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01. Juli 2013

Aufstieg und Fall des Kapitalismus 

… und wie er sich aus den Geldkrisen der Gegenwart befreien könnte

Kapitalismus heißt Entwicklung ohne Endpunkt, Fortschritt ohne Ziel. Was aber, wenn sich das Wachstum von seiner Substanz nährt, bis ihm zuletzt die Grundlagen fehlen? Dann stehen wir vor einer neuen Epoche, in der Geld nicht mehr kulturell beschwört, sondern mit ihm verantwortlich gearbeitet wird.

Geht es nach John Maynard Keynes (1883–1946), dem großen Melancholiker unter den Wirtschaftswissenschaftlern, ist es in exakt 15 Jahren so weit: 1928 schrieb der britische Ökonom, „dass das wirtschaftliche Problem innerhalb von hundert Jahren gelöst“ sein werde. Der Kapitalismus habe uns dann in paradiesische Wohlbefindlichkeitsweiten expediert, wir könnten seinen ratternden Fortschrittsmotor abstellen, uns unter den Baum der Prosperität legen und die Früchte unseres Reichtums genießen. Eine Epoche der Fülle werde anbrechen mit einem Drei-Stunden-Tag und einem Lebensstandard, der „vier- bis achtmal so hoch sein wird wie heute“.

Joseph Schumpeter (1883–1950), der große Tragiker unter den Wirtschaftswissenschaftlern, hielt die Thesen des Kollegen für kompletten Unsinn. Für ihn war Kapitalismus eine evolutionäre Entwicklung ohne Endpunkt, ein Fortschritt ohne Ziel – ein dynamischer, unabschließbarer Prozess, der uns nicht in einen stationären Idealzustand, sondern in eine Art dauernde Zukunft katapultiert. Schumpeters Kapitalismus verheißt uns niemals Ankunft, schon gar nicht in Arkadien, sondern beständige Unruhe. Er zwinge uns zum Aufenthalt in einer Welt, die von Innovationen laufend umgepflügt wird, in der das Neue ständig wird und wächst und wuchert. 

Was aber, wenn der kapitalistischen Maschine die Antriebsstoffe ausgehen, wenn sich Wachstum von seiner Substanz nährt, bis ihm zuletzt die Grundlagen fehlen? Hat sich der Kapitalismus als expandierendes System nicht längst überlebt, weil seine konstitutive Grenzenlosigkeit nicht mehr zusammenpasst mit der Endlichkeit globaler Ressourcen? Und zeigen nicht die Geldkrisen der Gegenwart, dass Wachstum in Industriestaaten heute von gestern ist, weil dieses Wachstum die Quellen unserer Zukunft erschöpft? Deutschland ist in den vergangenen zehn Jahren um 1 Prozent jährlich gewachsen, gewiss, aber es hat sich dafür mehr als 310 Milliarden Euro aus der Zukunft geliehen („Neuverschuldung“). Das ist kein Wachstum mehr, sondern die kreditfinanzierte Aufrechterhaltung einer Wachstumsillusion; eines, das keine Spielräume mehr eröffnet, sondern unsere Perspektiven einschränkt. 

Expansion und Wandel 

Hat sich das Wachstumsgesetz des Kapitalismus also überlebt? Oder sind wir, siehe Spanien und Griechenland, zum Wachstum verdammt? Nun – vielleicht ist beides zugleich der Fall. Niemand hat das früher und besser verstanden als Benjamin Franklin (1706–1790), das amerikanische Universalgenie. Denn Geld, so Franklin, will im Kapitalismus angelegt sein und investiert werden, es will „arbeiten“ und sich vermehren; es ist, eingesetzt oder nicht, verwendet oder verschwendet, nie das, was es ist, sondern immer sein mögliches Mehr: Produkt, Potenz und Projekt seiner selbst, bewegende und bewegte Substanz, zugleich Modus, Motor und Ziel des kapitalistischen Wirtschaftens: „Geld kann Geld erzeugen und die Sprösslinge können noch mehr erzeugen und so fort.“ Ein Kapitalist hat es daher immer mit mobilisiertem Geld, mit seiner Anreicherung und mit seiner Wiederaufbereitung zu tun – mit der Folge, dass kapitalistisches Geld nicht nur laufend mehr Geld und Güter produziert, sondern gleichsam mitlaufend auch den Sachzwang, sich und die Güter im Dauermodus der Vermehrung bearbeiten, also immer mehr Geld und Güter produzieren zu müssen.

