Renditen investierten.
Dass sich seine „heldischen“ Unternehmer an einer solchen Innovation bereichern konnten, war für Schumpeter nur verdient, weil jede Innovation ihrem „Erfinder“ nur kurzfristig Pioniergewinne sichert – bevor andere Unternehmen Konkurrenzprodukte auf den Markt werfen und die Innovation durch Massenproduktion verbilligen, weshalb sie zuletzt nicht nur reichen Konsumenten, sondern allen zugute kommt, das heißt: Die Innovation verbreitet sich über eine Vielzahl von Kanälen in der Branche, in der nationalen Wirtschaft und weit darüber hinaus – und „je mehr sich eine Innovation durchsetzt“, so Schumpeter, desto mehr verliert sie den Charakter einer Innovation … desto mehr lässt sie sich von Impulsen treiben, anstatt Impulse zu geben“ – bis sie zuletzt von neuen Innovationen kreativ zerstört wird. Die Folge ist ein ewiges Wettrennen zwischen Unternehmen und Nationen, die Zentren der Wissensproduktion sind, und Unternehmen und Nationen, die an der Innovationsperipherie stehen.
Das Ergebnis dieses Wettlaufs, schreibt der Magdeburger Wirtschaftswissenschaftler Karl-Heinz Paqué lakonisch, „lesen wir in der Statistik. Es heißt: globales Wachstum. Es ist nichts anderes als die ökonomische Umsetzung all des Wissens, das in der Weltwirtschaft neu entsteht oder neu zur Anwendung kommt. Es ist – im wahrsten Sinne des üblichen ökonomischen Begriffs – ‚Wertschöpfung‘, die sich durch einen permanenten Strukturwandel vollzieht und durch internationale Arbeitsteilung, zerlegte Wertschöpfungsketten und regionale Produktdifferenzierung ständig seinen Schauplatz ändert.“1
Historisch von entscheidender Bedeutung ist, dass das Einmalereignis der Industriellen Revolution, wie von Schumpeter angedeutet, eine Übertragung dieses Schemas von der mikroökonomischen auf die makroökonomische Ebene erlaubt: Auch der „Wohlstand der Welt“ führt im Kapitalismus, wenn man so will, über den Weg eines besonders hohen „Wohlstands einzelner Nationen“. Anders gesagt: Wir erfreuen uns in Deutschland nur deshalb eines so großen Wohlstands, weil unsere Unternehmen seit Jahrzehnten an der Spitze von Innovationen stehen. Ohne die Einfälle unserer Ingenieure, die Ideen unserer Forscher und das Geld unserer Investoren stünden wir sehr bald an der Innovationsperipherie – und hätten mit der Produktion von Maschinen- und Software-Generika nur noch sehr schmale Gewinne zu verteilen.
Ein letzter Punkt noch: Die Abschöpfung von Firmenwissen, mag mancher Mittelständler denken, hat es schon immer gegeben. Wenn wir weiter einfallsreich und fleißig sind, wird uns schon – Spionage hin, Spionage her – nichts passieren. Für einzelne Firmen mag das kurzfristig stimmen. Die Konkubinenwirtschaft der Chinesen, bei der einheimische Firmen Joint Ventures mit ausländischen Firmen zur ganz legalen Informationsbeschaffung nutzen, oder die Praxis fast aller großen Schwellenländer, Firmen aus Industriestaaten den Marktzutritt nur gegen Know-how-Transfer zu erlauben, haben den Staatswirtschaftskomplexen in Peking und Moskau wahrscheinlich mehr geholfen, von der Innovationsperipherie in die Mitte zu rücken, als jede noch so spektakuläre Industriespionage. Gleichwohl sollten deutsche Unternehmen wissen, dass mit dem Einbüßen von Innovationsvorsprüngen mehr verloren geht als nur betriebswirtschaftlich wertvolles Sondervermögen. Es geht zum Beispiel auch darum, welche industriellen Normen und Verbraucherstandards in fünf Jahrzehnten gelten werden.
Zivilisationsidee und Glaubwürdigkeit des Westens stehen auf dem Spiel
Vor allem aber stehen die abendländische Zivilisationsidee und Glaubwürdigkeit selbst auf dem Spiel. Nachdem der Staatsschuldenkapitalismus die finanziellen Reserven des Westens weitgehend aufgezehrt hat und die militärisch erschöpften USA auf mittlere Sicht zu schwach sein werden, um ihren weltpolizeilichen Aufgaben wie ehedem entsprechen zu können, wird nur noch ein realwirtschaftlich dominanter Westen ausreichend Kraft haben, mit überlegenen Maschinen und Anlagen so etwas wie „westliche Werte“ in Umlauf zu bringen. Dabei handelt es sich einerseits um eine Herausforderung, die binnendemografisch schwierig genug ist – junge Bevölkerungen in wachstumskräftigen Ländern sind innovationsbereiter als graue, zivilisationssatte Gesellschaften wie die in Westeuropa – und andererseits um eine Herausforderung, die weltdemografisch beinahe unlösbar erscheint: Im Jahre 2050 wird Europa (ohne Russland) nur noch 6 Prozent der Weltbevölkerung stellen. Nigeria und Indonesien werden dann doppelt so viele Einwohner zählen wie Deutschland, Frankreich und Italien. Bangladesch und Pakistan werden zusammen größer sein als die USA. Wenn es dann überhaupt noch einen Vorsprung des Westens gibt, kann es nur ein technologischer sein. Ein Vorsprung an Innovation, sprich: an überlegenen Ideen und Produkten, die beispielsweise das Zusammenleben von neun Milliarden Menschen auf diesem Planeten erleichtern und für die der große Rest der Welt bereit ist, einen angemessenen Preis zu bezahlen.
Europa hat nur die Chance, als Gehirn der Welt eine funktionale Rolle zu spielen – oder überhaupt keine. Nur an der Spitze des Fortschritts kann es sich künftig vernehmbar machen, glaubhaft auf die Vorzüge einer weitgehend ungesteuerten Marktwirtschaft hinzuweisen – und auf die einer möglichst transparenten Demokratie, die ihre Innovationskraft zu verteidigen weiß, ohne ihre Werte preiszugeben.
Dieter Schnaas ist Chefreporter der WirtschaftsWoche.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2014, S. 8-15