Seit der Industriellen Revolution ist Kapital der Dünger von Fortschritt und Wachstum – und Fortschritt und Wachstum sind der Dünger des Kapitals. Gewiss, zum Merkmal dieses Wachstums gehört, dass es kein immanentes Ziel mehr kennt. Aber der Mangel des Wachstums ist zugleich sein eminenter Vorzug: Eine buchstäblich angereicherte Zukunft kommt ganz ohne Sinnstiftung aus – solange sie morgen ein „Mehr“ enthält. Schumpeter war es, der den Gedanken Franklins dann vor 100 Jahren zu Ende gedacht hat. Er warf nicht nur die Marktharmonielehre der Klassiker (Adam Smiths „unsichtbare Hand“) auf den Müllhaufen der Wirtschaftsgeschichte, weil er von der unerschöpflichen Energie der „kapitalistischen Maschine“ überzeugt war und vom „ewigen Sturm“ des wirtschaftlichen Wandels. Sondern er machte auch darauf aufmerksam, dass sich der Prozess der „kreativen Zerstörung“ beschleunigen lässt, wenn man dabei nicht auf akkumuliertes Vermögen (Kapital), sondern auf geschöpfte Versprechen (Kredit) zurückgreift. Kapitalismus ist, so Schumpeter, Kreditismus. Neue Firmen schaffen neue Werte mit neuem Geld – die kapitalistische Revolution besteht für Schumpeter auch darin, dass sie das Morgen schon heute mit Geld erreicht, das sie der Zukunft entlehnt. Der Unternehmer schafft Produkte, der Bankier produziert Kaufkraft, so ist die Arbeitsteilung – und beide zusammen schaffen eine Dynamik, Instabilität, fortschreitende Umwälzung, dauernde Innovation. 

Von welchem Geld aber sprechen wir im Zeitalter des Kreditismus? Offenbar nicht von Geld, das sich – wie uns die ökonomische Lehre noch immer weismachen will – als Warenäquivalent bezeichnen ließe, um uns den friedlichen Austausch von Gütern zu erleichtern. Auch nicht von Kapital als einem erwirtschafteten Mehrwert. Sondern um stoffloses, grenzenlos herstellbares Geld, das sich aus der heißen Luft einer Schuldverschreibung destilllieren lässt – Geld aus der Illusion von Geld, mit dem man Kriege führen, Städte bauen, das Genom erforschen und zum Mars fliegen kann.

Der Clou dieses „Als-ob“-Geldes, das die Zentralbanken den Geschäftsbanken und die Geschäftsbanken ihren Kunden (also Staaten und Unternehmen) zur Verfügung stellen, besteht darin, dass es sich bei ihm nicht um verliehenes Geld, also vorhandenes Geld handelt, das „tatsächlich“ in der Welt, durch Gold hinterlegt oder von Ersparnissen auf Girokonten gedeckt wäre, sondern um neues, frisches Geld, das zwar einerseits als Geld in der Welt ist, aber andererseits eine Schuld repräsentiert. Entsprechend sind die Banken keine Zwischenhändler, die Kreditnehmern Geld vermitteln würden, das andere überzählig haben, sondern Schuldfabriken, in denen wie am Fließband (Anti-)Geld produziert wird. 

Bis zur Erfindung dieses stofflosen Geldes waren Kredite Wachstums­beschleuniger und Wohlstandsmotoren. Im Unterschied zum Kapital, das die Geldquellen der Gegenwart anzapfte, ließen sie Kaufkraft aus einer imaginierten Zukunft fließen. Mit der Investition von Geld, das sie noch nicht besaß und morgen zurückzahlen würde, begrünte die Menschheit das Hier und Heute. Das ging so lange gut, wie die Emission des Geldes gedeckt war – und Darlehen nicht nur eine verheißungsvolle Zukunft versprachen, sondern auch das Versprechen der Schuldner einschlossen, die vergegenwärtigte Zukunft mit der Tilgung der Schuld beizeiten einzuholen. 

Damit aber ist es längst vorbei. Seit die Zentralbanken den Geschäftsbanken unbegrenzt viel (Anti-)Geld zur Verfügung stellen und die Geschäftsbanken immer weniger Eigenkapital vorhalten müssen, um ihrerseits frisches (Anti-)Geld zu schöpfen, dreht sich die Schuldenspirale mit beängstigender Zwangsläufigkeit ins Unendliche. Die Kredite werden nicht mehr bezahlt, sondern refinanziert. Seither beruht die moderne Geldwirtschaft auf der infiniten Fabrikation von (Anti-)Geld und auf seiner permanenten Verzeitlichung, auf der ständigen Vermehrung ins Unendliche verlängerbarer, ewiger Schulden – und auf der immer heikleren Stabilisierung dieses unerlösbaren Schuldzusammenhangs.

Gewollte „Entkopplung“ der Finanzmärkte 

Es leuchtet ein, dass den Finanzmärkten dabei eine besonders große Verantwortung zuwächst. Ihre Aufgabe besteht nicht wie ehedem im Kapitalismus der Vergangenheit darin, der Wirtschaft als ihr Seismograf über sich selbst Auskunft zu geben; im Kreditismus der Gegenwart sorgen sie dafür, dass das Geld sich in ihnen möglichst unbegrenzt vermehren kann. Die Börsen sind kein Markt der Märkte mehr, in denen die Wirtschaft sich selbst den Puls fühlt, sondern eine Geldmaschine, die darauf programmiert ist, alle Verbindungsreste zur schwach wachsenden Realwirtschaft zu kappen. Die „Entkopplung“ der Finanzmärkte von der so genannten Realwirtschaft ist Voraussetzung dafür, dass das Wohlstandsversprechen überhaupt noch einigermaßen aufrechterhalten werden kann. Lebensversicherer, die ihren Anlegern in wachstumsreligiösen Niedrigzinsländern 4 Prozent Rendite garantieren und mit Tagesgeldern und Schatzbriefen notwendig Verluste erwirtschaften würden, müssen sich mit Papieren mäßig beleumundeter Verschuldungsstaaten – beispielsweise griechischen Staats­anleihen – eindecken oder aber gleich auf Kreditausfälle, Währungsschwankungen und Staatsbankrotte wetten. Gleichzeitig sind die nominell „unabhängigen“ Notenbanken zur Durchführungsagentur einer in Berlin, Paris und Brüssel abgemischten Währungsrettungspolitik verkommen. Sie sind dazu verdonnert, immer neues Geld in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen, um die Refinanzierbarkeit von Banken und Staaten sicherzustellen – und die Wachstumsillusion über den nächsten Tag zu retten. 

Der Triumph der Finanzmärkte ist vor allem eine Folge des politischen Willens, uns die Rechnung für den Sozialstaat und für die chronische Wachstumsschwäche unserer Volkswirtschaft zu ersparen. Wenn schon das Sozialprodukt nicht mehr zweistellig wächst, warum sollte dies nicht wenigstens dem Geld gelingen? Wenn die Nation trotz verkürzter Innovationszyklen, technologischer Dauerrevolutionen und ausgetüftelter Marketinganstrengungen an Spannkraft und Fertilität verliert: Was liegt da näher als die Erfindung eines Marktes, in dem das Geld keinen menschlichen Trägheiten ausgesetzt ist? Drei Jahrzehnte lang hat eine ostentativ unbeaufsichtigte Branche der Finanzindustrie den natürlichen Weg des Geldes vom investierten Kapital hin zu seinem Mehrwert abgekürzt – und dabei sich (dem Geld und uns) den Umweg über Arbeit, Produktion und Warentausch erspart. Das monetäre Perpetuum mobile hat die Marx’sche Grundformel „G-W-G'“ außer Kraft gesetzt, nach der man eine Summe („G“) einsetzt, mit ihr eine Ware („W“) kauft und sie teurer verkauft, um dafür mehr Geld („G'“) zu kassieren. Die Börsen haben vorgemacht, wie man das „W“ aus der Marx’schen Formel streicht und ohne Abstecher zum Profit gelangt: „G-G'“ – das war’s! Haben wir in diesen Jahren nicht alle wieder gelernt zu glauben, dass Geld nichts als Geld braucht, um unseren Reichtum zu mehren? 

Glaubens- und Schuldenkrisen

Damit ist es heute vorbei. Seit den Banken- und Staatsschuldenkrisen wissen auch die frömmsten Geldgläubigen, dass sich die Wirklichkeit durch Finanzmarktzaubereien eine Zeitlang schönen, nicht aber bannen lässt. Diese Krisen sind Geldkrisen, genauer: Kreditkrisen, im doppelten Sinne des Wortes, Schulden- und Glaubenskrisen (credo, lat.: ich glaube). Sie sind daher kein Ausdruck von Marktversagen, keine Krise des Kapitalismus, kein Resultat der Gier und kein Argument gegen das Gespensterkapital, sondern Ergebnis eines politisch induzierten Systemversagens. Man kann sie nur verstehen, wenn man akzeptiert, dass der Gegensatz von Markt- und Staatswirtschaft in der modernen Geldwirtschaft aufgehoben ist. Wenn Staaten heute Banken kapitalisieren, dann handelt es sich dabei um verschuldete Staaten, die von Banken kapitalisiert werden – und die genau deshalb angezählt sind, weil die Banken ihnen bereits viel zu viel Geld geliehen haben. Wir Steuerzahler haben das jahrzehntelang goutiert. Wir haben den Staaten und Märkten das Mandat zur Stabilisierung unserer kreditfinanzierten Prosperität erteilt – und stets die Partei gewählt, die vorgab, Schuldengeld besonders reichlich reproduzieren zu können. Wenn man es genau nimmt, handelt es sich bei dieser Krise daher nicht um eine Pathologie des Pumpkapitalismus, sondern um seine Heilung: Die allmähliche Realisierung der Kreditillusionen, auf die wir seit vier Jahrzehnten unsere Zukunft gebaut haben, bringt uns der tatsächlichen Kaufkraft der Gegenwart wieder ein kleines Stückchen näher.

Weil aber die Billionen, mit denen die Staaten ihren Banken und sich selbst zu Hilfe eilen, keine Zukunft mehr bewirtschaften, sondern Vergangenheit, hat das moderne Kreditgeld heute nicht nur seine Funktion, sondern auch seine Legitimation eingebüßt. Jeder weiß, dass das frisch geschöpfte Geld der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht mehr fruchtbar ist, weil sich an seinen Einsatz die Erwartung seiner Vermehrung knüpfen würde, sondern dass dieses Kreditgeld ans Gestern verschwendet und zeugungsunfähig ist. Die Schulden, die wir heute machen, zaubern keine Zukunft mehr ins Heute, sondern tischen uns die verpassten Chancen der Vergangenheit auf. Das frische Geld stottert eine Gegenwart ab, die ihre künftigen Potenziale schon verbraucht hat.

Was also tun? Die „Occupy“-Bewegung weist zu Recht auf die Oligarchisierung des Geldes hin, schlägt aber zu Unrecht dessen Politisierung vor. Das Gegenteil wäre richtig. Nur eine möglichst weitgehende Entpolitisierung des Geldes verheißt einen Ausweg. Denn wenn es drei Urgründe der Geldkrise gibt, die ihren vielen Ursachen vorausgehen, dann sind es, kurz zusammen­gefasst: die Wachstumsdelle der Industrienationen in den sechziger Jahren, die Kreditexplosion nach Aufgabe des Bretton-Woods-Systems 1971 und die Entstehung eines finanzmarktliberalen Staatsschuldenkapitalismus, dessen Gedeih (und Verderb) auf der infiniten Produktion von Schulden beruht. Bereits 1957 hat der deutsche Ökonom Wilhelm Röpke (1889–1966) alles Nötige zum Thema gesagt: „Den Regierenden diese Herrschaft [über das Geld] zu nehmen und das Geldwesen von ihrer Willkür, Einsichtslosigkeit oder Schwäche unabhängig zu machen – darauf kommt es heute an.“ Von den Märkten, die „kein Herz und kein Hirn haben“, wie Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Samuelson einmal sagte, die einfach „tun, was sie tun“, ist keine Antwort auf die Geldkrise zu erwarten. Wohl aber von den Regierungen der Staaten, die Emissionäre des Geldes sind, Hüter seines Wertes – und letzte Instanz unserer Vermögen. Sie könnten und müssten den Mythos von der „Herrschaft des Geldes“ beenden: mit ordnungspolitischer Gesetzesschärfe und mit Selbstbescheidung. Aber haben sie daran ein Interesse?

Eine neue Epoche des Kapitalismus

Kulturhistorisch betrachtet, wird sich die Geldkrise als Säkularisierungsschock für den Geldglauben erweisen, als unumkehrbarer Wendepunkt in der Geschichte des monetären Ausdehnungswillens. Wir leben in einer Übergangszeit, an der Schwelle zu einer neuen Epoche des Kapitalismus, in der wir es (wieder) mit profanem Geld zu tun haben werden, mit Geld, das nicht kultisch beschwört, sondern verantwortlich bearbeitet wird. Die Bewirtschaftung seiner selbst hat das Geld in seine dynamische Selbsterschöpfung getrieben; nun ist es an uns, ihm einerseits seine Grenzen aufzuzeigen und ihm andererseits jenseits des bankrotten Finanzmarktkapitalismus neue Zugriffsmöglichkeiten zu eröffnen. Dabei geht es um nichts weniger als einen Systemwechsel, oder, um es mit Schumpeter zu sagen: um die kreative Zerstörung alter Denkmuster. Noch genauer: Es geht um einen erweiterten Eigentums-, Freiheits- und Wirtschaftsbegriff. 

Zunächst – erstens – zum Eigentum: Entwickelt wurde der moderne Eigentumsbegriff im 17. Jahrhundert, als sich die bürgerliche Marktgesellschaft formierte und immer mehr Kaufleute und Händler an der Sicherung ihrer Besitzstände interessiert waren. Im Gegensatz zum parasitären Adel, der vom Ertrag seiner Ländereien zehrte, entstand das bürgerliche Eigentum aus Arbeit und Eigenleistung – eine Idee von epochaler Bedeutung. Klassisch formuliert hat sie John Locke im Jahre 1690: „Obwohl die Erde … allen Menschen gemeinsam gehört, so hat doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner Person. … Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind … im eigentlichen Sinn sein Eigentum.“ Und weiter: „Was immer er also dem Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat“, ist „das unbestreitbare Eigentum des Arbeiters“ – solange „ebenso gutes den anderen gemeinsam verbleibt“.

Lockes Eigentumsbegriff aber erzählt noch nichts von einem lohnabhängigen Proletariat, das kein Eigentum am Ertrag seiner Arbeit hat. Vor allem aber geht er von unbegrenzten Ressourcen aus. Davon kann heute keine Rede mehr sein – und der Wirtschaftsliberalismus hat lange Zeit nicht einmal ansatzweise angedeutet, dass er auf die brennende Frage der Nutzung endlicher oder gefährdeter Gemeingüter (Wald, Klima, Wasser, Öl) eine plausible Antwort wüsste. 

Erst seit auch Länder wie China und Indien Besitzansprüche auf die Erdengüter anmelden und beherzt auf Rohstoffe zugreifen, reift die Einsicht, die Erde selbst sei der „Menschheit“ Eigentum – und nicht nur der Menschheit hier und heute, sondern auch derer, die sie von der Gegenwartsgeneration erben. Der Signalapparat der Marktwirtschaft leistet dabei wertvolle Unterstützungsarbeit: Die immer knapperen Ressourcen verteuern sich. Und auch der besitzindividualistisch trivialisierte Eigentums­begriff der Liberalen gewinnt wieder an Gehalt: Das ihm innewohnende Prinzip der Sorge und Verantwortung wird allmählich rehabilitiert.

Segensreiche Folgen hat das – zweiter Punkt – vor allem für den Freiheits­begriff der Wirtschaftsliberalen. Seine klassische Definition stammt von John Stuart Mill (1859): „Der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten.“ Mill war bestrebt, jeder noch so wohlgemeinten Fürsorge einer Regierung möglichst enge Grenzen zu setzen. Er fürchtete um die Freiheitsfähigkeit mündiger Bürger im Schoße eines „nanny state“. Freiheit, so Mill, bestehe ganz einfach darin, zu tun, was man wolle. 

Freiheit und Verantwortung 

Aber wie lässt sich Mills Freiheitsbegriff mit dem Prinzip der Bestandspflege vereinbaren, von dem das Eigentum neuerdings erzählt? Offenbar besteht die Aufgabe darin, eine qualitative Bestimmung der Freiheit vorzunehmen: Welche Freiheiten schaden wirklich, welche sollen geduldet, welche unantastbar sein? Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass der „negative“ Freiheitsbegriff nicht aufrechtzuerhalten ist. Freiheit, so Taylor, sei „eine Praxis steuernder Kontrolle über das eigene Leben“. Sie ist nicht gleichsam frei verfügbar, sondern eine „Fähigkeit, die wir zu verwirklichen haben“. Sie besteht eben nicht in der Abwesenheit äußerer Hindernisse, sondern darin, dass wir bestimmten Zielen, auf die hin sie ausgerichtet ist, eine größere Bedeutung beimessen als anderen. Echte Freiheit ist Wahlfreiheit. Sie setzt nicht nur Optionen voraus, sondern die dreifache Fertigkeit, sie zu ergreifen, ihren Wert einzuschätzen und der Entscheidung für die eine oder andere Option einen Sinn zu verleihen. 

Dieser Sinn aber ergibt sich wie von selbst, wenn man bedenkt, dass sich – drittens – die Bedingungen des Wirtschaftens verändert haben. Wenn Wirtschaften heißt, sich mit der Herstellung und Distribution von Gütern unter der Bedingung von Knappheit zu beschäftigen, dann konvergieren Ökonomie und Ökologie, wenn die Grundbedingungen des Wirtschaftens selbst knapp werden, die Bodenschätze, das Öl, das Wasser, das Klima, die Luft. Entsprechend fällt Kapitalismus-Theoretikern heute die Aufgabe zu, das Prinzip des Eigentums global und generationenübergreifend unter der Prämisse von Knappheitsverhältnissen zu bedenken. Nicht mehr das Prinzip Wachstum ist für den Kapitalismus heute die Grundbedingung seiner Überlebensfähigkeit, sondern das Prinzip Sorge.

Zu vorsichtiger Zuversicht besteht durchaus Anlass. Weil mit der Erschöpfung der natürlichen Ressourcen die Zahl der knappen Güter wächst, für die gilt, dass sie sich entweder kooperativ oder gar nicht nutzen lassen, laufen das neutrale Ausdehnungsinteresse des unternehmerischen Kapitals mit den (Selbst-)Interessen einer stetig steigenden Zahl Beteiligter zwangsläufig zusammen. Globalisierung bedeutet Zuwachs an Rückkopplung und internationalem Diskursgewinn: Immer mehr Fremde drängen uns ihre Erfahrungen und Interessen auf – Inselbewohner, die vom Anstieg des Meeresspiegels bedroht sind; Nomaden, die an versandeten Weiden verzweifeln. Ihre neue Präsenz bleibt nicht folgenlos. Erst seit die Weltwohlstandssphäre sich auch auf China, Indien, Südostasien, Südamerika und Teile der arabischen und afrikanischen Welt erstreckt; erst seit Kapital global expandiert und von einem zivilisatorischen Fortschritt kündet, der immer mehr Menschen, unabhängig von ihrer Religion und Kultur, für seine missionsunbedürftigen Vorzüge einnimmt – erst seither beginnt das Geld im Verwöhnraum dies- und jenseits des Atlantiks, den Preis für seine Expansionen zu bewirtschaften und ehemalige Kostenfaktoren in Einkunftsquellen zu verwandeln. Das, was dem Zugriff des Kapitals bisher entzogen war und in keiner Rechnung der Ökonomen aufgetaucht ist, das „Umsonst“ der Sonne, der Luft und des Wassers, aber auch das „Billige“ der afrikanischen Ressourcen, der asiatischen Lohnarbeiter und des arabischen Öls – das alles gewinnt seit einigen Jahren an Wert und steigert seinen Preis. Plötzlich interessiert sich das kapitalistische Geld für alle globalen Knappheiten – und für die Nebenkosten des wirtschaftlichen Wachstums; plötzlich entschädigt es für die Benutzung der Natur, bearbeitet es den Klimawandel, prämiert es einen schonenden Umgang mit Mensch, Tier und Umwelt.

Kurzum, das Kapital ist dabei, sich mit imperialer Geste neue Betätigungsfelder zu eröffnen. Wir sollten gar nicht erst den Versuch unternehmen, es daran zu hindern, sondern seinem inhärenten Maximierungsinteresse immer mehr knappe Güter anbieten, die seiner Verfügung bisher entzogen waren. Zivilisatorischer Fortschritt erwächst aus dem Vermögen, die Welt mit Hilfe des Geldes selbstinteressiert einzurichten. 

Und das Vermögen, den Wert des Geldes selbstinteressiert einzuschätzen, erwächst aus dem zivilisatorischen Fortschritt. Geld herrscht nicht – solange wir es regieren (lassen), solange wir seinen Preis bedenken, seine Nebenkosten einrechnen, seine Zugriffsmöglichkeiten steuern. Eine intakte Natur, sauberes Wasser, Gesundheit, gute Arbeitsbedingungen und ein selbstbestimmtes Leben – das alles bedarf keiner Überzeugungsarbeit. Es bedarf nur ausreichenden Kapitals. 

Dieter Schnaas ist Chefreporter der WirtschaftsWoche und Autor des Buches „Kleine Kulturgeschichte des Geldes“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 42-49

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